§ 4. Die Begriffe des Seins.

  • [27] Literatur: BR. BAUCH, Das Substanzproblem in der griech. Philos. (Heidelberg 1910).

Die Tatsache der Verwandlung der Erfahrungsdinge ineinander ist der Stachel für die ersten philosophischen Ueberlegungen gewesen, und die Verwunderung65 darüber mußte in der Tat einem Volke von der Beweglichkeit und der vielseitigen Naturerfahrung der Jonier früh aufsteigen. Die jonische Philosophie hat dieser Tatsache, der das Grundmotiv ihres Nachdenkens entsprang, den lebhaftesten Ausdruck gegeben in Heraklit, der nicht müde geworden zu sein scheint66, für diese Unbeständigkeit ausnahmslos aller Dinge und namentlich für das Umschlagen der Gegensätze ineinander die zugespitztesten Formulierungen zu suchen. Wo aber der Mythos dieser Anschauung das Gewand eines fabulierenden Berichtes über die Weltbildung gab, da fragte die Wissenschaft nach dem bleibenden Grunde aller dieser Veränderungen und fixierte die Frage in dem Begriffe des Weltstoffs, der diese Verwandlungen erleide, dem alle einzelnen Dinge entsprängen und in den sie sich wieder zurückverwandelten (archê). Stillschweigend war in diesem Begriffe67 die Voraussetzung der Einheitlichkeit der Welt enthalten: ob die Milesier68 diese schon zu rechtfertigen suchten, wissen wir nicht. Erst ein späterer eklektischer Nachzügler69, Diogenes von Apollonia, hat den Monismus durch die Umsetzung aller Dinge ineinander, durch den ausnahmslosen Zusammenhang aller Dinge miteinander zu begründen gesucht70.

1. Daß also dem ganzen Naturprozeß ein einheitlicher Weltstoff zugrunde liege, erscheint in der alten Ueberlieferung als eine selbstverständliche Voraussetzung der jonischen Philosophie: es handelte sich für diese nur darum, zu bestimmen, was dieser Grundstoff sei. Da lag es denn am nächsten, ihn unter den erfahrungsmäßig gegebenen zu suchen, und so erklärte Thales dafür das Wasser, Anaximenes die Luft. Maßgebend war bei dieser Wahl vermutlich nur die Beweglichkeit, Verwandelbarkeit und scheinbar innere Lebendigkeit71 von Wasser und Luft; auch dachten die Milesier dabei offenbar nicht an die chemischen Eigentümlichkeiten des Wassers und der Luft, sondern nur an die betreffenden Aggregatzustände72. Während das Feste als das an sich Tote, nur von außen Bewegte erscheint, macht das Flüssige und das Flüchtige den Eindruck selbständiger Beweglichkeit und Lebendigkeit: und die monistische Voreingenommenheit dieses ersten Philosophierens war so groß, daß die Milesier gar nicht daran dachten, nach einem Grunde der unaufhörlichen[27] Verwandlung des Weltstoffs zu fragen, sondern diese, wie das Geschehen überhaupt, als eine selbstverständliche Tatsache hinnahmen, deren einzelne Formen sie höchstens beschrieben. Der Weltstoff galt ihnen als ein in sich Lebendiges, sie dachten ihn sich so selbstbelebt, wie im einzelnen die Organismen sich darstellen73, und deshalb pflegt ihre Lehre vom Standpunkt der späteren Begriffsscheidung aus als Hylozoismus charakterisiert zu werden.

2. Fragen wir aber, weshalb Anaximenes, dessen Lehre sich, wie die des Thales, in den Grenzen der Erfahrung gehalten zu haben scheint, an die Stelle des Wassers die Luft setzte, so hören wir74, daß er in ihr ein Merkmal zu finden glaubte, das dem Wasser abging, das aber sein Vorgänger Anaximandros für den Begriff des Urstoffs als unerläßlich postuliert hatte: dasjenige der Unendlichkeit. Als Motiv dieses Postulats des Anaximandros wird das Argument berichtet, daß ein endlicher Weltstoff sich in der unablässigen Reihenfolge von Erzeugungen erschöpfen würde75. Anaximandros aber hatte auch eingesehen, daß diese Anforderung des Begriffs der archê, von keinem der wahrnehmbaren Stoffe erfüllt werden könne, und er hatte deshalb den Weltstoff über alle Erfahrung hinausgesetzt. Er behauptete kühnlich die Realität eines Urgrundes der Dinge, welcher alle Eigenschaften besäße, die notwendig seien, wenn man den Wechsel der Erfahrungswelt aus einem Bleibenden, selbst allem Wechsel Ueberhobenen ableiten wollte, auch wenn man einen solchen unter den erfahrenen nicht fände. Er zog aus dem Begriffe der archê die Konsequenz, daß, wenn ihm kein Gegenstand der Erfahrung entsprach, er trotzdem zur Erklärung der Erfahrung als hinter ihr wirklich und sie bedingend angenommen werden müßte. Er nannte darum den Weltstoff »das Unendliche« (to apeiron) und schrieb ihm alle die begrifflich postulierten Merkmale der archê zu: Unentstandenheit und Unvergänglichkeit, Unerschöpflichkeit und Unzerstörbarkeit.

Der in dieser Weise von Anaximandros konstruierte Begriff der Materie ist jedoch nur in der Hinsicht klar, daß er die räumliche Unendlichkeit und die zeitliche Anfangs- und Endlosigkeit in sich enthalten und damit das Merkmal des Allumfassens und Allbestimmens76 vereinigen soll: dagegen ist er unaufhellbar hinsichtlich der qualitativen Bestimmung, welche der Philosoph etwa darunter hatte verstanden wissen wollen. Spätere Nachrichten legen die Deutung nahe, er habe ausdrücklich eine qualitative Unbestimmtheit des Urstoffs behauptet (aoristos)77, während die Angaben des Aristoteles78 mehr für die Annahme einer durchweg ausgeglichenen und deshalb im ganzen indifferenten Mischung aller empirischen Stoffe sprechen. Das Wahrscheinliche ist hiernach, daß Anaximandros die unklare Vorstellung des mythischen Chaos welches Eins und doch auch Alles ist, begrifflich reproduziert hat, indem er als den Weltstoff eine unendliche Körpermasse annahm, in der die verschiedenen empirischen Stoffe so gemischt seien, daß ihr im ganzen keine bestimmte[28] Qualität mehr zugeschrieben werden dürfe, daß aber deshalb auch die Ausscheidung der Einzelqualitäten aus dieser selbstbewegten Materie nicht mehr als deren eigentlich qualitative Veränderung angesehen werden könnte. Damit wäre allerdings der Begriff der Welteinheit in qualitativer Hinsicht aufgegeben und der späteren Entwicklung wesentlich vorgearbeitet gewesen.

3. Noch ein weiteres Prädikat gab Anaximandros dem Unendlichen: to theion Als eine letzte Erinnerung an den religiösen Vorstellungsherd, dem das wissenschaftliche Nachdenken entsprang, zeigt es zum erstenmal die in der Geschichte stetig wiederkehrende Neigung der Philosophen, den höchsten Welterklärungsbegriff, zu dem sie die Theorie geführt hat, als »Gottheit« anzusprechen und ihm damit zugleich eine Weihe für das religiöse Bewußtsein zu geben. Anaximanders Materie ist der erste philosophische Gottesbegriff, der erste, noch ganz im Physischen steckenbleibende Versuch, die Gottesvorstellung aller mythischen Form zu entkleiden.

Indem sich aber so das religiöse Bedürfnis in der metaphysischen Begriffsbestimmung aufrecht erhielt, wurde die Möglichkeit einer Einwirkung der Wissenschaft auf das religiöse Vorstellen um so näher gelegt, je mehr ein darin bisher nur dunkel und unsicher waltender Trieb in diesem Resultat philosophischen Nachdenkens seine Bestätigung fand. Die Umwandlung, welche die griechischen Mythen sowohl im Sinne der kosmogonischen Phantasie, als auch in demjenigen der ethischen Deutung erfahren hatten, drängte überall auf eine monotheistische Zuspitzung hin (Pherekydes, Solon): und dieser Bewegung wurde nun ihr Schlußergebnis, der klar ausgesprochene Monismus, von der Wissenschaft dargeboten.

Dies Verhältnis hat Xenophanes zum Ausdruck gebracht, kein Denker und Forscher, aber ein phantasievoller und überzeugungsstarker Jünger der Wissenschaft, der die neue Lehre von Ost nach West trug und ihr eine durchweg religiöse Färbung gab. Seine Behauptung des Monotheismus, die er als begeisterte Anschauung dahin aussprach79, daß, wohin er auch blicke, alles ihm immer in das eine Wesen (mian eis physin) zusammenfließe, trägt somit durchaus pantheistischen Charakter: sie nahm jedoch gleich die scharf polemische Wendung gegen den Volksglauben, und dies macht hauptsächlich seine literarische Stellung und Bedeutung aus. Der Spott, den er geistvoll über den Anthropomorphismus der Mythologie ausgoß80, der Zorn, womit er die Dichter als die Bildner dieser mit allen Schwächen und Lastern der Menschennatur ausgestatteten Göttergestalten verfolgte81, – sie beruhen auf einer Gottesvorstellung, welche das höchste Wesen in leiblicher wie in geistiger Hinsicht als unvergleichlich mit dem Menschen betrachtet haben will. Dunkler wird Xenophanes, wenn er zu positiven Bestimmungen übergeht. Einerseits wird die Gottheit als hen kai pan mit dem Weltall identifiziert und diesem Weltgott dann die Gesamtheit der Prädikate der milesischen archê (Ewigkeit, Ungewordenheit, Unvergänglichkeit) zugeschrieben; anderseits werden der Gottheit teils räumliche Eigenschaften wie die Kugelgestalt, teils aber psychische Funktionen zugeschrieben, in denen die Allgegenwart des Wissens und vernünftigen Leitens der Dinge ausgedrückt wird. In dieser Hinsicht erscheint[29] der Weltgott des Xenophanes nur als der höchste unter den übrigen »Göttern und Menschen«.

Offenbart sich schon darin eine vorwaltend theologische Wendung der Philosophie, so zeigt sich der Austausch des metaphysisch-naturwissenschaftlichen gegen den religiösen Gesichtspunkt von Anaximandros zu Xenophanes in zwei wesentlichen Abweichungen. Der Begriff des Weltgottes ist für den letzteren Gegenstand religiöser Verehrung und kaum noch Mittel des Naturverständnisses. Der Sinn für die Naturerkenntnis ist bei dem Kolophonier gering, seine Vorstellungen sind zum Teil sehr kindlich und den Milesiern gegenüber zurückgeblieben. Und so war ihm das Merkmal der Unendlichkeit, dessen die milesische Wissenschaft in dem Weltstoff zu bedürfen meinte, entbehrlich; dagegen durfte er den ethisch-ästhetischen Motiven folgen, die den Griechen das maßvoll in sich Bestimmte als das Vollkommene und wertvoll Wirkliche betrachten ließen, und so schien es ihm der Würde des göttlichen Wesens angemessener82, es in sich begrenzt, ganz in sich geschlossen, folglich in räumlicher Hinsicht kugelgestaltig zu denken. Und während die Milesier den Urgrund der Dinge als von sich aus ewig bewegt und in sich zu lebendiger Mannigfaltigkeit gestaltet dachten, strich Xenophanes dies Postulat der Naturerklärung und nannte den Weltgott unbeweglich und in allen seinen Teilen vollkommen gleichartig. Wie er sich freilich damit vereinbar die Mannigfaltigkeit der Einzeldinge gedacht hat, an deren Realität er nicht zweifelte, das muß dahingestellt bleiben.

4. Die milesische Vorstellung von der Weltsubstanz hatte, wie es der Begriff der Veränderung verlangt, die Momente des Sich-selbst-gleichbleibens und der selbständigen Abwandelbarkeit ohne klare Abgrenzung miteinander vereinigt: bei Xenophanes wurde das erste Moment isoliert; hinsichtlich des zweiten geschah dasselbe durch Heraklit. Seine Lehre setzt die Arbeit der Milesier, von deren Abschluß sie jedoch durch eine Generation getrennt ist, in der Weise voraus, daß schließlich das Bestrebell, zur Begriffsbestimmung eines bleibenden Weltgrundes zu gelangen, ins aussichtslos erkannt worden ist. Es gibt nichts Bleibendes, weder in den einzelnen Dingen der Welt noch in ihrem Gesamtbestande. Nicht nur die besonderen Erscheinungen, sondern auch das Weltall als Ganzes ist in ewiger, unablässiger Umwälzung begriffen: Alles fließt und Nichts bleibt. Man kann von den Dingen nicht sagen, daß sie sind; sie werden nur und vergehen in den ewig wechselnden Spiele der Weltbewegung. Was also bleibt und den Namen der Gottheit verdient, das ist kein Ding und kein Stoff, sondern die Bewegung, das Geschehen, das Werden selbst.

Der starken Zumutung, welche mit dieser Wendung an die Abstraktion gemacht zu sein scheint, kam aber bei Heraklit die sinnliche Anschauung entgegen, worin sich ihm diese Bewegung darstellte: diejenige des Feuers. Dessen Mitwirkung bei der Umsetzung der Naturdinge ineinander war schon den Milesiern nicht entgangen; dazu mochten altorientalische mythische Vorstellungen hinzutreten, welche der Kontakt mit den Persern den Joniern jener Tage besonders nahe brachte. Wenn aber Heraklit die Welt für ein ewig lebendiges Feuer, das Feuer also für das Wesen aller Dinge erklärte, so versteht[30] er unter dieser archê nicht einen alle seine Verwandlungen überdauernden Stoff, sondern eben die züngelnde Verhandlung selbst, das Auf- und Abschweben des Werdens und Vergehens83.

Dabei aber nimmt diese Vorstellung doch zugleich noch festere Gestalt an, indem Heraklit viel energischer als die Milesier hervorhob, daß dieser Wechsel nach bestimmten Verhältnissen und in einer immer sich gleich bleibenden Reihenfolge sich vollzieht84. Dieser Rhythmus des Geschehens (das, was spätere Zeiten die Gesetzmäßigkeit der Natur genannt haben) ist also das einzig Dauernde; er wird von Heraklit als das Geschick (heimarmenê), als die Ordnung (dikê) als die Vernunft (logos) der Welt bezeichnet. Diese Bestimmungen, wonach physische, ethische und logische Weltordnung noch als identisch erscheinen, beweisen nur den unentwickelten Zustand des Denkens, welches die verschiedenen Motive noch nicht zu sondern weiß: der Begriff aber, den Heraklit mit voller Klarheit erfaßt und mit der ganzen Strenge seiner herben Persönlichkeit durchgeführt hat, ist derjenige der Ordnung, ein Begriff jedoch, dessen Geltung für ihn ebenso Sache der Ueberzeugung wie der Erkenntnis war.

5. In sichtlichem Gegensatz zu dieser Lehre des Ephesiers ist nun von Parmenides, dem Haupt der eleatischen Schule und dem bedeutendsten Denker dieser Periode, der Begriff des Seins herausgearbeitet worden. Doch ist es nicht leicht, seine Formulierung aus den wenigen Fragmenten des Lehrgedichts zu rekonstruieren, dessen ganz einziger Charakter in der Verbindung trockenster Abstraktion mit großartiger bilderreicher Phantasie besteht. Daß es ein Sein gibt (esti gar einai), ist für den Eleaten ein begriffliches Postulat von so zwingender Evidenz, daß er diese Behauptung nur hinstellt, ohne sie zu beweisen, und daß er sie nur durch eine negative Wendung erläutert, welche uns erst über den Sinn seines Hauptgedankens völligen Aufschluß gibt. Das »Nichtsein« (mê einai), fügt er nämlich hinzu, oder das Nichtseiende (to mê eon) könne nicht sein und könne nicht gedacht werden. Denn alles Denken bezieht sich auf ein Seiendes, das seinen Inhalt bildet85. Diese Auffassung der Korrelativität von Sein und Bewußtsein führt bei Parmenides so weit, daß beides, Denken und Sein, für völlig identisch erklärt wird. Kein Denken, dessen Inhalte nicht das Sein zukäme – kein Sein, das nicht gedacht würde: Denken und Sein sind dasselbe.

Diese Sätze, welche, wörtlich betrachtet, so abstrakt ontologisch aussehen, nehmen nun aber eine ganz andere Bedeutung an, wenn man betrachtet, daß die Fragmente des großen Eleaten keinen Zweifel darüber lassen, was er als das »Sein« oder das »Seiende« hat angesehen wissen wollen: nämlich die Körperlichkeit, die Materialität (to pleon). Für ihn sind »Sein« und[31] »Raumerfüllen« dasselbe. Dies »Sein«, diese Funktion der Raumerfüllung ist aber bei allem »Seienden« genau die gleiche; daher gibt es nur das Eine, einheitliche, unterschiedslose Sein. Anderseits bedeutet somit das »Nichtsein« oder das »Nichtseiende« die Körperlosigkeit, den leeren Raum (to kenon). Dieser von Parmenides durchgeführte Doppelsinn des einai, wonach dasselbe einmal »das Volle« und das andere Mal »Realität« bedeutet, führt also zu dem Satze, daß der leere Raum nicht sein kann.

Nun besteht aber für die naiv-sinnliche Auffassung, die ja auch in diesen prinzipiellen Bestimmungen des Parmenides steckt, die Gesondertheit der Dinge, vermöge deren die sich als eine Vielheit und Mannigfaltigkeit darstellen, in ihrer Trennung durch den leeren Raum, und anderseits besteht alles körperliche Geschehen, d.h. alle Bewegungen der Ortsveränderung, welche das »Volle« im »Leeren« erleidet. Ist daher das Leere nicht wirklich, so können auch die Vielheit und die Bewegung der Einzeldinge nicht wirklich sein.

Die Mannigfaltigkeit der Dinge, welche die Erfahrung in Koexistenz und Succession darbietet, war den Milesiern Anlaß gewesen, nach dem gemeinsamen bleibenden Grunde zu fragen, dessen Verwandlungen sie alle seien. Mit dem Begriffe des Seins, zu welchem Parmenides den des Weltstoffs zuspitzt, erscheinen diese Einzeldinge so wenig vereinbar, daß ihnen die Realität abgesprochen wird, und jenes eine, einheitliche Sein auch als das einzige übrig bleibt86. Der Erklärungsbegriff hat sich so in sich selber ausgebildet, daß seine Behauptung die Leugnung des durch ihn zu Erklärenden einschließt. In diesem Sinne ist der Eleatismus Akosmismus: in dem All-Einen ist die Mannigfaltigkeit der Dinge untergegangen; jedes allein »ist«, diese sind Trug und Schein.

Dem Einen oder dem Sein kommen nach Parmenides Ewigkeit, Ungewordenheit, Unvergänglichkeit, besonders aber auch (wie schon Xenophanes behauptet hatte) völlige Einerleiheit, unterschiedslose Sich-selbst-gleichheit, d.h. durchgängige Homogeneität und absolute Unveränderlichkeit zu: und auch darin folgt er dem Xenophanes, daß er es als in sich begrenzt, fertig und abgeschlossen betrachtet haben will. Das Sein ist also eine wohlgerundete, in sich vollkommen gleichartige Kugel, und dieser einzige und einheitliche Weltkörper ist zugleich der einfache, alle Besonderheiten von sich ausschließende Weltgedanke: to gar pleon esti noêma87.

6. Aller dieser zum Teil phantastischen, zum Teil rücksichtslos abstrakten Versuche hat es bedurft, um die Voraussetzungen für die Entwicklung der ersten brauchbaren Begriffe der Naturauffassung zu gewähren. Denn, so wichtige Denkmotive darin zur Geltung gekommen waren, – verwendbar für die Naturerklärung waren weder der Weltstoff der Milesier, noch das Feuer-Werden Heraklits, noch das Sein des Parmenides. Nun war die Unfertigkeit des ersteren durch den klaffenden Gegensatz der beiden letzteren klar geworden und damit der Anlaß dafür gegeben, daß die selbständigeren Forscher der nächsten Generation beide Motive begrifflich voneinander sondern und aus ihrer Gegenüberstellung[32] neue Beziehungsformen erdenken konnten, aus denen dauernd wertvolle Kategorien der Naturerkenntnis sich ergaben.

Gemeinsam ist diesen Vermittlungsversuchen einerseits die Anerkennung des eleatischen Postulats, daß das »Seiende« durchaus nicht nur als ewig, ungeworden und unvergänglich, sondern auch als in sich gleichartig und seinen Eigenschaften nach unveränderlich gedacht werden müsse, anderseits aber auch die Zustimmung zu dem heraklitischen Gedanken, daß dem Werden und Geschehen, damit aber auch der Mannigfaltigkeit der Dinge eine unleugbare Realität zukomme; und gemeinsam ist ihnen in der Vermittlung dieser beiden Denkbedürfnisse der Versuch, eine Mehrheit von Seienden anzunehmen, von denen zwar jedes einzelne für sich dem Postulat des Parmenides genüge, die aber anderseits durch den Wechsel ihrer räumlichen Beziehungen die veränderliche Mannigfaltigkeit der Einzeldinge, welche die Erfahrung aufweist, herbeiführen sollen. Hatten die Milesier von den eigenschaftlichen (qualitativen) Veränderungen des Weltstoffs gesprochen, so schloß das eleatische Prinzip deren Möglichkeit aus; sollte trotzdem mit Heraklit das Geschehen anerkannt und dem Sein selbst zuerkannt werden, so mußte es auf eine Art der Veränderung reduziert werden, welche die Eigenschaften des Seienden unberührt ließ: eine solche aber war nur als Ortsveränderung, d.h. als Bewegung denkbar. Die Naturforscher des 5. Jahrhunderts haben daher mit den Eleaten die (qualitative) Unveränderlichkeit des Seins, aber gegen die Eleaten dessen Pluralität und Beweglichkeit88, sie haben mit Heraklit die Realität des Geschehens und gegen Heraklit das Sein dauernder und unveränderlicher Träger der Bewegung behauptet. Ihre gemeinsame Ansicht ist die: es gibt eine Mehrheit von Seienden, welche, an sich unveränderlich, durch ihre Bewegung den Wechsel und die Vielheit der Einzeldinge begreiflich machen.

7. Zuerst und in der unvollkommensten, wenn auch historisch sehr lange nachwirkenden Form scheint dies Prinzip von Empedokles geltend gemacht worden zu sein. Als die »Elemente«89 stellte er die der populären Vorstellungsweise noch heute geläufigen vier auf: Erde, Wasser, Luft und Feuer90. Jedes dieser »Vier« sei ungeworden und unzerstörbar, in sich gleichartig und unveränderlich, dabei aber teilbar und in diesen Teilen verschiebbar91. Aus der Mischung der Elemente entstehen die einzelnen Dinge, mit der Entmischung hören sie wieder auf, und aus der Art und Weise der Mischung sollen die mannigfachen, von den Eigenschaften der Elemente selbst noch wieder verschiedenen Qualitäten der Einzeldinge herrühren.

Dabei macht sich nun das Merkmal der Unveränderlichkeit und die Abwendung von dem milesischen Hylozoismus bei Empedokles in dem Maße geltend, daß er diesen nur wechselnde Bewegungszustände und mechanische Mischungen[33] erleidenden Stoffen die selbständige Bewegungsfähigkeit nicht zusprechen konnte und deshalb nach einer von den Elementen selbst unabhängigen Ursache der Bewegung suchen mußte. Als solche bezeichnete er Liebe und Haß. Doch ist dieser erste Versuch, einer toten, jeglicher Eigenbewegung durch die Abstraktion entkleideten Materie die sie bewegende Kraft als etwas metaphysisch Selbständiges gegenüberzustellen, noch sehr dunkel ausgefallen; Liebe und Haß sind bei Empedokles nicht bloß Eigenschaften, Funktionen oder Beziehungen der Elemente, sondern diesen gegenüber selbständige Mächte: wie aber die Realität dieser Bewegungskräfte zu denken sei, darüber geben die Fragmente keinen irgendwie genügenden Aufschluß92. Nur das ist nicht unwahrscheinlich, daß bei der Dualität des Bewegungsprinzips auch der Gedanke mitgewirkt hat, es seien für das Gute und das Schlechte in dem Wechsel der Erfahrungsdinge Liebe und Haß als zwei gesonderte Ursachen erforderlich93, – ein erstes Zeichen beginnender Einmischung von Wertbestimmungen in die Naturtheorie.

8. Wenn Empedokles es für möglich erachtet hat, aus der Mischung der vier Elemente die Sonderqualitäten der Einzeldinge herzuleiten (ob und wie er das versuchte, wissen wir freilich nicht), so war dieser Schwierigkeit Anaxagoras überhoben, welcher aus dem eleatischen Prinzip, daß nichts Seiendes entstehen oder vergehen könne, den Schluß zog, daß so viele Elemente94 angenommen werden müssen, als sich in den Erfahrungsdingen einfache Stoffe vorfinden, die bei der Teilung immer wieder in lauter ihnen selbst und untereinander qualitativ gleiche Teile zerfallen. Solche Stoffe sind seiner Bestimmung gemäß Homöomerien genannt worden. Dieser (im Prinzip demjenigen der heutigen Chemie durchaus entsprechende) Begriff des Elements traf aber bei dem damaligen Stande der Forschung, die nur mechanische Spaltung oder Temperaturveränderung als Untersuchungsmittel kannte, auf die größte Anzahl der erfahrungsmäßig gegebenen Stoffe95 zu, und deshalb behauptete Anaxagoras, es gäbe unzählige Elemente, verschieden an Gestalt, Farbe und Geschmack. Sie seien in unendlich feiner Verteilung durch das ganze Weltall hindurch vorhanden; ihr Zusammentreten (synkrisis) mache das Entstehen, ihr Auseinandertreten (diakrisis) das Vergehen der Einzeldinge aus: und dabei sei in jedem Dinge von jedem Stoff etwas vorhanden, nur für unsere sinnliche Auffassung nehme das einzelne Ding die Eigenschaften desjenigen Stoffes oder derjenigen Stoffe an, welche darin mit überwiegender Masse enthalten seien.

Die Elemente, als das Seiende, gelten nun auch für Anaxagoras als ewig, anfangs- und endlos, unveränderlich und wenn auch beweglich, so doch für sich selbst unbewegt. Es muß daher auch hier nach einer Kraft gefragt werden, welche Ursache der Bewegung ist: da aber doch auch diese Kraft als ein Seiendes angesehen werden muß, so verfiel Anaxagoras auf den Ausweg, sie einem besonderen einzelnen Stoffe zuzuweisen. Dies Kraftelement oder dieser [34] Bewegungsstoff soll das leichteste, feinste, beweglichste aller Elemente sein: es ist im Unterschiede von allen andern diejenige Homöomerie, welche allein von selbst in Bewegung ist und diese ihre Eigenbewegung den andern mitteilt: sie bewegt von sich aus die übrigen. Das innere Wesen aber dieses Kraftstoffs zu bestimmen, vereinigen sich zwei Gedankenreihen: Ursprünglichkeit der Bewegung ist für die naive Weltauffassung das sicherste Kennzeichen des Beseelten; dieser exzeptionelle Stoff also, der von sich aus bewegt ist, muß der Seelenstoff, seine Qualität muß das Seelische sein. Und zweitens: eine Kraft wird durch ihre Wirkung erkannt; wenn dieser Bewegungsstoff die Ursache der Weltgestaltung ist, zu der er die übrigen trägen Elemente entmischt hat, so wird man aus dieser Leistung sein Wesen erkennen müssen. Nun macht aber das Weltall, insbesondere der gleichmäßige Umschwung der Gestirne, den Eindruck schöner und zweckmäßiger Ordnung (kosmos). Eine solche harmonische Bewältigung riesiger Massen, dieser ungestörte Kreislauf zahlloser Weltkörper, denen Anaxagoras seine bewundernde Betrachtung zuwandte, schien ihm nur das Ergebnis eines zweckmäßig anordnenden und die Bewegungen beherrschenden Geistes sein zu können. Deshalb charakterisierte er den Kraftstoff als Vernunft (nous) oder als Denkstoff.

Der nous des Anaxagoras ist also ein Stoff, ein körperliches Element, in sich gleichartig, unerzeugt und unvergänglich, in feiner Verteilung durch die ganze Welt ergossen, aber von allen andern Stoffen nicht nur graduell als der feinste leichteste, beweglichste, sondern auch wesentlich darin verschieden, daß er allein von sich selbst aus bewegt ist und vermöge dieser Eigenbewegung auch die andern Elemente in der zweckmäßigen Weise bewegt, welche sich in der Ordnung der Welt zu erkennen gibt. Diese Betonung der Ordnung im Weltall ist ein heraklitisches Moment in der Lehre des Anaxagoras, und der Schluß von den geordneten Bewegungen auf ihre vernünftige, zwecktätige Ursache ist das erste Beispiel der teleologischen Naturerklärung96 Mit ihm wird ausdrücklich der Wertbegriff der Schönheit und Vollkommenheit auch theoretisch zum Erklärungsprinzip gemacht.

9. In entgegengesetzter Richtung hat sich aus dem eleatischen Seinsbegriffe der Atomismus Leukipps entwickelt. Während Empedokles die metaphysische Ursprünglichkeit einiger und Anaxagoras diejenige aller Qualitäten behauptet, blieb der Gründer der abderitischen Schule bei der Ansicht des Parmenides stehen, daß der ganzen Mannigfaltigkeit qualitativer Bestimmungen, welche die Erfahrung aufweist, kein »Sein« zukomme, daß vielmehr die einzige Eigenschaft des Seienden die Raumerfüllung, die Körperlichkeit, to pleon, sei. Sollte nun aber trotzdem die Vielheit der Dinge und der Wechsel des zwischen ihnen stattfindenden Geschehens begreiflich gemacht werden, so mußte an die Stelle des einzigen und in sich unterschiedslosen Weltkörpers, den Parmenides gelehrt hatte, eine Vielheit solcher Seienden treten, die voneinander[35] nicht wieder durch Seiendes, sondern nur durch Nichtseiendes, d.h. durch Unkörperliches, durch den leeren Raum getrennt waren. Diesem Nichtseienden mußte daher doch wieder eine Art von Sein, von metaphysischer Realität zugeschrieben werden97, und Leukippos betrachtete den leeren Raum im Gegensatz zu der Begrenztheit, welche das eigentliche Sein nach Parmenides besitzt, als das Unbegrenzte: das apeiron. Leukipp zertrümmert daher den Weltkörper des Parmenides und zerstreut seine Teile durch den unendlichen Raum: jeder dieser Teile aber ist, wie das absolute Sein des Parmenides, ewig und unveränderlich, ungeworden und unzerstörbar, in sich durchaus gleichartig, begrenzt und unteilbar. Daher heißen diese Stücke des Seins Atome, atomoi: und aus den Gründen, welche Anaximandros zu seinem Begriffe des apeiron geführt hatten, behauptete Leukippos, daß solcher Atome unzählige, von unendlich mannigfacher Gestalt seien. Ihre Größe mußte er, da alle empirischen Dinge teilbar sind, als unwahrnehmbar klein bezeichnen. Die Unterschiede aber zwischen ihnen konnten, da sie alle nur die eine gleiche Qualität der Raumerfüllung besitzen, nur quantitativ sein: Unterschiede der Gestalt, Größe und Lage.

Aus solchen metaphysischen Ueberlegungen ist der Begriff des Atoms erwachsen, der sich für die theoretische Naturwissenschaft deshalb so fruchtbar erwiesen hat, weil er, wie es schon bei Leukipp zu Tage tritt, das Postulat enthält! alle qualitativen Unterschiede, welche die Wahrnehmung aufweist, auf quantitative zu reduzieren. Die Dinge unserer Erfahrung, lehrte Leukipp, sind Verbindungen von Atomen; sie entstehen durch deren Vereinigung, sie vergehen durch deren Trennung. Die Eigenschaften, welche wir an diesen Komplexen wahrnehmen, sind nur Schein: in Wahrheit bestehen nur die Bestimmungen der Gestalt, Größe, Anordnung und Lagerung der einzelnen Atome, welche das Sein ausmachen.

Der leere Raum ist somit die Voraussetzung, wie für die Sonderung und Gestaltung so auch für die Verbindung und Trennung der Atome. Alles Geschehen ist seinem Wesen nach Bewegung der Atome im Raum. Fragt man aber nach dem Grunde dieser Bewegung der Atome98, so kann er, da der eigentlich nicht-seiende Raum nicht Ursache sein darf und der Atomismus außer dem Raum und den Atomen nichts Wirkliches anerkennt, nur in den Atomen selbst gesucht werden, d.h. die Atome sind von sich aus in Bewegung, und diese ihre selbständige Bewegung ist ebenso anfangs- und endlos wie ihr Sein. Und so mannigfaltig und voneinander unabhängig die Atome an Gestalt und Größe sind, so verschieden ist auch ihre ursprüngliche Bewegung. Sie fliegen in dem unendlichen Raume, der kein Oben und Unten, kein Innen und Außen kennt, jedes für sich, wirr durcheinander, bis ihr Zusammentreffen zur Bildung von Dingen und Welten führt. Die begriffliche Trennung also, welche Empedokles und Anaxagoras zwischen Stoff und bewegender Kraft versucht hatten, hoben die Atomisten wieder auf; sie schrieben den Stoffteilchen die Fähigkeit zwar nicht der qualitativen Veränderung (alloiôsis), aber der selbständigen Bewegung (kinêsis im engeren Sinne = periphora) zu, und sie nahmen[36] in diesem allerdings stark eingeschränkten und damit auch sachlich veränderten Sinne das Prinzip des milesischen Hylozoismus wieder auf.

10. Gegen diese pluralistischen Systeme hat Zenon, der Freund und Schüler des Parmenides, die eleatische Lehre zu verteidigen gesucht, indem er die Widersprüche darlegte, in welche sich die Annahme einer Vielheit von Seienden verwickle. Der Größe nach, zeigte er, ergibt sich daraus, daß die Gesamtheit des Seins einerseits unendlich klein, anderseits unendlich groß sein muß: unendlich klein, weil die Zusammensetzung noch so vieler Teile, deren Jedes unendlich klein sein soll, doch niemals mehr als unendlich Kleines ergibt99, – unendlich groß hinwiederum, weil die Grenze, die zwei Teile trennen soll, selbst ein Seiendes, d.h. räumliche Größe sein muß, die ihrerseits wieder von beiden Teilen durch eine Grenze geschieden ist, von der dann dasselbe gilt u.s.f. in infinitum. Aus dem letzteren Argument, welches das ek dichotomias genannt wurde, folgerte Zenon auch, daß der Zahl nach das Seiende unbegrenzt sein müsse, während anderseits doch dies fertige, nicht im Werden begriffene Sein auch hinsichtlich seiner numerischen Bestimmtheit als begrenzt anzusehen sei. Und ebenso wie die Annahme des Vielen soll sich auch die Behauptung der Realität des leeren Raumes durch einen regressus in infinitum selbst widerlegen: ist alles Seiende im Raum und dieser selber ein Seiendes, so muß er selbst wieder in einem Raum sein, dieser ebenfalls u.s.w. Mit dem Begriffe des Unendlichen, dem der Atomismus eine neue Wendung gegeben hatte, waren alle die darin für den Gegensatz von Verstand und Anschauung enthaltenen Rätsel lebendig geworden, und Zenon benutzte sie, um damit die Gegner der Lehre von dem einen in sich begrenzten Sein ad absurdum zu führen.

Doch zeigt sich die Zweischneidigkeit dieser Dialektik an der eleatischen Schule selbst, indem ein Zeit- und Gesinnungsgenosse des Zenon, Melissos, sich genötigt sah, das parmenideische Sein auch räumlich für ebenso unbegrenzt zu erklären wie zeitlich. Wie das Sein nämlich weder aus anderem Seiendem noch aus Nichtseiendem entstehen und wie es weder in das eine noch in das andere vergehen kann, so kann es auch weder durch Seiendes (denn das müßte ein zweites Sein sein) noch durch Nichtseiendes (denn dann müßte dies sein) begrenzt werden: eine Argumentation, die rein theoretisch konsequenter war, als die durch Wertbestimmungen beeinflußte Behauptung des Meisters.

11. Eine vermittelnde Stellung haben in diesen Fragen die Pythagoreer eingenommen: sie waren dazu, wie zu ihren übrigen Lehren, durch ihre Beschäftigung mit der Mathematik und durch die Art, wie sie diese betrieben, in glücklicher Weise befähigt. Die Hauptrichtung ihrer Untersuchungen scheint arithmetisch gewesen zu sein; auch die geometrischen Einsichten, die ihnen zugeschrieben werden (wie der bekannte nach Pythagoras benannte Satz) laufen auf die lineare Darstellung einfacher Zahlenverhältnisse (32+42=52 u.s.w.) hinaus. Aber nicht nur in den allgemeinen Verhältnissen der räumlichen Gebilde fanden die Pythagoreer die Zahlen als maßgebend, sondern auch in solchen Erscheinungen der körperlichen Welt, mit denen sie vorwiegend beschäftigt waren. Ihre theoretischen Untersuchungen über Musik lehrten sie, daß der[37] Wohlklang auf einfachen Zahlenverhältnissen der Saitenlänge (Oktave, Terz, Quart) beruht, und ihre weit geförderte Kenntnis der Astronomie führte sie auf die Ansicht, daß die in den Bewegungen der Himmelskörper waltende Harmonie (ähnlich der musikalischen)100 in einer Ordnung begründet sei, wonach die verschiedenen Sphären des Weltalls sich in zahlenmäßig fest bestimmten Abständen um einen gemeinsamen Mittelpunkt bewegen. So mannigfache Anlässe scheinen sich vereint zu haben, um in einem Manne wie Philolaos den Gedanken hervorzurufen, daß das dauernde Sein, welches die philosophische Theorie suchte, in den Zahlen zu finden sei. Den wechselnden Dingen der Erfahrung gegenüber besitzen die mathematischen Begriffsinhalte die Merkmale zeitloser Geltung; sie sind ewig, ungeworden, unvergänglich, unveränderlich und selbst unbeweglich: und wenn sie damit dem eleatischen Seinspostulat genügen, so stellen sie anderseits die festen Verhältnisse und jene rhythmische Ordnung dar, die Heraklit verlangt hatte. So fanden denn die Pythagoreer das bleibende Wesen der Welt in den mathematischen Verhältnissen und insbesondere in den Zahlen – eine Lösung des Problems, abstrakter als die milesische, anschaulicher als die eleatische, klarer als die heraklitische, schwieriger als diejenige der zeitgenössischen Vermittlungsversuche.

Die Zahlenlehre der Pythagoreer schloß sich in ihrer Ausführung teils an die vielfachen Beobachtungen, welche sie über arithmetische Verhältnisse gemacht hatten, teils an Analogien, welche sie zwischen diesen und den philosophischen Begriffen entdeckten und zum Teil recht künstlich herstellten. Die Bestimmtheit jeder einzelnen unter den Zahlen und die Endlosigkeit ihrer Reihe mußten wohl zunächst den Gedanken nahe legen, daß sowohl dem Begrenzten als auch dem Unbegrenzten Realität zukomme, und indem dies Motiv ins Geometrische übersetzt wurde, erkannten die Pythagoreer neben den Elementen als dem Begrenzten auch dem Raum als dem unbegrenzten Leeren Realität zu; die Elemente aber dachten sie sich durch die einfachen stereometrischen Formen bestimmt: das Feuer durch das Tetraeder, die Erde durch den Kubus, die Luft durch das Oktaeder, das Wasser durch das Ikosaeder und einen fünften Stoff, den Aether, welchen sie den vier terrestrischen, von Empedokles übernommenen, als den himmlischen hinzufügten, durch das Dodekaeder101. Dabei waltete die Vorstellung ob, Körperlichkeit bestehe in der mathematischen Begrenzung des Unbegrenzten, in der Gestaltung des Raumes. Die mathematischen Formen werden zum Wesen der physischen Realität gemacht.

Weiterhin glaubten die Pythagoreer in dem Gegensatze des Begrenzten und des Unbegrenzten den Zahlengegensatz des Ungeraden und des Geraden wiederzuerkennen102; und dieser Gegensatz identifizierte sich ihnen wieder (nicht ohne Mitwirkung alter Vorstellungen des Orakelglaubens) mit demjenigen des Vollkommenen und des Unvollkommenen, des Guten und des Schlechten103. So[38] wird ihre Weltanschauung dualistisch: dem Begrenzten, Ungeraden, Vollkommenen und Guten steht das Grenzenlose, Gerade, Unvollkommene und Schlechte gegenüber. Wie aber in der Eins, die sowohl als gerade wie als ungerade Zahl gilt104, beide Prinzipien vereinigt sind, so sind auch in der ganzen Welt diese Gegensätze zur Harmonie ausgeglichen. Die Welt ist Zahlenharmonie.

Jenen Grundgegensatz aber, in dessen Annahme alle Pythagoreer einig waren, haben einige von ihnen105 durch die verschiedenen Gebiete der Erfahrung zu verfolgen gesucht, und so ist eine Tafel von 10 Gegensatzpaaren zustande gekommen: begrenzt und unbegrenzt – ungerade und gerade – eins und viel – rechts und links – männlich und weiblich – ruhend und bewegt – gerade und krumm106 – hell und dunkel – gut und schlecht – quadratisch und ungleichseitig: offenbar eine systemlose Zusammenstellung, mit der nur die heilige Zehnzahl vollgemacht werden sollte, die aber doch wenigstens den Versuch einer Gliederung erkennen läßt.

Mit diesem oder einem ähnlichen Schema haben dann die Pythagoreer sich abgemüht, eine Ordnung der Dinge nach dem Zahlensystem herzustellen, indem sie in jedem Erkenntnisgebiet die Grundbegriffe verschiedenen Zahlen zuwiesen und so anderseits jeder einzelnen Zahl (und zwar hauptsächlich denjenigen von 1 bis 10) eine maßgebende Bedeutung in den verschiedenen Sphären der Wirklichkeit zuerkannten. Die Wunderlichkeiten symbolischer Deuterei, der sie dabei verfielen, dürfen doch nicht übersehen lassen, daß damit der Versuch gemacht wurde, eine bleibende, begriffliche Ordnung der Dinge zu erkennen und deren letzten Grund in mathematischen Verhältnissen zu finden.

Auch ist es den Pythagoreern, und namentlich den späteren, selbst nicht entgangen, daß die Zahlen nicht in derselben Weise Prinzipien (archai) der Dinge genannt werden konnten, wie etwa die Stoffe, die Elemente u.s.w., daß die Dinge nicht aus ihnen entstanden sondern nach ihnen gebildet sind, und sie drückten ihren Gedanken vielleicht am besten und wirksamsten damit aus, daß Sie sagten, alle Dinge seien Abbilder oder Nachahmungen der Zahlen. Damit war die Welt der mathematischen Formen als eine höhere, ursprüngliche Wirklichkeit gedacht, von der die empirische Wirklichkeit nur ein Nachbild sein sollte: jener gebührte das bleibende Sein, diese war die gegensätzliche Welt des Geschehens.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 27-39.
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