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[1131] Grundgedanke einer Kultur der Handeltreibenden. – Man sieht jetzt mehrfach die Kultur einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das Handeltreiben ebensosehr die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die ältern Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende versteht alles zu taxieren, ohne es zu machen, und zwar zu taxieren nach dem Bedürfnisse der Konsumenten, nicht nach seinem eigenen persönlichsten Bedürfnisse; »wer und wie viele konsumieren dies?« ist seine Frage der Fragen. Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinktiv und immerwährend an: auf alles, und so auch auf die Hervorbringungen der Künste und Wissenschaften, der Denker, Gelehrten, Künstler, Staatsmänner, der Völker und Parteien, der ganzen Zeitalter: er fragt bei allem, was geschaffen wird, nach Angebot und Nachfrage, um für sich den Wert einer Sache festzusetzen. Dies zum Charakter einer ganzen Kultur gemacht, bis ins Unbegrenzte und Feinste durchgedacht und allem Wollen und Können aufgeformt: das ist es, worauf ihr Menschen des nächsten Jahrhunderts stolz sein werdet: wenn die Propheten der handeltreibenden Klasse Recht haben dieses in euren Besitz zu geben! Aber ich habe wenig Glauben an diese Propheten. Credat Judaeus Apella – mit Horaz zu reden.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1131.
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