Mein Leben
[Aus dem Jahre 1863]

[107] Wie entwirft man ein Bild von dem Leben und dem Charakter eines Menschen, den wir kennengelernt haben? Im allgemeinen ähnlich, wie man ein Bild von einer Gegend entwirft, die wir einst gesehn. Man muß sich das physiognomisch Eigentümliche vergegenwärtigen: Gebirgsart und -form, Pflanzen- und Tierwelt, Bläue des Himmels, alles dies in seiner Gesamtheit bestimmt den Eindruck. Gerade aber das, was zuerst in das Auge fällt, die Gebirgsmassen, die Felsformen und Steinarten geben für sich einer Gegend nicht den physiognomischen Charakter: in verschiedenen Erdstrichen, wie gruppenweise sich anziehend und abstoßend, treten nach gleichen Gesetzen gleiche Gebirgsarten, dieselben Gebilde der unorganischen Natur[107] hervor. Anders die der organischen. Insbesondere liegen in der Pflanzenwelt die feinsten Merkmale für vergleichende Naturbeobachtungen.

Ähnliches ergibt sich, wenn wir ein Menschenleben überschauen und richtig würdigen wollen. Nicht die zufälligen Ereignisse, die Gaben des Glückes, die wechselvollen äußeren Geschicke, die aus den sich kreuzenden äußeren Umständen entspringen, dürfen uns hierbei leiten, wenn sie gleich wie Berggipfel zuerst in die Augen springen. Gerade jene kleinen Erlebnisse und inneren Vorgänge, über die man hinwegsehn zu müssen glaubt, zeigen in ihrer Gesamtheit den individuellen Charakter am deutlichsten, sie wachsen organisch aus der Natur des Menschen hervor, während jene nur unorganisch mit ihm verbunden erscheinen.

Nach dieser Einleitung sieht es aus, als ob ich über mein Leben ein Buch schreiben wollte. Nimmer. Aber andeuten will ich, wie ich die folgenden Lebensumrisse verstanden wissen will. Nämlich wie ein geistvoller Naturforscher in seinen nach Erdstrichen geordneten Pflanzen- und Steinsammlungen die Geschichte und den Charakter eines jeden wiedererkennt, während das unwissende Kind darin nur Steine und Pflanzen zum Spielen und Tändeln findet, der Nützlichkeitsmensch stolz auf sie wie als etwas Zweckloses und für Nahrung und Kleidung Undienliches herabschaut.

Ich bin als Pflanze nahe dem Gottesacker, als Mensch in einem Pfarrhause geboren.

Und darum dieser dozierende Ton? Möglich, aber damit will ich ihn nicht entschuldigen. Aber was kann eine Einleitung zu einem Leben Beßres tun als lehren, wenn das Leben nicht selbst lehrt? Und diese folgenden kurzen Lebensnotizen können weder lehren noch unterhalten; sie sind glatte Steine; in Wirklichkeit sind diese Steine hübsch mit Moos und Erde umkleidet. –

An der Landstraße, die von Weißenfels über Lützen nach Leipzig führt, zieht sich das Dorf Röcken hin. Rings wird es von Weidengebüsch und vereinzelten Pappeln und Ulmen umschlossen, so daß aus der Ferne nur die ragenden Schornsteine und der altertümliche Kirchturm durch die grünen Wipfel hindurchschaut. Innerhalb des Dorfes breiten sich größere Teiche aus, nur durch schmale Erdstrecken voneinander getrennt; ringsum frisches Grün und knorrige Weiden.[108] Etwas höher liegt das Pfarrhaus und die Kirche, ersteres von Gärten und Baumpflanzungen umgeben. Dichtan grenzt der Friedhof, voll von eingesunkenen Grabsteinen und Kreuzen. Die Pfarrwohnung selbst wird von drei schöngewachsenen, weitästigen Akazien beschattet.

Hier bin ich am 15. Oktober 1844 geboren und erhielt, meinem Geburtstag angemessen, den Namen »Friedrich Wilhelm«. Das erste Ereignis, was bei wachsendem Bewußtsein mich traf, war die Krankheit meines Vaters. Es war eine Gehirnerweichung. Seine zunehmenden Leiden, sein Erblinden, seine abgezehrte Gestalt, die Tränen meiner Mutter, die sorgenvollen Mienen des Arztes, endlich die unvorsichtigen Äußerungen der Landleute mußten mich ein drohendes Unglück ahnen lassen. Und dieses Unglück brach auch ein. Mein Vater starb. Ich war noch nicht vier Jahre alt.

Einige Monate darauf verlor ich meinen einzigen Bruder, ein lebhaftes und begabtes Kind, das von Krämpfen plötzlich überfallen in kürzester Zeit tot war.

Wir mußten also unsre Heimat verlassen; am Abend des letzten Tages spielte ich noch mit mehreren Kindern und nahm dann von ihnen, wie von allen lieben Orten Abschied. Ich konnte nicht schlafen; unruhig warf ich mich auf meinem Lager umher und stand endlich gegen Mitternacht auf. Im Hof standen mehrere beladene Wagen, der matte Schein einer Laterne beleuchtete die Hofräume. Sobald der Morgen graute, wurden die Pferde angeschirrt; wir fuhren durch den Morgennebel fort, Naumburg, dem Ziel unsrer Reise zu. Hier, zuerst verschüchtert, nachher etwas lebhafter, aber immer mir der Würde eines kleinen Stockphilisters, begann ich das Leben und die Bücher kennenzulernen. Hier gewann ich auch die Natur in ihren schönen Bergen und ihren Flußtälern, Schlössern und Burgen, und die Menschen in meinen Verwandten und Freunden lieb.

Es begann die Gymnasialzeit und mit ihr neue Interessen und Bestrebungen. Insbesondere keimte damals die Neigung zur Musik, trotzdem daß die Anfänge des Unterrichts ganz danach angetan waren, sie in der Wurzel zu vernichten. Mein erster Lehrer war nämlich ein Kantor, behaftet mit allen liebenswürdigen Fehlern eines Kantors, und dazu eines emeritierten ohne besondere Verdienste.[109]

Ich rückte mit geziemender Langsamkeit und Ordnung endlich nach Tertia auf. Es war wohl Zeit, etwas aus den mütterlichen Kreisen herauszukommen und sich endlich abzugewöhnen, so unendlich unpraktisch seine gewohnten Bahnen zu gehen. Die Weisheit etlicher Lexika war wohl in mir, alle möglichen Neigungen erwacht, ich schrieb Gedichte und Trauerspiele, schauervoll und zum Entsetzen langweilig, quälte mich damit ab, vollständige Orchestermusiken zu komponieren und hatte mich so in die Idee, mir ein Universalwissen und -können anzueignen, hineingelebt, daß ich in Gefahr war, ein rechter Wirrkopf und Phantast zu werden.

Es war darum vielfach wohltätig, als Alumnus der Landesschule Pforta sich durch sechs Jahre einer größeren Sammlung und Richtung der Kräfte auf feste Ziele zu befleißigen.

Noch habe ich diese sechs Jahre nicht hinter mir; aber doch kann ich schon die Ergebnisse dieser Zeit als abgeschlossen betrachten, denn ihre Wirkungen fühle ich bei jedem, was ich jetzt unternehme.

So kann ich auf fast alles, was mich getroffen, sei es Freude, sei es Leid, dankbar zurückschauen, und die Ereignisse haben mich bis jetzt wie ein Kind geleitet.

Vielleicht wird es Zeit, selbst die Zügel der Ereignisse zu ergreifen und in das Leben hinauszutreten.

Und so entwächst der Mensch allem, was ihn einst umschlang; er braucht nicht die Fesseln zu sprengen, sondern unvermutet, wenn ein Gott es gebeut, fallen sie ab; und wo ist der Ring, der ihn endlich noch umfaßt? Ist es die Welt? Ist es Gott? –

F. W. Nietzsche

geschrieben am 18. September 1863

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 107-110.
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