§ 2. Folgesätze

[16] Wir haben durch das Bisherige nicht nur den Begriff der Transzendental-Philosophie deduziert, sondern dem Leser zugleich einen Blick in das ganze System der Philosophie verschafft, das, wie man sieht, durch zwei Grundwissenschaften vollendet wird, die, einander entgegengesetzt im Prinzip und der Richtung, sich wechselseitig suchen und ergänzen. Nicht das ganze System der Philosophie, sondern nur die Eine Grundwissenschaft desselben[16] soll hier aufgestellt, und dem abgeleiteten Begriff zufolge vorerst genauer charakterisiert werden.2

1. Wenn der Transzendental-Philosophie das Subjektive – das Erste, und einziger Grund aller Realität, einziges Erklärungsprinzip alles andern ist (§ 1), so beginnt sie notwendig mit dem allgemeinen Zweifel an der Realität des Objektiven.

Wie der nur aufs Objektive gerichtete Naturphilosoph nichts so sehr zu verhindern sucht als Einmischung des Subjektiven in sein Wissen, so umgekehrt der Transzendental-Philosoph nichts so sehr als Einmischung des Objektiven in das rein subjektive Prinzip des Wissens. – Das Ausscheidungsmittel ist der absolute Skeptizismus – nicht der halbe, nur gegen die gemeinen Vorurteile der Menschen gerichtete, der doch nie auf den Grund sieht, sondern der durchgreifende Skeptizismus, der nicht gegen einzelne Vorurteile, sondern gegen das Grundvorurteil sich richtet, mit welchem alle andern von selbst fallen müssen. Denn außer den künstlichen, in den Menschen hineingebrachten Vorurteilen gibt es weit ursprünglichere, nicht durch Unterricht oder Kunst, sondern durch die Natur selbst in ihn gelegte, die, außer dem Philosophen, allen übrigen statt der Prinzipien alles Wissens, und dem bloßen Selbstdenker sogar als Probierstein aller Wahrheit gelten.

Das Eine Grundvorurteil, auf welches alle andern sich reduzieren, ist kein anderes, als daß es Dinge außer uns gebe; ein Fürwahrhalten, das, weil es nicht auf Gründen noch auf Schlüssen beruht (denn es gibt keinen einzigen probehaltigen Beweis dafür), und doch durch keinen entgegengesetzten Beweis sich ausrotten läßt (naturam furca expellas, tamen usque redibit), Ansprüche macht auf unmittelbare Gewißheit, da es sich doch auf etwas von uns ganz Verschiedenes, ja uns Entgegengesetztes bezieht, von dem man gar nicht einsieht, wie es in das unmittelbare Bewußtsein komme, – für nichts mehr als[17] für ein Vorurteil – zwar für ein angeborenes und ursprüngliches – aber deswegen nicht minder für Vorurteil geachtet werden kann.

Den Widerspruch, daß ein Satz, der seiner Natur nach nicht unmittelbar gewiß sein kann, doch ebenso blindlings und ohne Gründe wie ein solcher angenommen wird, weiß der Transzendental-Philosoph nicht zu lösen, als durch die Voraussetzung, daß jener Satz versteckterweise, und ohne daß man es bis jetzt einsieht, – nicht zusammenhänge, sondern identisch und eins und dasselbe sei mit einem unmittelbar Gewissen, und diese Identität aufzuzeigen, wird eigentlich das Geschäft der Transzendental-Philosophie sein.

2. Nun gibt es aber selbst für den gemeinen Vernunftgebrauch nichts unmittelbar Gewisses außer dem Satz: Ich bin; der, weil er außerhalb des unmittelbaren Bewußtseins selbst die Bedeutung verliert, die individuellste aller Wahrheiten, und das absolute Vorurteil ist, das zuerst angenommen werden muß, wenn irgend etwas anderes gewiß sein soll. – Der Satz: Es gibt Dinge außer uns, wird also für den Transzendental-Philosophen auch nur gewiß sein durch seine Identität mit dem Satze: Ich bin, und seine Gewißheit wird auch nur gleich sein der Gewißheit des Satzes, von welchem er die seinige entlehnt.

Das transzendentale Wissen würde sich diesem nach vom gemeinen durch zwei Punkte unterscheiden.

Erstens, daß ihm die Gewißheit vom Dasein der Außendinge ein bloßes Vorurteil ist, über das es hinausgeht, um seine Gründe aufzusuchen. (Es kann dem Transzendental-Philosophen nie darum zu tun sein, das Dasein der Dinge an sich zu beweisen, sondern nur, daß es ein natürliches und notwendiges Vorurteil ist, äußere Gegenstände als wirklich anzunehmen.)

Zweitens, daß es die beiden Sätze: Ich bin, und: Es sind Dinge außer mir, die im gemeinen Bewußtsein zusammenfließen, trennt (den einen dem andern vorsetzt), eben um ihre Identität beweisen und den unmittelbaren Zusammenhang, der[18] in jenem nur gefühlt wird, wirklich aufzeigen zu können. Durch den Akt dieser Trennung selbst, wenn er vollständig ist, versetzt er sich in die transzendentale Betrachtungsart, welche keineswegs eine natürliche, sondern eine künstliche ist.

3. Wenn dem Transzendental-Philosophen nur das Subjektive ursprüngliche Realität hat, so wird er auch nur das Subjektive im Wissen sich unmittelbar zum Objekt machen: das Objektive wird ihm nur indirekt zum Objekt werden, und anstatt daß im gemeinen Wissen das Wissen selbst (der Akt des Wissens) über dem Objekt verschwindet, wird im transzendentalen umgekehrt über dem Akt des Wissens das Objekt als solches verschwinden. Das transzendentale Wissen ist also ein Wissen des Wissens, insofern es rein subjektiv ist.

So gelangt z.B. von der Anschauung nur das Objektive zum gemeinen Bewußtsein, das Anschauen selbst verliert sich im Gegenstand; indes die transzendentale Betrachtungsart vielmehr nur durch den Akt des Anschauens hindurch das Angeschaute erblickt. – So ist das gemeine Denken ein Mechanismus, in welchem Begriffe herrschen, aber ohne als Begriffe unterschieden zu werden; indes das transzendentale Denken jenen Mechanismus unterbricht, und, indem es des Begriffs als Akts sich bewußt wird, zum Begriff des Begriffs sich erhebt. – Im gemeinen Handeln wird über dem Objekt der Handlung das Handeln selbst vergessen; das Philosophieren ist auch ein Handeln, aber nicht ein Handeln nur, sondern zugleich ein beständiges Selbstanschauen in diesem Handeln.

Die Natur der transzendentalen Betrachtungsart muß also überhaupt darin bestehen, daß in ihr auch das, was in allem andern Denken, Wissen oder Handeln das Bewußtsein flieht, und absolut nicht-objektiv ist, zum Bewußtsein gebracht, und objektiv wird, kurz, in einem beständigen sich-selbst-Objekt-Werden des Subjektiven.

Die transzendentale Kunst wird eben in der Fertigkeit bestehen, sich beständig in dieser Duplizität des Handelns und des Denkens zu erhalten.[19]

2

Erst durch die Vollendung des Systems der Transzendental-Philosophie wird man der Notwendigkeit einer Naturphilosophie, als ergänzender Wissenschaft, inne werden, und dann auch aufhören, an jene Forderungen zu machen, welche nur eine Naturphilosophie erfüllen kann.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 2, Leipzig 1907, S. 16-20.
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