281

[747] »Wird man es mir glauben? aber ich verlange, daß man es mir glaubt: ich habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht, nur in ganz seltnen Fällen, nur gezwungen, immer ohne Lust ›zur Sache‹, bereit, von ›mir‹ abzuschweifen, immer ohne Glauben an das Ergebnis, dank einem unbezwinglichen Mißtrauen gegen die Möglichkeit der Selbst-Erkenntnis, das mich so weit geführt hat, selbst am Begriff ›unmittelbare Erkenntnis‹, welchen sich die Theoretiker erlauben, eine contradictio in adjecto zu empfinden – diese ganze Tatsache ist beinahe das Sicherste, was ich über mich weiß. Es muß eine Art Widerwille in mir geben, etwas Bestimmtes über mich zu glauben. – Steckt darin vielleicht ein Rätsel? Wahrscheinlich; aber glücklicherweise keins für meine eigenen Zähne. – Vielleicht verrät es die Spezies, zu der ich gehöre? – Aber nicht mir: wie es mir selbst erwünscht genug ist.–«


282

»Aber was ist dir begegnet?« – »Ich weiß es nicht«, sagte er zögernd; »vielleicht sind mir die Harpyien über den Tisch geflogen.« – Es kommt heute bisweilen vor, daß ein milder mäßiger zurückhaltender Mensch plötzlich rasend wird, die Teller zerschlägt, den Tisch umwirft, schreit, tobt, alle Welt beleidigt – und endlich beiseite geht, beschämt, wütend über sich – wohin? wozu? Um abseits zu verhungern? Um an seiner Erinnerung zu ersticken? – Wer die Begierden einer hohen wählerischen Seele hat und nur selten seinen Tisch gedeckt, seine Nahrung bereit findet, dessen Gefahr wird zu allen Zeiten groß sein: heute aber ist sie außerordentlich. In ein lärmendes und pöbelhaftes Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus einer Schüssel essen mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich dennoch »zugreift« – vor plötzlichem Ekel zugrunde gehn. – Wir haben wahrscheinlich alle schon an Tischen gesessen, wo wir nicht hingehörten; und gerade die Geistigsten von uns, die am schwersten zu ernähren sind, kennen jene gefährliche dyspepsia, welche aus einer plötzlichen Einsicht und Enttäuschung über unsre Kost und Tischnachbarschaft entsteht – den Nachtisch-Ekel.


283

[748] Es ist eine feine und zugleich vornehme Selbstbeherrschung, gesetzt, daß man überhaupt loben will, immer nur da zu loben, wo man nicht übereinstimmt – im andern Falle würde man ja sich selbst loben, was wider den guten Geschmack geht – freilich eine Selbstbeherrschung, die einen artigen Anlaß und Anstoß bietet, um beständig mißverstanden zu werden. Man muß, um sich diesen wirklichen Luxus von Geschmack und Moralität gestatten zu dürfen, nicht unter Tölpeln des Geistes leben, vielmehr unter Menschen, bei denen Mißverständnisse und Fehlgriffe noch durch ihre Feinheit belustigen – oder man wird es teuer büßen müssen! – »Er lobt mich: also gibt er mir recht« – diese Eselei von Schlußfolgerung verdirbt uns Einsiedlern das halbe Leben, denn es bringt die Esel in unsre Nachbarschaft und Freundschaft.


284

Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben; immer jenseits –. Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie setzen, wie auf Pferde, oft wie auf Esel – man muß nämlich ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen. Seine dreihundert Vordergründe sich bewahren; auch die schwarze Brille: denn es gibt Fälle, wo uns niemand in die Augen, noch weniger in unsre »Gründe« sehn darf. Und jenes spitzbübische und heitre Laster sich zur Gesellschaft wählen, die Höflichkeit. Und Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Mutes, der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit. Denn die Einsamkeit ist bei uns eine Tugend, als ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit, welcher errät, wie es bei Berührung von Mensch und Mensch – »in Gesellschaft« – unvermeidlich-unreinlich zugehn muß. Jede Gemeinschaft macht, irgendwie, irgendwo, irgendwann – »gemein«.


285

Die größten Ereignisse und Gedanken – aber die größten Gedanken sind die größten Ereignisse – werden am spätesten begriffen: die Geschlechter,[749] welche mit ihnen gleichzeitig sind, erleben solche Ereignisse nicht – sie leben daran vorbei. Es geschieht da etwas wie im Reiche der Sterne. Das Licht der fernsten Sterne kommt am spätesten zu den Menschen; und bevor es nicht angekommen ist, leugnet der Mensch, daß es dort – Sterne gibt. »Wieviel Jahrhunderte braucht ein Geist, um begriffen zu werden?« – das ist auch ein Maßstab, damit schafft man auch eine Rangordnung und Etikette, wie sie nottut: für Geist und Stern. –


286

»Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben.« – Es gibt aber eine umgekehrte Art von Menschen, welche auch auf der Höhe ist und auch die Aussicht frei hat – aber hinabblickt.


287

– Was ist vornehm? Was bedeutet uns heute noch das Wort »vornehm«? Woran verrät sich, woran erkennt man, unter diesem schweren verhängten Himmel der beginnenden Pöbelherrschaft, durch den alles undurchsichtig und bleiern wird, den vornehmen Menschen? – Es sind nicht die Handlungen, die ihn beweisen – Handlungen sind immer vieldeutig, immer unergründlich –; es sind auch die »Werke« nicht. Man findet heute unter Künstlern und Gelehrten genug von solchen, welche durch ihre Werke verraten, wie eine tiefe Begierde nach dem Vornehmen hin sie treibt: aber gerade dies Bedürfnis nach dem Vornehmen ist von Grund aus verschieden von den Bedürfnissen der vornehmen Seele selbst, und geradezu das beredte und gefährliche Merkmal ihres Mangels. Es sind nicht die Werke, es ist der Glaube, der hier entscheidet, der hier die Rangordnung feststellt, um eine alte religiöse Formel in einem neuen und tieferen Verstande wieder aufzunehmen: irgendeine Grundgewißheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat, etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren läßt. – Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich. –
[750]


288

Es gibt Menschen, welche auf eine unvermeidliche Weise Geist haben, sie mögen sich drehen und wenden, wie sie wollen, und die Hände vor die verräterischen Augen halten (– als ob die Hand kein Verräter wäre! –): schließlich kommt es immer heraus, daß sie etwas haben, das sie verbergen, nämlich Geist. Eins der feinsten Mittel, um wenigstens so lange als möglich zu täuschen und sich mit Erfolg dümmer zu stellen, als man ist – was im gemeinen Leben oft so wünschenswert ist wie ein Regenschirm –, heißt Begeisterung: hinzugerechnet, was hinzu gehört, zum Beispiel Tugend. Denn, wie Galiani sagt, der es wissen mußte –: vertu est enthousiasme.


289

Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch etwas von dem Widerhall der Öde, etwas von dem Flüstertone und dem scheuen Umsichblicken der Einsamkeit an; aus seinen stärksten Worten, aus seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere Art des Schweigens, Verschweigens heraus. Wer jahraus, jahrein und tags und nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und Zwiegespräche zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle – sie kann ein Labyrinth, aber auch ein Goldschacht sein – zum Höhlenbär oder Schatzgräber oder Schatzwächter und Drachen wurde: dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine eigne Zwielicht-Farbe, einen Geruch ebensosehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmitteilsames und Widerwilliges, das jeden Vorübergehenden kalt anbläst. Der Einsiedler glaubt nicht daran, daß jemals ein Philosoph – gesetzt, daß ein Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war – seine eigentlichen und letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt? – ja er wird zweifeln, ob ein Philosoph »letzte und eigentliche« Meinungen überhaupt haben könne, ob bei ihm nicht hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse – eine umfänglichere fremdere reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder »Begründung«. Jede Philosophie ist eine Vordergrunds-Philosophie – das ist ein Einsiedler-Urteil:[751] »es ist etwas Willkürliches daran, daß er hier stehnblieb, zurückblickte, sich umblickte, daß er hier nicht mehr tiefer grub und den Spaten weglegte – es ist auch etwas Mißtrauisches daran.« Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.


290

Jeder tiefe Denker fürchtet mehr das Verstandenwerden als das Mißverstanden-werden. Am letzteren leidet vielleicht seine Eitelkeit; am ersteren aber sein Herz, sein Mitgefühl, welches immer spricht: »ach, warum wollt ihr es auch so schwer haben wie ich?«

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 747-752.
Lizenz:
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