Neuntes Kapitel
Ueber die Seele oder das belebende Princip des Universums

[55] Alle Philosophen stimmen darin überein, daß das Seinkönnen nur durch das wirkliche Sein zur Wirklichkeit gebracht werden kann, weil nichts sich selbst in Wirklichkeit setzen kann, weil es sonst die Ursache seiner selbst und somit da wäre, bevor es ist. Man sagte daher, was die Möglichkeit in Wirklichkeit setzt, handle nach Absicht (ex intentione), so daß die Möglichkeit aus vernünftiger Anordnung, nicht durch Zufall zur Wirklichkeit gelangt. Diese Wirkungsweise nannte man theils Geist (mentem), theils Vernunft (intelligentiam), theils Weltseele, theils Fatum der Substanz, theils, wie die Platoniker, das umschließende Band (necessitatem complexionis). Diese glaubten nämlich, die Möglichkeit werde mit Nothwendigkeit durch sich selbst determinirt, so daß sie jetzt in Wirklichkeit ist, was sie vorher sein konnte. In jenem Geiste liegen nach den Platonikern die Formen der Dinge geistig ebenso, wie in der Materie der Möglichkeit nach. Das Alles umschließende Band, das in sich das Urbild der Formen hat, bewegt der natürlichen Ordnung gemäß den Himmel, so daß mittelst der Bewegung als des Werkzeugs die Möglichkeit zu einer dem geistigen Urbilde möglichst entsprechenden Wirklichkeit gelangt. Mittelst dieser Operation des Geistes werde durch die Bewegung die in die Materie gelangte Form sein, wenn auch nicht wahres, so doch der Wahrheit nahekommendes Abbild der idealen Form des Geistes. Demnach sind nach den Platonikern in der Weltseele die Ideen (veras formas) der Dinge, zwar nicht der Zeit, wohl aber der Natur nach vorher, als sie in den Dingen sind. Die Peripatetiker geben dies nicht zu, indem sie behaupten, die Ideen (formas) hätten kein anderes Sein, außer in der Materie und durch Abstraktion, die den Dingen folgt, im Geiste. Die Platoniker nehmen eine Mehrheit solcher unter sich verschiedenen Ideen, die aus der Einen unendlichen Vernunft stammen, an, in welcher sie alle Eines seien. Doch ließen sie diese Ideen nicht aus der Einen Vernunft geschaffen werden, sondern so herabsteigen, daß sie in der Weltseele die Entfaltung des göttlichen Geistes erblickten, und was in Gott Eine Uridee ist, in der Weltseele mehrere und verschiedene Ideen sind. Sie fügten bei, Gott gehe naturgemäß dem umschließenden Bande der Nothwendigkeit vorher, wie die Weltseele der Bewegung und diese der zeitlichen Entfaltung der Dinge. Diese zeitliche Entwicklung folgt dem[55] Naturgesetze, das in der Weltseele liegt, und heißt substantielles Fatum, die zeitliche Entfaltung desselben ist das gewöhnlich sogenannte Fatum. So ist, was wir die geistige Welt nennen, die Art und Weise des Seins in der Weltseele. Das Sein in der Wirklichkeit, wo die Möglichkeit, durch die Wirklichkeit determinirt, die Entwicklung hervorbringt, ist die Sinnenwelt. Die Ideen, wie sie im materiellen Sein liegen, sind nach ihnen von denen, die in der Weltseele sind, nur in der Seinsweise verschieden; in dieser wahr und an sich, in der Materie dem Wahren sich nähernd (verisimiliter), nicht in ihrer Reinheit, sondern verdunkelt. Die Wahrheit der Ideen erweise nur die Vernunft (intellectum); Verstand, Einbildung und Sinne erfassen nur die Abbilder oder die Vermischung der Ideen mit der Möglichkeit, weßhalb sie auch nicht die Wahrheit, sondern nur ein Meinen erzielen (non vere attingitur quidquam, sed opinative). Von der Weltseele geht nach den Platonikern alle Bewegung aus, denn sie ist im Ganzen und in jedem Theile der Welt, obwohl sie nicht dieselbe Thätigkeit in allen Theilen entfaltet, wie auch die Seele im Menschen in den Haaren und im Herzen nicht die gleiche Wirksamkeit zeigt, obgleich sie ganz im ganzen Menschen und in jedem Theile ist. In der Weltseele sind alle Seelen, in und außer den Körpern, enthalten, weil sie das ganze Universum durchdringt, nicht theilweise, da sie untheilbar und einfach ist. Sie ist ganz in der Erde, wo sie die Erde zusammenhält, ganz in Stein, wo sie das Feste der Theile bewirkt, ganz im Wasser, in den Bäumen etc. Sie ist die erste kreisförmige Entfaltung des göttlichen Geistes, der das Centrum bildet, die natürliche Entfaltung der zeitlichen Ordnung der Dinge. Wegen der in ihr liegenden Unterscheidung und Ordnung nannten sie dieselbe auch die sich bewegende Zahl; sie bestehe, wie diese, aus Gleichem und Verschiedenem, und unterscheide sich auch nur durch die Zahl von der Seele des Menschen. Was die Seele für den Menschen, ist sie das Universum. Alle Seelen kommen von ihr und lösen sich schließlich, wenn nicht Mißverdienste ein Hinderniß bilden, in sie wieder auf.

Viele Christen haben sich dieser Ansicht der Platoniker angeschlossen, und zwar hauptsächlich aus dem Grunde: da das Wesen des Steines ein anderes, als das des Menschen ist, und in Gott keine Verschiedenheit und kein Anderssein stattfindet, so hielten sie es für eine logische Nothwendigkeit, daß die verschiedenen Ideen, nach welchen die Dinge verschieden sind, nach Gott und vor den Dingen seien (denn das Rationelle einer Sache geht ihr vorher). Diese Sonderung fanden sie befriedigt in dem Begriffe des die Welt regierenden Geistes (intelligentia rectrice orbium). Diese unterschiedenen Ideen sind die unzerstörlichen Begriffe der Dinge in der Weltseele, ja, diese selbst faßten sie als den Gesammtbegriff aller[56] Begriffe; alle Begriffe haben in ihr substantielles Sein, wiewohl das schwer zu verstehen sei. Sie führen selbst die Autorität der heiligen Schrift zur Begründung an. Wenn Gott sprach: es werde Licht! und es ward Licht, wie hätte er sagen können: Es werde Licht! wenn die Wahrheit (Idee) des Lichtes nicht naturgemäß vorher dagewesen wäre? Und nachdem zeitlich das Licht in Wirklichkeit ungesetzt war, warum wurde es gerade Licht und nicht anders genannt, wenn die Idee des Lichts nicht vorher da war? Vieles Aehnliche wird zur Beschäftigung angeführt.

Die Peripatetiker geben zwar zu, das Werk der Natur sei ein Werk der Intelligenz, läugnen jedoch das Dasein der Ideen. Wenn sie nicht unter der Intelligenz Gott verstehen, so sind sie sicher im Irrthume. Denn wenn kein Wissen der Dinge und der Intelligenz ist, wie kann sie denn, was doch Voraussetzung ist, die Dinge bewegen? Hat sie aber eine Kenntniß der zeitlich zu entwickelnden Dingen, was das Vernünftige in der Bewegung (ratio motus) ist, so kann diese von den Dingen, die ja zeitlich noch existiren, nicht abstrahirt sein. Gibt es also ein Wissen ohne Abstraction, so ist es sicher dasjenige, von dem die Platoniker reden, das nicht den Dingen entnommen ist, sondern nach dem die Dinge gebildet sind (res secundum eam). Daher waren nach den Platonikern die Ideen der Dinge nicht etwas Gesondertes, verschieden von der Intelligenz selbst, sondern sie bildeten, obwohl unter sich geschieden, Eine einfache Intelligenz, die alles Vernünftige in sich begeistert. So ist zwar die Idee des Menschen nicht die des Seins, gleichwohl hat die Menschheit, von der der Mensch der concrete Ausdruck ist, kein anderes Sein als in der Intelligenz, in ihr geistig, in der Wirklichkeit reell. Es gibt nicht eine andere (ideale) Menschheit des Plato und eine andere in der Realität, sondern dieselbe Menschheit Plato's ist in verschiedenen Seinsweisen, vorher in der Intelligenz, dann in der Wirklichkeit, was jedoch nicht als ein Vorher der Zeit zu denken ist, sondern so wie der rationelle Grund (ratio) einer Sache ihr naturgemäß vorhergeht. Sehr scharfsinnig und philosophisch sind hierin die Platoniker, und Aristoteles hat sie vielleicht nicht ganz philosophisch hierin getadelt, indem er mehr an der Schale der Worte hängen blieb, als in den Kern der Sache eindrang.

Wo die Wahrheit liege, wollen wir nun durch die Wissenschaft des Nichtwissens ermitteln.

Es ist bewiesen, daß man auf kein einfach Größtes kommt, daß es daher keine absolute Möglichkeit und keine absolute Idee (formam) oder Wirklichkeit (actum) gebe, die nicht Gott ist, daß jedes Ding beschränkt ist und es nur Eine Idee aller Ideen (forma formarum) und Ein Urbild (veritas veritatum) gebe, und die absolute Idee des Kreises und Vierecks[57] die gleiche ist. Die Ideen der Dinge sind daher nicht unterschieden, außer sofern sie concret (contractae) erschienen; in ihrer Absolutheit sind sie Eine ununterschiedene Idee – das Wort Gottes. Die Weltseele hat daher kein anderes Sein, als ein mögliches, durch welches sie beschränkt wird, und der Geist ist nicht getrennt, nicht trennbar von den Dingen (mens non est separata a rebus aut separabilis). Denn betrachten wir den Geist in seiner gänzlichen Getrenntheit von der Möglichkeit, so ist dies der göttliche Geist, der allein ganz und gar Wirklichkeit ist. Es kann somit nicht mehrere gesonderte Ideen geben, denn jede wäre in Bezug auf ihre Abbilder das Größte und Wahrste. Nun kann es aber nicht mehrere Größte geben. Ein unendliches Urbild ist nothwendig und hinreichend, in dem Alles geordnet enthalten ist, das allen rationellen Grund auch für die verschiedensten Dinge auf das Adäquateste in sich begeistert. Wenn wir die große Verschiedenheit betrachten, so staunen wir darüber, wie Eine einfachste Idee von allen auch der Grund der Differenz der Einzeldinge sein soll. Nach den Principien unseres Systems muß dies so sein, weil sie alle Verschiedenheit als Identität in Gott nachweisen. Da wir erkennen, daß in Gott die Verschiedenheit der rationellen Gründe aller Dinge auf das Wahrste existiert, so erkennen wir eben darin, daß dies das Wahrste ist, den Einen wahren rationellen Grund aller Dinge, und dies ist die höchste Wahrheit selbst. Sagt man, Gott habe nach einer andern Idee (alia ratione) den Menschen, nach einer andern den Stein erschaffen, so ist dies wahr in Hinsicht auf die Geschöpfe, nicht auf den Schöpfer, wie wir an den Zahlen sehen. Der Ternar ist ein Einfachstes (ratio simplicissima), das weder ein Mehr noch ein weniger zuläßt, in sich einig; ganz anders aber wird er in Bezug auf die Dinge. Anders ist der Ternar der Dreiecke, anders der von Materie, Form und Zusammensetzung in der Substanz, anders der von Vater, Mutter, Sohn, anders der von drei Menschen und drei Eseln. Da Alles mit Nothwendigkeit umschließende Band ist daher nicht, wie die Platoniker wollten, ein Geist, geringer als der ihn zeugende, sondern der dem Vater in der Gottheit gleiche Sohn; er heißt logos oder Vernunft (ratio), weil er die Vernunft (der rationelle Grund) von Allem ist. Es heißt daher auch nichts, was die Platoniker von den Bildern der Formen (Ideen – de imaginationibus formarum) gesagt haben; sondern es gibt nur Eine unendliche Idee (forma formarum), von der alle Ideen Abbilder sind, wie wir oben gezeigt haben. Man muß dies genau in Auge fassen. Die Weltseele ist zwar als eine Art universeller Form, die alle Formen in sich faßt, zu betrachten; allein sie existirt in Wirklichkeit nur beschränkt und ist in jedem Dinge die concrete Form des Dinges (forma contracta rei), wie in der Lehre vom Universum gezeigt wurde. Gott ist also die hervorbringende, gestaltende[58] und zum Ziel führende Ursache von Allem, der in dem Einen Worte Alles noch so Verschiedene hervorbringt, und es gibt kein Geschöpf, das nicht durch Verendlichung weniger wäre (quae non sit ex contractione diminuta), in unendlichen Abfall von jenem göttlichen Wirken; denn nur Gott ist absolut, alles Andere ist beschränkt (solus Deus absolutus, omnia alia contracta). Es gibt auch kein Mittelding zwischen dem Absoluten und Beschränkten, wie sich Die einbildeten, die die Weltseele sich als einen Geist dachten, der nach Gott und vor der Verendlichung der Welt wäre. Nur Gott ist die Seele und der Geist der Welt, sofern man die Seele als etwas Absolutes denkt, in dem alle Formen der Dinge in Wirklichkeit sind.

Die Philosophen waren über das Wort Gottes und das absolut Größte nicht vollständig unterrichtet, daher faßten sie Geist, Seele und Nothwendigkeit in einer gewissen Entwicklung dieser Nothwendigkeit absolut, nicht beschränkt auf. Die Ideen im Worte sind in Wirklichkeit das Wort selbst, in allen Dingen sind sie beschränkt. Die Ideen, die in der erschaffenen Natur liegen, sind zwar gemäß der geistigen Natur gewissermaßen mehr absolut, jedoch nicht ohne Beschränkung, weil die einem Geiste angehören, dessen Thätigkeit, wie Aristoteles sagt, ein Erkennen durch abstrahirte Aehnlichkeit ist (per similitudinem abstractivam). Hierüber Einiges im Buche von den Muthmaßungen. Das über die Weltseele Gesagte mag genügen.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 55-59.
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