222.
An Peter Gast

[1267] Nizza, 10. November 1887


Lieber Freund, der Zufall will (oder ist's gar nicht der Zufall?), daß auch ich in der letzten Woche am Problem Piccini-Gluck hängen blieb. Sie wissen, daß im Monat November 1787 Gluck starb? – vielleicht auch, daß der größte und geistreichste Piccinist, der Abbé Galiani im gleichen Jahre starb (30. Oktober 1787 in Neapel)? Wir feiern also das hundertjährige Jubiläum eines großen Problems und einer verhängnisvollen, wahrscheinlich falschen Entscheidung desselben. Ich lese Galiani: mich agaziert es geradezu, daß dieser verwöhnteste und raffinierteste Geist des vorigen Jahrhunderts in diesem Grade außer sich ist über seinen Piccini (ungefähr wie Stendhal über Rossini, aber noch naiver und »verwandter«, wenn ich recht empfinde). Er macht einen scharfen Unterschied zwischen den komischen Opern Piccinis, die bloß für Neapel und in Neapel möglich sind, und den anderen, die in ganz Italien und selbst in Frankreich ungefähr goutiert werden können. Nur von den ersteren sagt er, daß Piccini[1267] damit auf dem höchsten Gipfel der Kunst angelangt sei; er sagt zu Madame d'Epinay, sie könne sich gar keine Idee davon machen, so sehr seien sie supérieurs allem, was sie je gehört habe. Der Zeitpunkt, wo Piccini auf die Höhe kommt, ist 1770-71 etwa (aus letzterem Jahre sind die Briefe Galianis). Damals spielte man in Neapel von Piccini La finta giardiniera und Il Don Chisciotte, insgleichen La Gelosia per Gelosia: auf eins dieser Werke, wenn nicht auf alle, muß sich das Entzücken Galianis beziehn (– »er hat mich gelehrt, daß wir alle und immer singen, wenn wir sprechen. Die Schwierigkeit besteht darin, unsern Ton und unsre Modulation zu finden, wenn wir sprechen«). Er macht sich lustig über Mad. d'Epinay, welche diese Sachen nach Paris haben will; er sagt »ils ne vont pas même à Rome«. »Sie werden seine italienischen komischen Opern haben, solche wie La buona figlia, aber keine der neapolitanischen.« (Diese Oper, La buona figlia, mit dem Texte Goldonis, ist zuerst in Rom aufgeführt 1760; in Paris erst 1770, mit großem Erfolg. Die französische Kritik sagte damals »les oreilles françaises, habituées depuis quelques années à un gerne qui leur répugnait d'abord, ont reçu celle-ci avec la plus délicieuse sensation. Les accompagnements surtout ont paru travaillés avec un art infini«. Klingt das nicht sehr merkwürdig?)

Es scheint mir nötig, den ganzen Gegensatz »italienische und französische Musik« erst wieder zu entdecken und den hybriden Begriff »deutsche Musik« einmal beiseite zu tun. Es handelt sich um einen Stilgegensatz: die Herkunft der Komponisten ist dafür ganz gleichgültig. So ist Händel ein Italiener, Gluck ein Franzose (– die französische Kritik feiert z. B. in diesem Augenblick Gluck als das größte musikalische Genie des französischen Geistes, als ihren Gluck). Es gibt geborene Italiener, die dem französischen Stile huldigen, es gibt geborene Franzosen, die italienische Musik machen. Aber worin eigentlich besteht der große Stilgegensatz? Ich empfehle besonders die mémoires des Präsidenten de Brosses (seine Reise in Italien 1739), in denen fortwährend dies Problem leidenschaftlich berührt wird: da erscheint z. B. il Sassone, Ihr Venediger Hasse, als fanatischer Anti-franzose.

Können Sie sich nicht in Venedig den Anblick Piccinischer Partituren verschaffen? namentlich seiner Napolitana? Sollte da etwas verloren[1268] und vergessen worden sein? – Man muß dem bornierten »deutschen Ernst« in der Musik das Genie der Heiterkeit entgegenstellen. –

Dies erinnert mich an den hymnum ecclesiasticum, über den inzwischen nur ein Urteil eingelaufen ist, das Ruthardts: »sehr würdig, rein im Satz und wohlklingend«.

Der II. Band des »Journal des Goncourt« ist erschienen: die interessanteste Novität. Er betrifft die Jahre 1862-65; in ihm sind die berühmten dîners chez Magny auf das handgreiflichste beschrieben, jene Diners, welche zweimal monatlich die damalige geistreichste und skeptischste Bande der Pariser Geister zusammenbrachten (Sainte-Beuve, Flaubert, Théophile Gautier, Taine, Renan, die Goncourts, Schérer, Gavarni, gelegentlich Turgenjew usw.). Exasperierter Pessimismus, Zynismus, Nihilismus, mit viel Ausgelassenheit und gutem Humor abwechselnd; ich selbst gehörte gar nicht übel hinein – ich kenne diese Herrn auswendig, so sehr daß ich sie eigentlich bereits satt habe. Man muß radikaler sein: im Grunde fehlt es bei allen an der Hauptsache – »la force«.

Treulich Ihr Freund Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1267-1269.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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