Zwölftes Kapitel
Von der Kirche

[104] Obwohl das Verhältniß über die Kirche Christi schon aus dem Bisherigen gewonnen werden kann, so will ich doch, damit dem Werke nichts fehle, noch ein kurzes Wort beifügen.

Da der Glaube in den verschiedenen Menschen graduell verschieden ist, so gelangt kein Mensch zum Glauben in der höchsten Potenz, so wenig als zur größten Liebe. Wäre in einem Erdenpilger der höchste Glaube, der keine Steigerung zuläßt, so müßte er zugleich der lebendige Inbegriff des Glaubens (comprehensor fidei) sein. So kann auch die schlechthin größte Liebe in keinem Liebenden sein, er sei denn zugleich der Geliebte. Daher findet sich der schlechthin größte Glaube und die größte Liebe in Keinem, als in Jesus Christus, welcher Erdenpilger (viator) und Inbegriff des Glaubens, liebender Mensch und geliebter Gott zugleich war. Nun ist aber in dem Größten Alles eingeschlossen, weil es Alles umfaßt. Der Glaube Jesu Christi schließt daher allen wahren Glauben, die Liebe Christi alle wahre Liebe in sich, wobei jedoch immer verschiedene Gradunterschiede[104] bleiben. Da diese alle unter dem Größten und über dem Kleinsten sind, so kann Niemand, wenn er auch in Wirklichkeit, so viel an ihm liegt, den größten Glauben hat, zum schlechthin größten Glauben Christi gelangen, durch den er Christus als Gott und Menschen vollständig erfaßte, sowie auch Niemand Christus so sehr lieben kann, daß diese Liebe keine Steigerung zuließe, weil Christus die Liebe (amor et caritas) und deßhalb ins Unendliche liebenswürdig ist. Niemand kann in diesem oder dem zukünftigen Leben Christus so lieben, daß er selbst Christus der Gottmensch würde; denn Alle, die entweder in diesem Leben durch Glauben und Liebe, oder im andern durch unmittelbares Erlassen und Genießen mit Christus vereinigt sind, sind es nicht in der Art, daß sie nicht noch inniger vereinigt sein könnten, unbeschadet der graduellen Verschiedenheit, so daß ohne diese Vereinigung Niemand aus und durch sich besteht, sowie durch dieselbe Niemand seine graduelle Verschiedenheit verliert.

Diese Vereinigung nun ist die Kirche oder die Gemeinschaft Vieler in Einem, gleichwie viele Glieder an Einem Körper sind, jedes mit einem besonderen Range (gradus), wo Ein Glied nicht ein anderes und jedes Glied durch den Körper mit dem andern vereinigt ist, und keines ohne den Körper Leben und Bestand hat, wiewohl am Körper Ein Glied nicht alle Glieder in sich faßt, außer mittelst des Körpers. Die Wahrheit unseres Glaubens kann daher während unserer irdischen Pilgerschaft nur im Geiste Christi bestehen, unbeschadet der Stufenordnung der Gläubigen, so daß sich eine Verschiedenheit bei voller Uebereinstimmung in dem Einen Jesus gestaltet (ut sit diversitas in concordantia in uno Jesu). Und scheiden wir durch die Auferstehung aus der streitenden Kirche, so können wir wieder nur durch Christus auferstehen, so daß auch die triumphirende Kirche (in ihm) eine Einheit ist, in der Jeder seinen eigenthümlichen Rang behauptet. Dann wird die Wahrheit unseres Fleisches nicht mehr in sich, sondern in der Wahrheit des Fleisches Christi, die Wahrheit unseres Leibes nur in der Wahrheit des Leibes Christi, die Wahrheit unseres Geistes in der Wahrheit des Geistes Jesu Christi bestehen, wie die Rebzweige[105] in dem Weinstocke. Es wird die Eine Menschheit Christi in allen Menschen, der Eine Geist Christi in allen Geistern sein, so daß Jegliches in ihm und gleichsam Ein Christus aus Allem ist. Wer daher Einen aus Allem, die Christus angehören, in diesem Leben aufnimmt, nimmt Christus auf, und was Einem der Geringsten gethan wird, wird Christus gethan, wer die Hand Plato's verletzt, Plato selbst verletzt, und wer dort im wahren Vaterlande über den Geringsten sich freut, freut sich über Christus. In Allem sieht er Jesus und durch diesen – Gott. So wird unser Gott durch seinen Sohn Alles in Allem, Jeder im Sohne und durch diesen mit Gott und Allen sein; es herrscht volle Freude ohne Mißgunst und Mangel.

Da Glaube und Liebe, so lange wir hienieden pilgern, einer beständigen Steigerung fähig sind, so müssen wir uns Mühe geben, daß die Möglichkeit durch die Gnade unseres Herrn Jesu Christi zu Wirklichkeit gelange, auf daß wir von Tugend zu Tugend, von einer Stufe zur andern weiter schreiten durch den, der der Glaube und die Liebe selbst ist, ohne den wir aus uns als solchen nichts vermögen, da wir Alles nur in ihm vermögen. Er allein kann uns geben, was uns fehlt, daß wir am Tage der Auferstehung als gesunde und werthvolle Glieder an ihm erfunden werden. Diese Gnade des Wachsthums in Glaube und Liebe können wir sonder Zweifel durch anhaltendes Gebet erlangen, indem wir vertrauensvoll dem Throne dessen uns nahen, der voll Güte ist und kein heiliges Verlangen unbefriedigt läßt.

Wenn du dies tief im Geiste erwägst, durchströmt dich eine wunderbare geistige Wonne; innerlich verkostest du wie süßen Wohlgeruch die unaussprechliche Güte Gottes, die er dir, hienieden an dir vorübergehend, erweiset, die dich einst sättigen wird, wenn seine volle Herrlichkeit erscheint, ich sage: sättige, ohne satt zu werden (absque fastidio), weil jene unsterbliche Speise das Leben selbst ist. Und wie die Sehnsucht nach dem Leben immer wächst, so wird auch die Speise des Lebens immer genossen, ohne daß sie in die Natur des Genießenden übergeht, denn sonst wäre sie eine uns anwidernde Speise, die uns belästigte und uns das unsterbliche Leben nicht zu geben vermöchte, da sie in sich mangelhaft wäre, weil sie sich in die Natur des Genießenden verwandelte. Unser vernünftiger Geist aber will geistig leben und beständig weiter dringen zu Leben und Freude. Da diese unendlich sind, so werden die Seligen unaufhörlich zur Sehnsucht nach ihnen hingezogen. So finden sie Sättigung, indem sie dürstend aus der Quelle des Lebens trinken, und da dieses[106] Trinken nicht in Vergangenheit übergeht, indem es ewig ist, so trinken die Seligen immer aus dieser Quelle und sind immer gesättigt, und nie geht Beides in die Vergangenheit über. Gepriesen sei Gott, der uns eine Vernunft gegeben hat, die in dieser Zeit nicht gesättigt wird, deren unbegrenztes Sehnen sich selbst als erhaben über die vergängliche Zeit, als unvergänglich erfaßt und erkennt, daß sie ihre volle geistige Befriedigung nur in dem Genusse des höchsten, vollkommensten, nie abnehmenden Gutes finde, wo der Genuß nie in Vergangenheit übergeht, weil das Begehren durch den Genuß nicht abnimmt. Wenn ein Hungriger an der Tafel eines mächtigen Königs sich niederließe und ihm die gewünschte Speise vorgesetzt würde, so daß er nach einer andern nicht begehrte, und wenn es die Natur dieser Speise wäre, daß sie durch Sättigen den Appetit steigert, so ist klar, daß, wenn diese Speise nie ausginge, der Gast beständig gesättigt wäre und zugleich beständig nach derselben Speise ein Verlangen hätte, und immer fähig wäre, die Speise zu sich zu nehmen, deren Natur es mit sich bringt, den damit Gespeisten zu beständigem Verlangen nach dieser Speise hinzutreiben. Die vernünftige Natur nun hat die Fähigkeit, indem sie das Leben in sich aufnimmt, in dasselbe verwandelt zu werden, wie die Luft durch Aufnahme des Sonnenstrahls in Licht verwandelt wird. Daher erfaßt die Vernunft, da ihre Natur eine Umwandlung zu dem vernünftigen Erkennbaren zuläßt, nur das Universelle, Unzerstörliche und Bleibende. Die unzerstörliche Wahrheit ist ihr Object; in der Ewigkeit erfaßt sie dieselbe in seligem Frieden in Jesus Christus.

Das ist die triumphirende Kirche, in der unser Gott ist, der gepriesen sei in Ewigkeit, und wo in höchster Einigung Jesus Christus als wahrer Mensch mit Gott dem Sohne so innig vereinigt ist, daß die Menschheit nur in der Gottheit ihren Bestand hat. Sodann ist jede vernünftige Natur mit Christus dem Herrn, unbeschadet der Persönlichkeit des Einzelnen, wenn sie in diesem Leben durch Glaube, Hoffnung und Liebe ihm zugewandt war, so fest vereinigt, daß sowohl Engel als Menschen nur in ihm bestehen, durch ihn in Gott, so daß jeder der Seligen mit Bewahrung seiner Besonderheit in Christo Jesu – Christus, und durch diesen in GottGott ist, Gott aber, ohne aufzuhören, das absolut Größte zu sein, in Christo Jesu Jesus selbst ist und in ihm Alles in Allem.

Dies ist der einzige Weg zur höchstmöglichen Einheit der Kirche, oder der Einheit Vieler (unbeschadet der wahren Selbstständigkeit des Einzelnen) ohne Vermengung der Naturen und Grade. Je mehr Einheit aber in der Kirche, desto größer ist sie. Die größte Kirche ist daher die Gemeinschaft der ewig Triumphirenden, denn eine größere Einheit der Kirche ist nicht möglich. Welch eine große Einigung (unio) – die[107] absolut größte göttliche Einigung, dann die Einigung der Gottheit und Menschheit in Jesus, endlich die Einigung der in der Gottheit Jesu triumphirenden Seligen! Die absolute Einigung ist nicht größer oder kleiner, als die Einigung der Naturen in Jesus oder die Einigung der Seligen in dem himmlischen Vaterlande; denn jene ist die größte Einigung, die Einigung aller Einigungen, das Wesen jeder Einigung, ohne ein Mehr oder Weniger, aus der Einheit und Gleichheit, wie im ersten Buche gezeigt ist, hervorgehen. Ebenso ist die Einigung der Naturen in Christus nicht größer oder kleiner, als die Einheit der triumphirenden Kirche; denn da sie die größte Einigung der Naturen ist, so läßt sie kein Mehr oder Weniger zu. Somit erhalten alle Gegensätze, die zur Einheit verbunden sind, von dieser größten Einigung der Naturen in Christus ihre Einheit, durch welche die Einheit der Kirche das ist, was sie ist. Die Einheit der Kirche ist die größte kirchliche Einheit. Als diese größte coincidirt sie nach Oben mit der hypostatischen Einigung der Naturen in Christus, und da diese die größte ist, mit der absoluten Einigung – Gott. So ist die kirchliche Einheit durch Jesus in die göttliche Einigung, von der sie den Anfang hat, aufgenommen (resolvitur). Dies erhellt noch deutlicher, wenn wir uns an das oben öfters Wiederholte erinnern, daß nämlich die absolute Einigung – der heilige Geist ist. Die größte hypostatische Einigung coincidirt mit der absoluten Einigung; daher ist nothwendig die Einigung der Naturen in Christus durch die absolute, welche der heilige Gott ist, und in ihr. Die kirchliche Einheit coincidirt, wie oben gezeigt, mit der hypostatischen, weßhalb im Geiste Jesu die Einigung der triumphirenden Kirche, die durch den hl. Geist besteht, enthalten ist. Daher sagt die Wahrheit selbst bei Johannes: »Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, damit sie Eines sind, wie wir Eines sind, ich in ihnen, du in mir, auf daß sie vollkommen Eines seien,« auf daß die Kirche in ewiger Ruhe sei, so vollkommen, daß sie nicht vollkommener sein könnte, in so unaussprechlicher Umgestaltung zum Lichte der Glorie, daß in Allem nur Gott hervortritt. Nach dieser Glorie trachten wir in größtem Eifer mit Siegesgewißheit (ad quam tanto affectu cum triumpho aspiramus) und bitten Gott den Vater inständig, er möge durch seinen Sohn, unsern Herrn, Jesus Christus, und in ihm durch den hl. Geist in seiner unendlichen Güte uns in diese Glorie aufnehmen, um dieselbe ewig zu genießen. Er sei gepriesen in Ewigkeit. Amen.[108]

Empfange hier, verehrter Vater! was ich längst in verschiedenen Systemen (variis doctrinarum viis) zu erreichen suchte, allein nicht eher zu Stande brachte, als bis ich auf der Rückkehr von Griechenland (ich glaube durch die Gnade von Oben, vom Vater des Lichtes, von dem jede gute Gabe kömmt) darauf kam, das Unbegreifliche als unbegreiflich aufzufassen (ut incomprehensibilia incomprehensibiliter amplecterer), in der Wissenschaft des Nichtwissens, durch Hinausgehen über die menschlichen Begriffe von der unzerstörlichen Wahrheit (per transcensum veritatum incorruptibilium humaniter scibilium). Diese Aufgabe habe ich nun in Dem, der die Wahrheit ist, in den vorliegenden Büchern gelöst, die, auf gleichem Principe ruhend, eine Verengung und Erweiterung zulassen. Das ganze Streben unsers Geistes muß allen Ernstes dahin gerichtet sein, sich zu jener Einfachheit, in der die Gegensätze coincidiren, zu erheben. (Debet autem in his profundus omnis nostri ingenii conatus esse, ut ad illam se elevet simplicitatem, ubi contradictoria coincidunt). Dies ist das Ziel des ersten Buches. Das zweite leitet daraus einige Sätze über das Universum ab, die sich über den gewöhnlichen Standpunkt der Philosophen erheben und Vielen als etwas Seltenes erscheinen werden (rara multis). Und nun habe ich schließlich auch das dritte Buch über Jesus, der gepriesen sei, vollendet, immer auf gleichem Fundamente weiter bauend, und im Wachsthum des Glaubens ist auch Jesus mir für Geist und Herz immer größer geworden (et factus est mihi Jesus Dominus continue major in intellectu et affectu per fidei crementum). Denn Niemand, der den Glauben an Christus hat, wird in Abrede stellen, daß nicht durch dieses System seine Sehnsucht immer höher gesteigert wird, so daß er nach vielem immer höher sich erhebenden Nachdenken zuletzt den süßen Jesus als den allein Liebenswürdigen erkennt und freudig Alles verläßt, um ihn als das wahre Leben und die ewige Freude zu umfassen. Wer so in die Erkenntniß Jesu eindringt, dem gelingt Alles (omnia cedunt); keine Schrift, ja die ganze Welt kann ihm Schwierigkeit bereiten, weil er in Jesus umgewandelt wird durch den Geist Christi, der in ihm wohnt und das Ziel des vernünftigen Verlangens ist. Bitte, frommer Vater! um diesen Geist inständig und beständig für mich armen Sünder, auf daß wir vereint ihn ewig zu besitzen gewürdigt werden![109]

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862.
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