168.
An Heinrich von Stein

[1195] [S. Margherita,]

Anfang Dezember 1882


Aber, lieber Herr Doktor, Sie hätten mir gar nicht schöner antworten können, als Sie es getan haben – durch Übersendung Ihrer Bogen. Das traf glücklich zusammen! Und bei allen ersten Begegnungen sollte es ein so gutes »Vogelzeichen« geben!

Ja, Sie sind ein Dichter! Das empfinde ich: die Affekte, ihr Wechsel, nicht am wenigsten der szenische Apparat – das ist wirksam und glaubwürdig (worauf alles ankommt!).

Was die »Sprache« betrifft, – nun wir sprechen zusammen über die Sprache, wenn wir uns einmal sehen: das ist nichts für den Brief. Gewiß, lieber Herr Doktor, Sie lesen noch zu viel Bücher, namentlich deutsche Bücher! Wie kann man nur ein deutsches Buch lesen!

Ah, Verzeihung! Ich tat es selber eben und habe Tränen dabei vergossen.

Wagner sagte einmal von mir, ich schriebe lateinisch und nicht deutsch: was einmal wahr ist und so dann – auch meinem Ohre wohlklingt. Ich kann nun einmal an allem deutschen Wesen nur einen Anteil haben, und nicht mehr. Betrachten Sie meinen Namen: meine Vorfahren waren polnische Edelleute, noch die Mutter meines Großvaters war Polin. Nun, ich mache mir aus meinem Halbdeutschtum eine Tugend zurecht und nehme in Anspruch, mehr von der Kunst der Sprache zu verstehen als es Deutschen möglich ist. –

Also hierin auf Wiedersehn!

Was »den Helden« betrifft: so denke ich nicht so gut von ihm wie Sie. Immerhin: er ist die annehmbarste Form des menschlichen Daseins, namentlich wenn man keine andre Wahl hat.

Man gewinnt etwas lieb: und kaum ist es einem von Grund aus lieb geworden, so sagt der Tyrann in uns (den wir gar zu gerne »unser höheres Selbst« nennen möchten): »Gerade das gib mir zum Opfer.«[1195]

Und wir geben's auch – aber es ist Tierquälerei dabei und Verbranntwerden mit langsamem Feuer. Es sind fast lauter Probleme der Grausamkeit, die Sie behandeln: tut dies Ihnen wohl? Ich sage Ihnen aufrichtig, daß ich selber zuviel von dieser »tragischen« Komplexion im Leibe habe, um sie nicht oft zu verwünschen; meine Erlebnisse, im kleinen und großen, nehmen immer den gleichen Verlauf. Da verlangt es mich am meisten nach einer Höhe, von wo aus gesehen das tragische Problem unter mir ist. – Ich möchte dem menschlichen Dasein etwas von seinem herzbrecherischen und grausamen Charakter nehmen. Doch, um hier fortfahren zu können, müßte ich Ihnen verraten, was ich niemandem noch verraten habe – die Aufgabe, vor der ich stehe, die Aufgabe meines Lebens. Nein, davon dürfen wir nicht miteinander sprechen. Oder vielmehr: so wie wir beide sind, zwei sehr getrennte Wesen, dürfen wir davon nicht einmal miteinander schweigen.

Von Herzen Ihnen dankbar und zugetan

F. Nietzsche


Ich bin wieder in meiner Residenz Genua oder in deren Nähe, mehr Einsiedler als je: Santa Margherita Ligure (Italia) (poste restante).

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1195-1196.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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