Nur Narr! Nur Dichter!

[1239] Bei abgehellter Luft,

wenn schon des Taus Tröstung

zur Erde niederquillt,

unsichtbar, auch ungehört

– denn zartes Schuhwerk trägt

der Tröster Tau gleich allen Trostmilden –

gedenkst du da, gedenkst du, heißes Herz,

wie einst du durstetest,

nach himmlischen Tränen und Taugeträufel

versengt und müde durstetest,

dieweil auf gelben Graspfaden

boshaft abendliche Sonnenblicke

durch schwarze Bäume um dich liefen,

blendende Sonnen-Glutblicke, schadenfrohe.


»Der Wahrheit Freier – du?« so höhnten sie –

»Nein! nur ein Dichter!

ein Tier, ein listiges, raubendes, schleichendes,

das lügen muß,

das wissentlich, willentlich lügen muß,

nach Beute lüstern,

bunt verlarvt,

sich selbst zur Larve,

sich selbst zur Beute,

das – der Wahrheit Freier?...


Nur Narr! nur Dichter!

Nur Buntes redend,

aus Narrenlarven bunt herausredend,

herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken,[1239]

auf Lügen-Regenbogen

zwischen falschen Himmeln

herumschweifend, herumschleichend –

nur Narr! nur Dichter!...


Das – der Wahrheit Freier?...

Nicht still, starr, glatt, kalt,

zum Bilde worden,

zur Gottes-Säule,

nicht aufgestellt vor Tempeln,

eines Gottes Türwart:

nein! feindselig solchen Tugend-Standbildern,

in jeder Wildnis heimischer als in Tempeln,

voll Katzen-Mutwillens

durch jedes Fenster springend

husch! in jeden Zufall,

jedem Urwalde zuschnüffelnd,

daß du in Urwäldern

unter buntzottigen Raubtieren

sündlich gesund und schön und bunt liefest,

mit lüsternen Lefzen,

selig-höhnisch, selig-höllisch, selig-blutgierig,

raubend, schleichend, lügend liefest...


Oder dem Adler gleich, der lange,

lange starr in Abgründe blickt,

in seine Abgründe...

– o wie sie sich hier hinab,

hinunter, hinein,

in immer tiefere Tiefen ringeln! –


Dann,

plötzlich,

geraden Flugs,

gezückten Zugs

auf Lämmer stoßen,[1240]

jach hinab, heißhungrig,

nach Lämmern lüstern,

gram allen Lamms-Seelen,

grimmig gram allem, was blickt

tugendhaft, schafmäßig, krauswollig,

dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen...


Also

adlerhaft, pantherhaft

sind des Dichters Sehnsüchte,

sind deine Sehnsüchte unter tausend Larven,

du Narr! du Dichter!...


Der du den Menschen schautest

so Gott als Schaf –,

den Gott zerreißen im Menschen

wie das Schaf im Menschen

und zerreißend lachen


das, das ist deine Seligkeit,

eines Panthers und Adlers Seligkeit,

eines Dichters und Narren Seligkeit!«...


Bei abgehellter Luft,

wenn schon des Monds Sichel

grün zwischen Purpurröten

und neidisch hinschleicht,

– dem Tage feind,

mit jedem Schritte heimlich

an Rosen-Hängematten

hinsichelnd, bis sie sinken,

nachtabwärts blaß hinabsinken:


so sank ich selber einstmals

aus meinem Wahrheits-Wahnsinne,

aus meinen Tages-Sehnsüchten,[1241]

des Tages müde, krank vom Lichte,

– sank abwärts, abendwärts, schattenwärts,

von einer Wahrheit

verbrannt und durstig

– gedenkst du noch, gedenkst du, heißes Herz,

wie da du durstetest? –

daß ich verbannt sei

von aller Wahrheit!

Nur Narr! Nur Dichter!...[1242]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1239-1243.
Lizenz:
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