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[1130] Moralische Mode einer handeltreibenden Gesellschaft. – Hinter dem Grundsatze der jetzigen moralischen Mode: »moralische Handlungen sind die Handlungen der Sympathie für andere« sehe ich einen sozialen Trieb der Furchtsamkeit walten, welcher sich in dieser Weise intellektuell vermummt: dieser Trieb will, als Oberstes, Wichtigstes, Nächstes, daß dem Leben alle Gefährlichkeit genommen werde, welche es früher hatte, und daß daran jeder und mit allen Kräften helfen solle: deshalb dürfen nur Handlungen, welche auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen, das Prädikat »gut« bekommen! – Wie wenig Freude müssen doch jetzt die Menschen an sich haben, wenn eine solche Tyrannei der Furchtsamkeit ihnen das oberste Sittengesetz vorschreibt, wenn sie es sich so widerspruchslos anbefehlen lassen, über sich, neben sich wegzusehen, aber für jeden Notstand, für jedes Leiden anderwärts Luchsaugen zu haben! Sind wir denn bei einer solchen ungeheuren Absichtlichkeit, dem Leben alle Schärfen und Kanten abzureiben, nicht auf dem besten Wege, die Menschheit zu Sand zu machen? Sand! Kleiner, weicher, runder, unendlicher Sand! Ist das euer Ideal, ihr Herolde der sympathischen[1130] Affektionen? – Inzwischen bleibt selbst die Frage unbeantwortet, ob man dem andern mehr nützt, indem man ihm unmittelbar fortwährend beispringt und hilft – was doch nur sehr oberflächlich geschehen kann, wo es nicht zu einem tyrannischen Übergreifen und Umbilden wird – oder indem man aus sich selber etwas formt, was der andre mit Genuß sieht, etwa einen schönen, ruhigen, in sich abgeschlossenen Garten, welcher hohe Mauern gegen die Stürme und den Staub der Landstraßen, aber auch eine gastfreundliche Pforte hat.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1130-1131.
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Morgenröte
Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
Morgenröte: Gedanken über die moralischen Vorurteile (insel taschenbuch)