8

[221] Viel wichtiger ist etwas Negatives, das in seiner vollen Bedeutung nie beachtet worden ist. In der Gesamtmasse der kretischen Funde fehlt jede Andeutung von historischem, politischem und selbst biographischem Bewußtsein, wie es gerade den Menschen der ägyptischen Kultur von den frühesten Zeiten des Alten Reiches an vollkommen beherrscht hat.

Es fehlt das durch Inschrift als solches bezeichnete1 Bildnis von Personen, die im öffentlichen Leben Bedeutung hatten, und[221] von Einzelpersonen überhaupt, sei es als Statue, Relief, auf Siegeln, Vasen, Geräten oder auf Wandgemälden in Häusern und Gräbern. Es sind genügend Wand- und Vasenbilder erhalten, um zu sehen, daß sie sämtlich ohne Inschrift waren. Aber gerade die Beischrift, gleichviel welchen Inhalts, verwandelt auch szenische Darstellungen aus Genrebildern in Bilder bestimmter einmaliger, also historischer oder biographischer Ereignisse.2

Es fehlt überhaupt die Verwendung der minoischen Schriftarten zu monumentalen Zwecken, selbst eine monumentale Form dieser Schriften. Sie sind von Anfang an rein privat und kursiv, obwohl das ägyptische Vorbild sehr deutlich ist. Keine Wand, kein Portal, kein Grab zeigt etwa dergleichen, wieder im stärksten Gegensatz zu Ägypten und trotz der engen, auch politischen Beziehungen zu diesem Staat seit dem 16. Jahrhundert. Eines Tages wird man wahrscheinlich auch wissen, daß die Tontafeln, auf welche die Historiker so große Hoffnungen setzen, nichts oder wenig anderes enthalten als Rechnungen, Geschäftsverträge und allenfalls Rituale.

Es fehlt auf den zahlreichen Freskogemälden der Kaftizeit und den von ihr abhängigen Prunkvasen jede Andeutung eines politischen Ereignisses: einer Schlacht, Begrüßung, Unterwerfung, Belohnung, Bestrafung, Darbringung von Tributen und, was am meisten in Erstaunen setzt, jede Szene aus dem Leben der Seefahrer, während am Nil so gut wie alle Gräber, Heiligtümer und Paläste damit geschmückt sind. Was dargestellt wird, ist entweder kultischer Art wie die Stierkämpfe mit der zuschauenden »Gemeinde«, Opferhandlungen und Prozessionen, oder es sind Idyllen: Blumengefilde, ruhende, spielende, säugende, die Beute beschleichende Landtiere, erstaunlich gut gesehene Seetiere zwischen Tang und Klippen, krokuspflückende Knaben, kurz: das[222] selige Leben in Elysion. Und darin beruht allein die Ähnlichkeit mit vielen ägyptischen Grabfresken, die dasselbe wollen, nämlich das Leben des Toten im Jenseits schildern.

Also nichts von »Königspalast« und »Staat«! Die Symbolik der Königstracht, die sich von Ägypten aus an den assyrischen, hethitischen und später den chaldischen und persischen Hof verbreitet hat, die geflügelte Sonnenscheibe vor allem, fehlt hier. Wäre Knossos Residenz gewesen wie Theben, Babylon, Ninive, so würden die Räume des »Palastes« ganz anders aussehen und die Kunst hätte ganz andere Aufgaben gehabt.

Der Ausdruck »Palast des Minos«, den Evans in allzu enger Anlehnung an hellenische Vorstellungen berühmt gemacht hat, verschleiert vollkommen den Blick für gewisse geschichtliche Tatsachen. Man sieht nur Knossos, und zwar als den politischen Mittelpunkt der Insel, nur einen Königssitz, nur ein »Reich«, und man verwechselt das, was wirklich gefunden wurde, mit der Einrichtung eines vornehmen englischen Landsitzes im 20. Jahrhundert.3 Darüber wurde einiges Wichtige übersehen. Knossos lag wie Phaistos einsam in der Ebene. Von einer »Stadt« ist keine Rede. Wenn es vornehme Wohnsitze wichtiger Persönlichkeiten gab, so waren es die Gebäude in Tylissos, Mallia, Hagia Triada, der »kleine Palast« und die »königliche Villa«, deren Anlage und Raumverteilung ganz anders sind. In Knossos und Phaistos fehlen die Säle, die zur Ausübung damaliger Herrscherpflichten notwendig gewesen wären. Die Räume sind klein und eng wie Mönchszellen. Und alle größeren Küstenplätze haben auf der Ostspitze der Insel gelegen.

Die »Prunkgemächer« sind ganz offenbar Kulträume. Was die späteren jonischen Dichter unter ἀσάμινθος verstanden, die »Badewanne« nämlich – über das Wort wird noch zu reden sein – besagt noch nichts darüber, was hier gebadet wurde, wie und warum. Auch in der römischen Kaiserzeit sind Badewannen und Sarkophage oft nicht zu unterscheiden und sind oft genug das eine für das andere verwendet worden. Und ebensowenig[223] wissen wir, ich hatte es schon gesagt, wer oder was auf dem »Thron des Minos« saß. In ägyptischen Inschriften ist immer nur von den »Großen der Kafti« die Rede, also offenbar einem Kollegium von Priestern oder Kaufleuten, dessen Sitz wohl Knossos (und Phaistos) gewesen ist, wie das abseits liegende Heiligtum des Poseidon Helikonios der des Bundes des jonischen kaufmännischen Patriziats. Deshalb kann trotzdem der Schwerpunkt der Seemacht wie in Jonien anderswo gelegen haben, nämlich im äußersten Osten der Insel. Hätte es einen »König von Kreta« gegeben – oder zwei –, dann würden die in staatsrechtlichen Dingen doch sehr erfahrenen ägyptischen Schreiber sich anders ausgedrückt haben.

Das alles ist sehr wenig, aber ich glaube nicht, daß die Tontafeln, wenn ihre Entzifferung gelingen sollte, das politisch-geschichtliche Bild wesentlich verdeutlichen würden. Eins indessen scheint mir doch sicher zu sein: wie in der Kamareszeit die Keramik, von den erwähnten nordischen Spuren abgesehen, viel weniger durch Ägypten bestimmt ist als vom fernen Westen, von »Tarschisch«, also etwa von Sardinien, Ostsizilien, Apulien, Malta, Tunis her, so ist auch in der Kaftizeit trotz des mächtigen Eindrucks der ägyptischen Weltzivilisation, dem sich niemand entziehen konnte, und trotz der grundsätzlichen Verwandtschaft der religiösen Anschauungen, der Lebensstil im Grunde unägyptisch gewesen. Und das weist darauf hin, daß sowohl die Herren der Kamareszeit als die Kafti eher aus dem Bereich des fernen westlichen Mittelmeeres als etwa aus Libyen stammten.

Das sind mehr Fragen als Antworten zur Geschichte der Insel, aber ich glaube, daß die notwendigen Fragen hier wenigstens deutlicher geworden sind und daß viele andere, weil sie falsch gesehen oder gestellt wurden, in Zukunft verschwinden werden.

Im 3. Jahrtausend, als die Bevölkerung der Insel bei weitem noch nicht 50000 Menschen umfaßt haben kann, vielleicht nicht mehr als 10000, gab es unter den winzigen Stämmen, die hier und dort saßen, sicherlich auch solche, die wie auf Kypros mit andern in Westkleinasien irgendwie verwandt waren. Darauf weisen die später ins Innere verdrängten Gebirgskulte hin, und noch deutlicher die Tatsache, daß damals an der Ostspitze kleine[224] Hafenorte wie Mochlos und Pseira lagen, in denen die Funde Beziehungen zu Ägypten verraten, also einen Seeverkehr, der selbstverständlich über Byblos und an der Küste Südkleinasiens entlang ging. Sie sind gegen Ende des Jahrtausends verlassen oder zerstört worden. Das kann auf politische Umwälzungen in Westkleinasien deuten – auch die Piratenburg von Troja II ist in dieser Zeit zugrunde gegangen – und dann also auf ein Weiterwirken der eben erwähnten Katastrophe der Tripoljekultur bis in diese Gegend. Es kann aber auch die Folge der Landung westlicher Stämme bei Phaistos und Knossos gewesen sein, die dort die Kuppelbauten als Sippengrüfte der herrschenden Schicht und hier die Nuraghen unter dem »Palast«4 hinterlassen haben, wie drüben in Tiryns den großen Rundbau. Es scheint, daß damals die Verbindung mit Kleinasien auf lange Zeit unterbrochen worden ist. Brachten diese Eroberer Sprachen mit, die sich länger erhalten haben? Gehört das »Protohattische« der Boghazköiurkunden, das mit keiner bekannten nordeurasischen Sprachgruppe zusammenhängt, vielleicht zu einer sonst ganz verschollenen Familie westlicher oder nordafrikanischer Herkunft? Es wäre in diesem Falle durch spätere politische Schicksale dorthin verschlagen worden, wo es Teile der Bevölkerung zur Zeit des jüngeren Hethiterreiches noch redeten. Hatten die kleinasiatischen Kulte der Muttergöttin denselben Ursprung im Westen und in diesem Jahrtausend? In die Welt nordeurasischer Religiosität passen sie jedenfalls nicht.

Sicherlich sind eben damals die großen Seewege aus dem westlichen Mittelmeer in die nördliche Adria und nach der südrussischen Küste entdeckt und gelegentlich befahren worden. Es waren ohne Zweifel kleine Schwärme verwegenster Abenteurer, echte Piraten, die das wagten. Sie haben hier und dort befestigte Stützpunkte angelegt wie das wichtige Troja II, das die Meerenge sperrte, vielleicht auch einige Emporien in der Nähe der großen Flußmündungen vom Don bis zur Donau, aber zur dauernden[225] Ansiedlung von Stämmen noch so kleinen Umfangs ist es wohl selten gekommen. Zu erkennen ist ihre Anwesenheit und ihre Herkunft aus den Funden an der ostadriatischen Küste (Vinça) und in den Grabhügeln Ostbulgariens: Muschelringe, rohe Keramik von westlichen Typen, vor allem den zahlreichen primitiven weiblichen Stein- und Tonstatuetten kultischer Bedeutung, die von Spanien, Sardinien, Sizilien, und Malta her überall die damaligen Seewege deutlich bezeichnen und mit den Kulten der Muttergöttin des alten Westens zusammenhängen. Es ist deshalb selbstverständlich, daß sie sich auch in den ältesten Schichten auf Kreta und den Kykladen in Menge finden.

Diese in der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends vorherrschende Bewegungstendenz wird in der zweiten Hälfte durchkreuzt von der andern, binnenländischen der nordeurasischen Nomaden, die unter anderm die Straßen von der Donaumündung und von Istrien zum Peloponnes für immer gebahnt haben. Ihre Züge oder doch das Schicksal einzelner Flüchtlinge wird durch die mehr oder minder deutliche Wirkung der Spiralornamentik bis nach Malta und Kreta hin bezeugt.

Aber »um 2000« wurde die sehr entwickelte Kultur von Malta völlig vernichtet – sind die Stämme ausgerottet worden oder geflohen? – und etwa gleichzeitig beginnt auf Kreta die Besetzung der beiden wichtigsten Punkte der Inselmitte durch stärkere westliche Stämme, die fortan ein dauerndes Element der Bevölkerung gebildet haben müssen. Stehen die beiden Ereignisse in irgendeinem Zusammenhang? Sind Reste der Maltastämme hierher gelangt? Handelt es sich um große Ereignisse, die noch viel weiter um sich gegriffen haben? Darüber werden wir nie etwas Sicheres erfahren. Aber ist die Gründung der Kamaresbauten an beiden Orten einheitlich oder im Gegensatz zueinander und in einem gewissen zeitlichen Abstand erfolgt? Ist der Stil des Kunsthandwerks hier und dort vollkommen identisch oder zeigen sich Stammesunterschiede? Man vergesse nicht, daß ein solcher Unterschied schon aus den vorauf gehenden Kuppelgräbern und Nuraghen sprach. Verrät die Bautechnik gewisse Züge der späteren kleinasiatischen Art, z.B. in Boghazköi? Dann wären die unterworfenen Vorgänger als Handwerker daran nicht unbeteiligt[226] gewesen. Wenigstens zeugt die primitive Keramik von deren weiterer Anwesenheit.

Jedenfalls wurden sie als Bauern und Hirten aus den fruchtbaren Teilen der Insel verdrängt und setzten eine armselige Lebensweise vor allem im Gebirge fort. Da die neuen Seestämme der Kamareszeit, welche die Mitte der Insel eroberten, wahrscheinlich wie später die Philister,5 Etrusker, Dorer und überhaupt fast alle Eroberertrupps in gleicher Lage zunächst nur aus Männern bestanden und mit den geraubten Weibern der unterlegenen Bevölkerung Kinder zeugten, so wird sich rassenmäßig und vielleicht auch sprachlich allmählich ihr Untergang vollzogen haben. Jedenfalls sind seit dem 12. Jahrhundert die Philister sehr schnell Kanaanäer und die Turscha Italiker geworden, aber die Organisation der Stämme, das In-Form-sein als bewaffnetes und herrschendes Volk, seine » Idee«, erhielt sich, und darauf kommt es geschichtlich an. Oder hat sich die Sprache der Kamaresleute durchgesetzt, weil sie durch eine eigene Schrift fixiert wurde?

Als dann »um 1600« die Kafti ihre Seemacht begründeten, war das Gebiet von Knossos und Phaistos sehr bald nicht mehr das wichtigste der Insel. Das ist überhaupt noch nicht beachtet worden. Die Kafti haben an der Ostspitze der Insel Mochlos und Pseira wieder aufgebaut, in Kato Zakro, Petras, Palaikastro und an anderen Orten bedeutende Küstenplätze angelegt, d.h. sie haben den Schwerpunkt ihrer Beziehungen in der Richtung auf Alaschia zu verlagert.6 Aber welche Bedeutung hatten dann die alten Sitze von Knossos und Phaistos für sie? War dort die Priesterschaft der vorhergehenden Zeit mächtig geblieben, aus religiösen Gründen gefürchtet und verschont, eine Macht für sich, der man etwa den Schutz der gemeinsamen Archive anvertraute? Sind beim Wiederaufbau der großen Heiligtümer[227] die erst jetzt entstehenden Herrenhäuser von Hagia Triada bei Phaistos und Tylissos bei Knossos zur Überwachung angelegt worden? In solchen Fragen liegt die eigentliche Geschichte der großen Umwälzung verborgen, die sich damals ereignet hat, aber sie lassen sich nicht beantworten.

1

Im ursprünglichen Gefühl frühgeschichtlicher Menschen und heute noch bei Kindern und einfachen Naturen wird die »Darstellung« eines Menschen erst durch die Beifügung des Namens vollzogen. Damit ist seine Person im Bilde »festgehalten«. Die Sicherheit des Wiedererkennens spielt vielfach überhaupt keine Rolle. Ähnlichkeit im Sinne künstlerischer Charakteristik ist immer ein vielumstrittenes Problem gewesen. Der darstellende Gegenstand brauchte nicht einmal Menschengestalt zu haben. Ein Steinblock, ein Holzpfahl, eine Puppe oder ein paar Striche an der Wand genügten, um durch den Namen das Wesen, ägyptisch den »ka«, des Namensträgers zu bannen, denn das Bildnis ist anfangs eine bannende Handlung, kein künstlerisches Werk gewesen. Die Kunst bemächtigt sich hier erst viel später einer neuen Möglichkeit des Ausdrucks, was durchaus nicht überall der Fall war.

2

»Eine Reiterschlacht« wird erst dadurch zur »Schlacht bei X«, »Eine Hochzeit« zur »Vermählung von Y«. Die Einzelheiten können dabei frei erfunden sein und sind es meist auch.

3

»Badezimmer der Königin!« Offenbar hatten Ihre Königlichen Hoheiten getrennte Schlaf- und Empfangsräume wie in einem Roman von Galsworthy.

4

Diese Bauten sind so verschieden voneinander, daß sie vielleicht auf die Herkunft der Stämme aus ganz getrennten Gegenden des westlichen Mittelmeeres hinweisen, der eine etwa aus Ostspanien oder Tunis, der andere vielleicht von Sardinien oder Apulien her.

5

Das bekannte ägyptische Bild, auf dem sie mit Ochsenkarren, Weibern und Kindern einherziehen, beweist natürlich nichts dagegen, daß diese Weiber geraubt sind.

6

Ob es westlich von Phaistos ähnliche Siedlungen gegeben hat, ist bis jetzt noch nicht ermittelt. Hinter dem Namen der Kydonen kann sich noch manches Geheimnis verbergen.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 221-228.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Reden und Aufsätze
Reden und Aufsätze

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Unsühnbar

Unsühnbar

Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

140 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon