221.
An Peter Gast

[1265] Nizza, 27. Okt. 1887 (blaue Finger, Pardon!)


Lieber Freund, eben langte Ihr Brief an; ich las Montaigne, um mich aus einer grillig-düsteren und gereizten Stimmung zu ziehen – Ihr Brief half mir gründlicher noch davon. Seit gestern abend habe ich eine Fischgräte im Halse, die Nacht war greulich; trotz wiederholten Versuchen des Erbrechens hält sie fest. Sonderbar, ich empfinde eine Abundanz von Symbolik und Sinn in dieser physiologischen Niederträchtigkeit. –

Zu alledem ist es kalt, januarlich; mein Nordzimmer läßt mich nicht mit mir spaßen – und auch nicht mit sich! – Overbeck meldet eben seinerseits Rheumatismus (überdies Neues über Spitteler, seinen alten Schüler), tiefe Versenkung in den Wust der Scholastik (über[1265] welche er diesen Winter zum ersten Male liest), auch daß man R. Wagners Symphonie in Basel gemacht hat. Wir wollen ihm (nach Ihrem Vorschlag) den Hymnus jetzt schicken: als welcher zu aller Art Tapferkeit auffordert. Beiläufig: die Schlußwendung »wohlan! noch hast du deine Pein! ...« ist das Stärkste von Hybris in griechischem Sinne, von lästerlicher Herausforderung des Schicksals durch einen Exzeß von Mut und Übermut: – mir läuft immer noch jedesmal, wenn ich die Stelle sehe (und höre), ein kleiner Schauder über den Leib. Man sagt, daß für solche »Musik« die Erinnyen Ohren haben. –

Ais erleichtert mich, ich kann Ihnen nicht helfen, es macht die Brücke zu der »süßen« Entschlossenheit der letzten Phrasierung. Ich würde a aushalten, wenn es den Anfang einer langen leidenschaftlichen, tragischen, auf- und abschwellenden Kadenz ( auf fis-moll ), etwa mit einem Violinen-Unisono, machte; an sich allein steht es da, dürr, schmerzhaft, hoffnungslos. Auch bewegt sich in diesen Takten die Melodie in lauter kleinen Sekunden: diese einzige große h-a klingt wie ein Widerspruch. – Sie sehen, ich komme über den moralischen Querstand dieses a schlecht hinweg. –

Die Partitur hat mir übrigens großes Vergnügen gemacht; und es scheint mir, daß Fritzsch sich besser aus der Sache herausgezogen hat, als wir ihm zugetraut haben. Was für gutes Papier hat er genommen! Im Grunde ist es die »eleganteste« Partitur, die ich bis jetzt gesehn habe; und daß Fritzsch wirklich die Stimmen dazu hat herstellen lassen (ohne mir vorher ein Wort davon zu sagen), freut mich: es verrät seinen Glauben an die Aufführbarkeit des Hymnus. Oh, alter lieber Freund, was haben Sie sich damit um mich »verdient gemacht«! Diese kleine Zugehörigkeit zur Musik und beinahe zu den Musikern, für welche dieser Hymnus Zeugnis ablegt, ist in Hinsicht auf ein einstmaliges Verständnis jenes psychologischen Problems, das ich bin, ein unschätzbarer Punkt; und schon jetzt wird es nachdenken machen. Auch hat der Hymnus etwas von Leidenschaft und Ernst an sich und präzisiert wenigstens einen Hauptaffekt unter den Affekten, aus denen meine Philosophie gewachsen ist. Zuallerletzt: er ist etwas für Deutsche, ein Brückchen, auf dem vielleicht sogar diese schwerfällige Rasse dazu gelangen kann, sich für eine ihrer seltsamsten Mißgeburten zu interessieren. –[1266]

Nizza, aufgerüttelt durch sein Erdbeben, schickt sich diesen Winter an, alle seine Verführungskünste anzuwenden. Reinlicher war es nie; die Häuser schöner angestrichen; die Küche in den Hotels besser. Das italienische Theater (Sonzogno, als Impresario, bringt selber den Winter hier zu) verspricht zuerst, wie Bülow I pescatori di perle (26. Nov.); darauf Carmen; darauf Amleto (von Thomas); darauf Lakmé (von Delibes) – lauter Feinschmeckerei. – Eben haben wir einen glänzenden Astronomen-Kongreß hier gehabt, le congrès Bisch genannt (nämlich der reiche Jude Bischoffsheim, Amateur in astronomicis, bestreitet die Kosten des ganzen Kongresses; und wirklich, man ist entzückt über die von ihm veranstalteten Feste). Ihm verdankt Nizza bereits sein Observatorium, insgleichen dessen Unterhaltung, Besoldung der Angestellten, nebst dem, was die Publikationen kosten. Ecco! Jüdischer Luxus in großem Stile!

Lieber Freund, ich habe Sie diesmal nicht nur mit großer Dankbarkeit verlassen, auch mit großem Respekt. Bleiben Sie sich treu, ich weiß Ihnen nichts Besseres zu wünschen!

Von Herzen Ihr N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1265-1267.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden