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[210] Was können wir eigentlich von der Geschichte, also den politischen Schicksalen der Insel im 2. Jahrtausend wissen? Geschichte ist, was sich einmal ereignet hat, die einzelne Tat an bestimmtem Ort und zu bestimmter Stunde, die einzelne Persönlichkeit, die Bevölkerung, insofern sie als Stamm oder Staat oder sonstwie handelnd »in Form« war und in dieser Gestalt Geschichte machte oder erlitt, siegte, unterlag, entstand und verging. Höhere Geschichte ist der lebendig fortschreitende Ausdruck menschlichen Willens, von einzelnen oder einem »Wir«, mit-, neben- und gegeneinander, wie es in Art und tiefem Sinn der Waffen, auch der geistigen, dem Stil der Bewegung zu Lande und Wasser – rudernd, gehend, fahrend, reitend –, der Taktik des Krieges und ihrer Fortsetzung in politischen Verhandlungen und Verträgen zwischen den Kriegen, den Formen der Macht: Herrschaft, Recht, Ämter, Titel und Zeremoniell und darüber hinaus in den sehr verschiedenartigen Zielen des Machtwillens zutage tritt. Aber wir kennen keinen Namen und kein Ereignis aus dieser Zeit und müssen versuchen, das alles aus Bodenfunden zu erschließen. In gewissem Umfang ist das auch möglich, und das soll hier geschehen, aber es gibt Hindernisse, die aus der üblich gewordenen Behandlung der Funde stammen.

Hier muß einmal gegen die maßlose Überschätzung der Keramik gesprochen werden. Die Tontöpfe sind infolge der Massenhaftigkeit ihrer Reste ein allzu bequemes Mittel geworden, um den Hang der Forscher nach Ordnung und System zu befriedigen. Im Anfang des Zeitalters der Ausgrabungen waren sie ein wichtiges Hilfsmittel, um die aus andern Tatsachen gewußte oder geahnte Geschichte zu verdeutlichen. Heute sind sie eine Gefahr, weil sie als Grundlage dienen, um verschollene Geschichte zu rekonstruieren. Die Abzählung und Benennung der Fundschichten, das Vergleichen selbst vereinzelter Topfscherben tyrannisiert diese Art von »Geschichtsschreibung«, welche selbst nur etwas Ähnliches ist und sein will.

Wie alle bloßen Zweck- und Zierformen führen die Gefäße der einstigen Dörfer, so betrachtet, zu den schwersten Irrtümern, weil sie lediglich Ausdruck des privaten, alltäglichen Daseins[210] von Leib und Seele1 sind und nicht der öffentlichen Mächte des geschichtlichen Wirkens.

Der Ausdruck Kamareszeit2 hat nicht einmal die umfassende Bedeutung des Wortes Rokoko, das den gesamten Lebensstil eines Zeitalters bezeichnet von Tracht, Wohnweise, gesellschaftlicher Sitte bis zu den höchsten Formen des Denkens, der Weltanschauung, der Kunst und großen Politik. Es ist vielmehr so, als wollte man das 18. Jahrhundert als Porzellanzeit und das große attische Jahrhundert vom Sturz der Peisistratiden bis zum Peloponnesischen Krieg als Zeit der rotfigurigen Vasen abtun. Was würde herauskommen, wenn wir von den geschichtlichen Tatsachen nichts wüßten und sie nach »prähistorischer« Methode allein aus diesen Arten von Keramik, ihrem Aufstieg und Verfall erschließen wollen? Dann hätten die Chinesen seit 1700 von der Elbe aus Westeuropa erobert und die Fayencevölker von Delft und Faenza unterworfen oder vertrieben, bis von England her das Wedgwoodvolk, die Nachkommen der Etrusker, ihnen die Herrschaft entriß. Der Beginn der Kamareszeit wird viel eher durch den Bau der großen »Paläste« bezeichnet, nicht einmal durch deren Stil, sondern durch die Tatsache und den Sinn dieser gewaltigen Anlagen.

Oder bildet man sich ein, die Normannen hätten nach der Eroberung Englands und Siziliens, oder die Makedonen Alexanders in Baktrien und am Indus eifrig Töpfe fabriziert? Oder die Soldaten Napoleons, als sie in halb Europa die Herren waren? Waffenschmiede hatten sie mitgenommen, aber nicht Töpfermeister. Wenn in Gallien »römische« Töpferware erscheint, so geschah das viele Jahrzehnte nach der Eroberung durch Cäsar, als römische[211] Handwerker einzuwandern begannen. Aus dem mitgebrachten Formenschatz läßt sich nicht im geringsten die politische Geschichte des vorhergehenden Zeitalters der Kämpfe um die Weltherrschaft ablesen. Wie spiegelt sich denn der Untergang Karthagos oder die Zeit der Kreuzzüge in der Keramik? Gar nicht! Es ist Unfug, wenn man die »Einwanderung« der Etrusker in Mittelitalien aus dem Auftreten der Buccheroware ermitteln will oder die gesamte Fundmasse Italiens nach den literarisch zufällig erhaltenen umbro-sabellischen, latinischen und etruskischen Sprachen aufzuteilen sucht. Und es ist ergötzlich zu sehen, wie in Palästina nach der »Philisterkeramik« gesucht und bald diese, bald jene Art von Töpfen mit diesem Namen belegt wird. Wirkliche Geschichte spielt sich unter politischen Einheiten ab, unter Stämmen, Staaten, Kriegerschwärmen, und nicht zwischen Sprachgruppen oder kunstgewerblichen Bezirken. Flexions- und Gefäßformen sind gleich irreführend, wenn man sie nicht als Elemente eines viel größeren Ganzen beurteilt. Beide verbreiten sich oder verschwinden auf Grund politischer Schicksale. Die hethitische Herrenschicht und die Sprache des Archivs von Boghazköi sind zweierlei, und ebenso die Burgen von Tiryns und Mykene und die peloponnesische Keramik ihrer Zeit. Man kann heute noch in nicht sehr alten Geschichtswerken nachlesen, wie sich eine platte fachwissenschaftliche Fantasie die Geschichte Kleinasiens auf Grund von Namen, Endungen und Töpfen vorstellte, bis die Urkunden von Boghazköi diese philologischen und archäologischen Nebel zerstreuten und ein vollkommen unerwartetes Bild wirklicher Geschichte hervorzauberten.

Wenn jedes »Volk« durch eine besondere Art von Töpfen bezeichnet wäre, dann wüßten wir unendlich viel mehr über die Geschichte des 2. Jahrtausends und würden nicht trotz der Haufen von Scherben in allen Museen im Dunklen tappen. Aber die politische Grenze eines Stammes oder Staates wird nie durch die Verbreitung des Formenschatzes einer Gruppe von Handwerkern bezeichnet, weder von Schmieden noch von Teppichwebern und noch viel weniger von Töpfern. Es gibt zahllose Möglichkeiten großer Geschichte ohne die geringste Änderung in der Keramik. Das Auf und Ab des assyrischen Staates, das Weltreich der Perserkönige,[212] die gewaltigen Umwälzungen durch die Kassiten- und Hyksosstämme haben nichts mit irgendwelchen »zugehörigen« Gefäßarten zu tun.

Sind die Kamaresbauten in Knossos und Phaistos gleichzeitig oder im Abstand von Generationen entstanden, aus dem Willen eines Stammes oder dem Gegensatz von zweien heraus? Und die Kämpfe »um 1600«, in denen beide zerstört wurden, vielleicht wieder nicht in demselben Jahr oder Jahrzehnt? Haben sich da die unterworfenen Stämme der Eingeborenen gegen die Herren aufgelehnt oder diese gegen eine allzumächtige Priesterschaft? Wir wissen, daß die Priester von Delphi beim Zug des Xerxes gegen die griechischen Staaten Partei ergriffen und ebenso die Priesterschaft von Pessinus, obwohl sie z.T. aus galatischen Geschlechtern stammte, gegen den galatischen Staat und für die Römer.3 Es ist der ewige Gegensatz zwischen weltlicher und geistlicher Macht, wie er in Ägypten bei der Auflehnung gegen Echnaton und in Babylon beim Sturze Naboneds in Erscheinung trat und selbstverständlich in beiden Hochkulturen von Anfang an bestand und bei vielen Ereignissen eine Rolle spielte, von der wir nichts mehr wissen.

Da die »Paläste« damals wieder aufgebaut wurden, und zwar offenbar mit der gleichen Bestimmung und annähernd im alten Stil, so muß oder kann eine Macht wenigstens auf der Höhe geblieben sein. Waren es die Kafti, die dann schon früher Seeherren in Knossos gewesen wären und jetzt etwa die konkurrierende Gruppe von Phaistos sich unterwarfen oder einverleibten? Dann wäre das der Entscheidungskampf um die Seegeltung und die Macht auf der Insel gewesen. Oder handelt es sich um Matrosen- und Söldneraufstände unter einem begabten Führer, vielleicht mit offener oder geheimer Unterstützung fremder Häuptlinge etwa im Peloponnes, in Westkleinasien, auf Kypros, oder eines Hyksoskönigs im Nildelta? Um den Versuch neuer Stämme aus »Tarschisch«, dort Fuß zu fassen? Um eine Spaltung unter den Kafti selbst? Sollen Entscheidungen dieser Art, wie sie immer und überall in der Geschichte vorkommen, sich aus Topf formen ablesen lassen?[213]

Wer stellte denn die Tonware her? Man hat gesagt: Jedes Volk macht sich seine Töpfe selbst, aber das ist nicht wahr. Bei sehr zurückgebliebenen Stämmen, wie sie vom 3. Jahrtausend her in abgelegenen und unfruchtbaren Teilen der Insel noch saßen, mögen Bauern und Hirten und ihre Weiber am offenen Feuer Töpfe gebrannt haben, aber sie waren danach. In jedem irgendwie höher entwickelten Dorf aber saß ein Töpfer, der den Brennofen und – vielfach schon im 3. Jahrtausend – die Drehscheibe zu bedienen verstand und der sehr häufig aus der Fremde gekommen sein wird, um sein Handwerk auszuüben, etwa ein Kriegsgefangener, dessen Geschicklichkeit man sich zunutze machte. Man kann aus Massen von ganz rohem Geschirr auf das Schicksal einer sehr primitiven Bevölkerung schließen. Wo es aufhört, da sind oft die Bewohner ganzer Dorf er verschleppt, geflohen oder erschlagen worden. Aber daß sich der »Stil« solcher Gefäße geändert haben sollte, weil die politische Herrschaft an ihrem entlegenen Standort die Inhaber gewechselt hat, ist eine törichte Annahme.

Wenn irgendwie anspruchsvollere, durchdachtere Gefäßformen und Verzierungen auftauchen, dann handelt es sich mit Sicherheit um die Produktion von Werkstätten. Töpfern ist schon in den frühesten Zeiten ein Handwerk gewesen, vielleicht das erste ausgesprochene Handwerk überhaupt. Es setzte angebornes Geschick, Übung und den Besitz von Geräten voraus, die nicht jeder haben konnte, und wer hier eine Art von Überlegenheit erlangte, der hatte bald für andere genug zu tun und brauchte nicht mehr das Vieh zu hüten. Feinheiten und Kunstgriffe in der Mischung des Tons, beim Brennen, beim Herstellen und Auftragen der Farbe vererbten sich als wohlgehütete Geheimnisse in den Töpferfamilien fort, wie etwa die Farbenbereitung und ornamentalen Muster bei persischen Teppichwebern, eine Tradition, welche die abendländische Chemie nur zerstören, aber nicht verstehen und fortentwickeln konnte. Und ganz ebenso bestand eine Werkstättentradition der Gefäßformen und -verzierung. Bewährten sie sich, kamen sie in Mode, so wurden sie weithin verbreitet und nachgeahmt.4 Was als Keramik eines »Volkes« erscheint,[214] ist oft weiter nichts als das Erzeugnis einer einzigen bedeutenden Werkstatt oder eines Töpferdorfes, wo sich die Leistungen bis zur Meisterschaft, bis zu einer wirklichen Kunst gesteigert haben. So war es in Athen, in China seit der Sungzeit, in den Porzellanmanufakturen des 18. Jahrhunderts, und so ist es auch auf Kreta gewesen. Gerade die Prunkgefäße der Kaftizeit sind sehr persönliche Schöpfungen, oft bizarre Einfälle einer echten Künstlerlaune, wie sie zum Geschmack einer seefahrenden Kaufmannschaft gehören, der sich auf weiten Reisen herangebildet hat. Das gibt viel später auch dem jonischen, phönikischen und etruskischen Kunsthandwerk seit dem 8. Jahrhundert den exotischen Reiz: Motive aus allen fernen und fremden Ländern, die zu einer Einheit des Luxus, nicht der weltanschaulichen Tiefe verschmolzen sind.

Und vor allem noch eins: Brauchbaren Ton gab es nicht überall. Es ist sinnlos, wenn man annimmt, die rohe Tonerde sei weithin verschickt worden. Die fertige Ware wurde verhandelt, die aus Töpferdörfern bei guten Tonlagern stammte. Töpfern ist wie Schmieden sehr oft an die Stelle gebunden, wo der Rohstoff vorkommt. Da siedeln sich fremde Handwerker an; da führen Ehrgeiz und Eifersucht,5 die wechselseitige Steigerung der Technik und der künstlerischen Durchbildung zu Leistungen, die einzelnen Handwerkern in Bauerndörfern ganz unerreichbar sind. Von der späteren Mingdynastie bis auf Kang Hsi und Yung Tscheng wurde die weit überwiegende Masse des gesamten chinesischen Porzellans in Tsching-te-tschen hergestellt, wo zeitweise 300 Öfen in Tätigkeit waren. Die große Bewegung in der damaligen Formensprache beruht also nicht auf einem »Bruch« oder »Wechsel« in der Bevölkerung Chinas – um die leeren Schlagworte der Prähistoriker zu gebrauchen –, sondern auf Gründung, Blüte und Verfall einzelner Werkstätten. So muß es auch in der Kamares- und Kaftizeit gewesen sein. Die gesamte[215] Ware dieser Jahrhunderte kann aus einer oder wenigen Siedlungen stammen, deren Ort sich durch Feststellung der Tonlager vielleicht noch ermitteln ließe.

Wie würde die antike Geschichte aussehen, wenn man von Vasengattungen auf Völker schließen und deren Verbreitung als Zeichen von politischer Macht werten wollte! Es ist auch ein großer Unterschied, ob die Gefäße etwa zum Versand von Öl oder Wein oder zum Gebrauch der Matrosen selbst dienten und dann am Ankunftsort von der niederen Bevölkerung – wie immer und überall – zu anderen Zwecken in Masse verbraucht wurden, oder ob sie um ihrer selbst willen Gegenstände des Fernhandels waren. Von der Ausbreitung von »Völkern« kann weder im einen noch im andern Falle die Rede sein, sonst müßten heute Weinflaschen und Konservenbüchsen ein seltsames Bild der nationalen Grenzen ergeben. Aber auf die Seegeltung einzelner Mächte oder die Beherrschung der Überlandwege werfen die Gefäße, wenn sie in genügender Menge erhalten sind und wenn man sie nach Art und Zweck vorsichtig betrachtet, unter Umständen ein helles Licht.

Und darüber hinaus sind Form und Schmuck der Gefäße in diesen Jahrtausenden, sobald sie sich über den bloßen Zweck und über spielerische Verzierung erheben, im eurasischen Norden sehr oft ein ungewollter starker Ausdruck des Weltgefühls. Es ist ein Fehler, Einzelheiten der Topfform, etwa Hals oder Henkel, »wandern« zu lassen und ebenso Einzelzüge des Motivschatzes, der Farbengebung, des ornamentalen Ordnungsprinzips, von denen jedes für sich hier und dort unabhängig entstanden sein kann. Man darf sich nur in die Gesamtphysiognomie der höheren Formgebung einleben, und wenn das Material nicht reichlich genug ist, dann muß man verzichten. Vergleicht man aber die Gesamtheit der keramischen Funde von der mittleren Donau bis nach Korea hin, dann ergibt sich ohne allen Zweifel eine tiefinnerliche Verwandtschaft über alle Rassen, Sprachen und Volksgebilde hinweg. Wir müssen uns endlich daran gewöhnen, hier in den frühgeschichtlichen Jahrtausenden eine gewaltige Einheit der Weltanschauung zu sehen, wie eine andere im Westen im Gebiet der steinernen Grabwohnungen und[216] des Glaubens an ein Leben im Jenseits von Irland bis Ägypten hin bestanden hat, und zwar im Gegensatz zu dieser.

Von Tripolje und Petreny in Südrußland und Cucuteni an der unteren Donau bis nach den Fundstätten Anderssons in Nordchina und der Mandschurei ist gegen Mitte oder Ende des 3. Jahrtausends aus noch älteren Ausdruckselementen eine großartige Gefälßmalerei entstanden, nicht etwa eine Kunst für sich, sondern der infolge des harten Materials allein erhaltene Rest eines allgemeinen ornamentalen Ausdrucks, der sich notwendig auf alle Werke des Lebens erstreckt haben muß, auf Holzhäuser, Zelte, Wagen, Waffen, Webereien und vor allem, vielleicht zuerst, auf Schmuck und Tracht des eigenen Körpers. Wahrscheinlich bieten die Töpfe nur einen Abglanz jenes Willens zur Versinnlichung des Weltgefühls, dessen Schwerpunkt in der bedeutungsvollen Verzierung des Leibes und des Hauses lag. Es kommt auch nicht auf die bloße Tatsache der mehrfarbigen Malerei an, die nur ein technisches Verfahren ist, das sich an verschiedenen Stellen der Erde unabhängig entwickelt hat – wie in Peru – und das in Nordeurasien vielfach zugunsten der Ritzzeichnung zurücktritt oder ganz fehlt. Das Einzigartige ist der bedeutungsschwere Ausdruck metaphysischen Ahnens in der unwillkürlichen Führung, Ordnung und Verteilung der spiralig und wellenförmig bewegten Liniengebilde. Nicht das sinnfällige Ergebnis, also das einzelne Motiv ist es, nicht einmal der »Stil« am einzelnen Orte und während einer Reihe von Generationen, sondern der Geist dieser Gestaltgebung, der die unzähligen Sonderarten des Ausdrucks durch Jahrtausende hin als eine tiefe Einheit zusammenfaßt. Hier im hohen halbwinterlichen Norden, wo der einzelne Mensch sich im harten Kampf gegen die Natur verinnerlicht, verselbständigt, und nicht wie in den tropischen Landschaften des Südens in ihrer Fülle sich seelisch löst, hier, wo er von Kindheit an immer mehr in sich vereinsamt und seelischen Eigenwuchs erhält, ist ihm das abstrakte, bewegliche, jeder persönlichen Stimmung nachgebende Ornament mehr als bloß ausfüllende Verzierung. Es stellt das Wesen der Welt dar. Es spricht ihm den erfühlten Sinn des schützenden Daches, des tragenden Balkens aus, am eigenen Körper den Sinn der Teile[217] und Glieder, am Gefäß den Sinn der Höhlung und Standfläche, am Werkzeug dessen innere »Macht«; es erhebt den unlebendigen Gegenstand zu einem beseelten Wesen, das in späteren Zeiten oft genug einen Namen erhält wie das Schwert und das Schiff.

Der alte Westen kennt kein Ornament dieser Art und Tiefe. Er füllt nur kahle Flächen mit Stricheleien aus. Für ihn ist der höhere Ausdruck stets imitativ6 und plastisch, wie es dem Geist der lichterfüllten Landschaft entspricht, die keine Nebel und Probleme kennt, keine düsteren Tage und endlosen Nächte. Hier herrscht die klare Form der steinernen Totenwohnung, der deutliche Weg zu ihr durch gedeckte Gänge oder Sphinxalleen, der Menhir und der »aufgebaute« Leib der ägyptischen Statue, die in ewiger Ruhe steht, sitzt oder liegt, und endlich das figürliche begleitende Wandbild, das nicht den Sinn des Lebens geheimnisvoll andeutet, sondern das Leben selbst in seiner satten Fülle malt.

Das ist der Unterschied zwischen den beiden Möglichkeiten künstlerischer Gestaltung, der ornamentalen und imitativen, von der einzelnen Seele aus zur Welt oder von der allgemeinen Welt aus zur Seele; und dahinter steht der abgrundtiefe Unterschied zweier jahrtausendealten Weltanschauungen: der nordischen, die in der Natur unpersönliche, gestaltlose, ungreifbare, unerbittliche Mächte wirken fühlt, und der des Westens, die menschen- und tiergestaltige Götterwesen sieht und als Handelnde zu gewinnen oder abzuwehren sucht. Es ist der letzte Gegensatz zwischen Pantheismus und Polytheismus, von namenlosem Schicksal und benanntem Einzelgott. Der spanische Glaube an die Madonna und der germanische an Thor sind dem Wesen nach verschiedene Arten des »Glaubens«. Thor und Frau Holle waren Sinnbilder für Naturgewalten, Gewitter und sommerliches Waldweben, keine Personen, keine Gestalten. Man lasse sich durch Sage und Märchen nicht irremachen. Das ist etwas anderes als Theologie: Das nordische Märchen verdeutlicht ein Gefühl, das westliche Dogma begrenzt göttliche Figuren. Der »tien« (Himmel) des Konfuzius und die »Gottheit« der Vorsokratiker und deutschen Mystiker waren keine Göttergestalten.[218]

Und deshalb verirrt sich das weltanschauliche Ornament Nordeurasiens nie bis zur plastischen Imitation.

Im letzten vorchristlichen Jahrtausend ging das bewegte Spiralornament in dem ganzen weiten Gebiet in das Tierornament über, das im Osten die Formgebung der chinesischen Hochkultur vollkommen beherrscht hat: es sind jetzt genug sichere Stücke aus der Dschou- und Hanzeit bekannt, und es ist mir nicht im geringsten zweifelhaft, daß die bedeutende Landschaftsmalerei dieser Zeit, die wir nur durch Beschreibungen kennen, sich aus der Ornamentik der Haus- und Zeltwände entwickelt hat. Noch in der nachchristlichen Malerei beweist es die Behandlung der Wolken, Wellen und Laubmassen. Weiter westlich gehören die Ordosbronzen, die Luristan- und Kaukasusbronzen, die sibirische, skythische und sarmatische Kunst dazu, im äußersten Westen viele Elemente der Hallstattzeit und der etruskischen7 Kunst, und endlich der keltisch-awarisch-germanische8 Tierstil vor und nach der Völkerwanderung. Hier ist nirgends die plastische Nachahmung bestimmter Tierkörper angestrebt worden. Immer war die »Bewegtheit« selbst das Thema, das »Weben« in der nordischen Umwelt, das sich in den ornamentalen Ranken zu Köpfen, Beinen, Schwänzen, Flügeln, Krallen verdeutlicht. Wir nennen das fantastisch, aber es ist für die damaligen Künstler selbst nichts anderes als das Ergebnis eines metaphysischen Tiefblicks in die lebendige Natur und ihre Mächte. Zum letztenmal erlebt diese beseelte Ornamentik eine Blütezeit in der gotischen Kathedralplastik, wo sie Wände, Pfeiler und Portale umschlingt und durchdringt und selbst menschliche Gestalten mit ihren Gewändern sich einverleibt. Sie fügen sich durchaus der Architektur ein, die im Grunde nichts anderes als Ornament ist und sein will.

Es versteht sich von selbst, daß in diesem gewaltigen Umkreis von Formen im Ablauf von Jahrtausenden sich sehr verschiedene Fassungen dieser Weltanschauung spiegeln, verschiedene Rassen, Traditionen, Persönlichkeiten, und daß in den einzelnen Werkstätten der Töpfer, Schmiede und Weber sehr ausgeprägte Geschmacksrichtungen herangebildet worden sind. Die innere Einheit[219] besteht trotzdem. Ob gerade die Tongefäße daran teilhaben oder nicht, und in welcher Art und Intensität, das hängt vom Zufall ab, davon, welchen Rang die Gefäße in der Kultur des Hauses einnehmen, inwieweit sie Luxusgegenstände sind, und vor allem davon, ob Werkstätten entstanden, welche den Ehrgeiz künstlerischer Leistung entwickeln konnten.

Aus diesem frühgeschichtlichen Bereich sind infolge kriegerischer Bewegungen, die immer wieder von Mittelasien nach allen Seiten ausgingen, fortgesetzt einzelne Stämme und ganze Schwärme von solchen, versprengte Trümmer, einzelne Sippen und Kriegertrupps nach Süden gezogen, erobernd oder fliehend. Der Typus des Landnomaden entstand, der dem Seenomaden der atlantischen Küste entspricht. Was im Osten und in der Mitte geschah, soll hier nicht erwogen werden; aber im fernen Westen wurde um 2000 die Welt der Tripoljestämme durch den Ansturm der »Okergräbervölker« vernichtet.9 Es war wie später beim Einbruch der Skythen und der mit ihnen vorstoßenden Völkerschaften, der meiner Überzeugung nach die keltische Völkerwanderung zur Folge hatte, und noch später beim Erscheinen der Hunnen, von denen die germanische ausging: auch um 2000 müssen ganze Wolken von kleinen Stämmen aufgescheucht und in Bewegung gesetzt worden sein, um nicht wie viele andere zersprengt und vernichtet zu werden. Es muß dabei, wie ich oben gezeigt habe, mit der sehr geringen Menschenzahl der Zeit gerechnet werden. Solche Trupps von 10 bis 1000 Köpfen – mehr werden es sehr selten gewesen sein – sind vielfach in den menschenleeren Wäldern, Sümpfen und Gebirgen zu grunde gegangen. Sie hatten mehr gegen die Natur als gegen seßhafte Menschen zu kämpfen, die damals leicht entschlossen waren zu fliehen oder mitzugehen. Wir finden solche Eroberer oder Flüchtlinge in Thessalien, wo es der Gegensatz zwischen Sesklo- und Diministil beweist, und andere bis in den Peloponnes hinein. Aber Spuren südrussischer Ornamentik finden sich selbst in Unteritalien, auf Malta und auf Kreta zur Kamareszeit,10 und in solchen[220] Fällen muß damit gerechnet werden, daß einzelne Handwerker als Auswanderer, Flüchtlinge oder Gefangene dorthin gelangt sind.

Ohne Zweifel ist das in Kreta der Fall gewesen, wo in der Formensprache der Kamareszeit, die sonst durchaus das Gepräge des westlichen Weltgefühls trägt und enge Zusammenhänge mit Sardinien, Ostsizilien, Malta, viel weniger mit Ägypten zeigt, deutlich nordische Elemente hervortreten. Es handelt sich selbstverständlich nicht um das Eindringen von ganzen Stämmen, sondern um einzelne Töpfer oder von ihnen begründete und beeinflußte Werkstätten, deren Formenschatz manchmal nur unmerklich an südrussische Motive anklingt. Die Seefahrt hatte sich um 2000, wie ich noch zeigen werde, schon längst ins Schwarze Meer vorgewagt, und sicherlich sind von dort und von den adriatischen Küsten auch Menschen geraubt worden, nicht nur gepreßte Rudersklaven und schöne Weiber, sondern auch gelegentlich tüchtige Handwerker, die man zu Hause für sich arbeiten ließ ... Das alles erscheint nur in Ungewissen Umrissen, aber mehr läßt sich an wirklich geschichtlichen Tatsachen aus der Keramik nun einmal nicht erschließen.

1

Die Gefäßformen z.B. auch der zur Gewohnheit gewordenen Bewegung von Armen und Händen, der Körperhaltung, selbst der Körpergröße. Die Verzierung ist oft nur Zeichen eines vom Zweck erlösten Spieltriebs, selbst der Langeweile. Außerdem sind Gefäßform und Verzierung – gewissermaßen »Rasse« und »Geist« – zweierlei und haben jede für sich ihre besonderen Schicksale. Oft geht ein neuer »Stil« über die gleichbleibenden Topf formen hinweg und noch häufiger ändern sich diese, während die ornamentale Sprache bleibt.

2

Nach der Höhle benannt, in der zuerst solche Töpfe gefunden wurden.

3

Stähelin, Geschichte der kleinasiatischen Galater (1907) S. 54.

4

Die »unechte« Kamaresware erst des 16. Jahrhunderts, die sich weithin im Peloponnes findet – echte, also alte, ist überhaupt nicht dorthin gekommen –, kann sehr wohl aus einer einzigen Werkstatt eines ausgewanderten oder geflohenen Kaftimeisters stammen (Reall. d. Vorgesch. XIV S. 52).

5

Man lese doch nach, wie sich die Porzellanfabriken des 18. Jahrhunderts gegenseitig ihre Meister abspenstig zu machen suchten.

6

Über Imitation und Ornament Unterg. d. Abendl. I Kap. III § 8.

7

Rostovtzeff, Le centre de l'Asie (1929) S. 39.

8

Koch, Oseberg und Luristan (1931) II S. 17.

9

Reall. d. Vorgesch. XIII S. 49 f.

10

Sogar in Ägypten seit der 12. Dynastie. Dazugehören die Knopfsiegel mit Spiralornamenten, die in China und der Ukraine viel früher vorkommen.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 210-221.
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