Zertheilung der Urkraft in die Urmaterie und die Elemente.

[36] Aus der Urmaterie gehen hervor Frühling und Sommer, Herbst und Winter; aus der Kraft1 gehen hervor Anfang, Fortschreiten, Vollenden und Erfüllung2; in den Menschen werden sie | Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit genannt. Anfang, Fortschreiten, Vollenden und Erfüllung sind eben so vier Segmente der Urkraft, wie sie vier Segmente sind der Urmaterie. Die Urkraft ist in der Urmaterie; beide gegenseitig in nothwendiger Beziehung stehende Kräfte können nicht von einander getrennt werden.

Frage. Wie verhält sich die Urkraft zur Zahl?

Antwort. War die Urkraft, so ward die Urmaterie; war die Urmaterie, so ward die Zahl; denn Zahl lässt nach Theilen und Segmenten Grenzen bestimmen. Als die Urmaterie des Himmels und der Erde, der ruhenden und der bewegenden Kraft noch nicht herausgetreten war, waren die Körper, wenn auch in der Verhüllung, doch Körper, so wie der Fisch im Wasser, sey er nun mit dem Bauche im Wasser, oder auf dessen Oberfläche, sey es nun der Fisch Kouey oder der Fisch Ly immer Fisch ist. Durch die Urmaterie entstehen die Formen der Masse; denn erst vermittelst der wechselseitigen Durchdringung der Urmaterie und der Urkraft wird die Wahrnehmung möglich. Wie Feuer, von Fett (oder auch anderer Nahrung) umgeben, eine Masse Lichtstrahlen auswirft und hell macht, eben so wird es erst möglich, den Geist der Urkraft durch Hinzutretung des Geistes der Urmaterie zu erkennen. Man nennt den Geist der Urmaterie Ling (7281 Morrison, tonischer Theil) und den Geist der Urkraft Sin (9453). |

Durch welche Urkraft der Mensch Mensch ist, durch eben dieselbe Urkraft sind Himmel und Erde; seine Urmaterie ist auch die Urmaterie des Himmels und der Erde; die Wirkungen der Urkraft (in concreter Gestalt) kann man nicht sehen, nur[37] vermittelst der Urmaterie kann man sie wahrnehmen. Himmel und Erde bestehen aus beiden, aus der Urkraft und der Urmaterie. Die Urkraft ist die Bildung d.h. die Norm des Obern, die Quelle aller Wesen; die Urmaterie ist die Bildung d.h. die Gestaltung des Niedern, die Befähigung aller Wesen. Bei der Entstehung des Menschen und der Dinge spendet die Urkraft das Ihrige, und alsdann wird das Wesen, die Natur; es spendet die Urmaterie das Ihrige, und alsdann wird die Gestaltung, das Erscheinen.

Was man Urkraft und Urmaterie nennt, diess sind in der That zwei Wesen; nur so lange sie beide in dem Obern versenkt sind, ist eine Heraustretung nicht möglich und jedes Ding bleibt in Ruhe. Demnach kann diess die zwei Wesen nicht afficiren, wenn jegliches Ding wird; denn als die Urkraft war, waren die Dinge, obgleich sie noch nicht vollendet waren, in der Urkraft, – es war bloss | die Urkraft und diess ist Alles.

Die Urkraft verblieb immerdar, als auch die Urmaterie vorhanden war. Nachdem nämlich die Urmaterie vorhanden war, hatte die Urkraft ihren angewiesenen bestimmten Ort. Das Grösste, wie Himmel und Erde, und das Kleinste, wie eine Maus, – alle Wesen wurden nach einem und demselben Gesetze. Wie wäre auch das Entstehen des Himmels und der Erde möglich ohne dieses wechselseitige Geben und Nehmen! Aber das Wort, den Begriff der Urkraft zu erklären, ist nicht möglich: er kann nicht definirt werden; denn ehe noch Himmel und Erde waren, war sie schon vorhanden.

Frage. Himmel und Erde enthalten Urkraft und Urmaterie: die Urkraft ist wohl unwandelbarer Norm, die Urmaterie hat aber keine Norm? Die feste Mitte3 sagt: »Der erhabenen Tugend reicht hin der eigene Name, reicht hin die eigene Würde, reicht hin das eigene Leben.« Eben so unwandelbar ist die Urkraft. Kong tse wollte keine Staatswürde annehmen und Yen tse4 wollte lieber jung sterben, als dem Scho pie dienen. Wer fest darauf beharrt, alt zu sterben,[38] ohne | dass sein Name bekannt werde, dieser ist fern von der Urmaterie. Deshalb ist die Norm des Weisen eine unwandelbare das Unvernünftige hingegen ist das Wandelbare. Es ward aus einander gesetzt, dass die Urkraft das Frühere ist und dass hernach die Urmaterie erfolgt. Wenn nun die Urkraft es nicht zulässt, von der Urmaterie besiegt zu werden: so erfolgt daraus alles Glück, im Gegentheil aber alles Unglück, die Unterlassung der fünf Tugenden und Alles desjenigen, woraus die feste Norm des Alls bestellt und das Mannichfache der ausathmenden Urmaterie, wie es verschieden in der Zeit erfolgt. Jao, Schun und Ju gebrauchten, auf dem Throne sitzend, vollkommene Leute, hielten das Reich in Ordnung und bewirkten Einigkeit durch Einigkeit, weil sie die Urmaterie festgehalten und nach der Urkraft sich gerichtet hatten: wie im Gegentheil zu den Zeiten der streitenden Reiche, wie im Tschong tsieou berichtet wird, Strafen, Mord und Todschlag häufig waren; man richtete sich nämlich nach der Urmaterie, war unbeständig, und die Urkraft konnte demnach nicht siegen. Verhält sich dieses durchaus so, sowohl in Beziehung auf die Menschen als auf die Sachen?

Antwort. Dieses Alles ward früher in der Abtheilung Singming (das Naturgesetz) erläutert; es ward erklärt, dass, wenn die Urmaterie das Vorherrschende ist, Leidenschaften ohne Ende herrschen. Und diess im Vorbeigehen.

| Aus der Urkraft floss die Urmaterie. War die Urmaterie einmal, so waren alsdann allenthalben die zwei gegenseitig in nothwendiger Beziehung Stehenden. Deshalb heisst es auch im Iking: Das Absolute (Tai-ky) erzeugte die beiden unwandelbar sich bewegenden Kräfte oder Formen. Lao tse sagt: Das sogenannte Tao erzeugte zuerst das Eins und hernach erst erzeugte dieses Eins das Zwei. Er betrachtet also die Urkraft nicht als das einzig Volkommene, als das Letzte.

Es ward aus einander gesetzt, wie alle Wesen aus der Urkraft entsprossen sind, wie sie sich gleichen durch die Urkraft und verschieden sind durch die Urmaterie; man ersah, dass die verschiedenen Körper aller Dinge zusammen aus der Urmaterie stammen und dass, wenn man ihre Urkraft sich wegdenkt, sie sich gegenseitig unähnlich sind. Das Verschiedene[39] der Urmaterie ist bloss ordnungsloses Geräusch; das Verschiedene der Urkraft gestaltet Alles erst zu einem Verschiedenen und ertheilt ihm das Unterscheidende. Diess Alles ist der Vernunft gemäss und kann nicht bezweifelt werden. Das Viele geht, mit einem Worte, nur deshalb aus der Urmaterie hervor, weil die Urkraft ist; die Urkraft ist der Herr und wird deshalb der wunderbare Einige genannt.

| Aus diesem erhellt, dass das Verhältniss der Urkraft zur Urmaterie ein ursprüngliches ist. Zuerst war die Urkraft und alsdann ward die Urmaterie, d.h. die Urkraft konnte die Vollendung der Dinge nicht bewirken, indem, wie erläutert ward, sie bloss schwanger war und mit der Urmaterie niedergekommen ist; die Urkraft blieb aber auch hernach nichts desto weniger Urkraft. Deshalb heisst es auch: Es war die Urmaterie und alsdann war auch die Urkraft. Ohne Urmaterie keine Urkraft. Das Viele ist durch die Urmaterie und die Urkraft das Viele, das Wenige ist durch die Urmaterie und die Urkraft das Wenige, d.h. jede Kraft könnte für sich allein Nichts vollenden.

Das Irrationale der Urmaterie und was aus der Urkraft hervorgeht, Beides steht sich gegenseitig immer im Wege; die Urkraft auch in dem Menschen kann nicht seyn, wenn nicht vorher das Irrationale vollendet ist. Hung khiu sagt: Durch Fensterscheiben dringt der Schein, ob sie gross sind oder klein; es ist helle oder dunkel, ohne dass eine qualitative Verschiedenheit Statt findet5. Diese Erklärung ist gut.

| Es ward aus einander gesetzt, dass die Urmaterie die Vollendung in sich getragen hat, dass die Urkraft die Grundkraft ist und dass sie vor allem Beginne das Verschiedene in sich verschlossen hielt, d.h. der Macht oder Fähigkeit nach. Dabei leuchtet klar ein, dass man nicht vom festen Lande sprechen könnte, ohne Wasser, und hiermit (nämlich mit der Beziehung der Urkraft zur Urmaterie) ist es dasselbe Verhältniss.

Die Urkraft ist die höchste Reinheit, das Trefflichste; die[40] Urmaterie das Unklare und Ungeordnete. Der Weise beachtet das Innere, der gewöhnliche Mensch die Aussenseite; alle sollten aber streben Widerstand zu leisten der ruhenden und nachzuhelfen der bewegenden Materie, d.h. zu folgen der Urkraft und die Getrennten zur gegenseitigen Harmonie auszugleichen. Könnte aber die Urmaterie helfen oder schaden, bevor sie das Daseyn erblickt hat!

Das Wesen der Urkraft steht nicht in Beziehung zu dem Vielen, sondern bloss zu dem reinsten Geiste, zu Hoên und Phĕ6; sie enthält die Einheit und die Klarheit. Das Viele oder Verschiedene steht aber in Beziehung zur Urmaterie, wie im Gegentheil alles nicht Verschiedene zur Urkraft. Am Anfange war deshalb das Viele gar nicht, es war bloss die Urkraft, dann die Urmaterie und alsdann das unermesslich Viele. Die Urkraft ist deshalb das Setzende.

| Die Urkraft enthält Bewegung und Ruhe, und deshalb hat auch die Urmaterie Bewegung und Ruhe. Enthielte die Urkraft nicht Bewegung noch Ruhe, wie könnte wohl die Urmaterie Bewegung und Ruhe enthalten! Diess ward vorher schon deutlich aus einander gesetzt. Die Menschlichkeit hat eine gewisse Beziehung zur Bewegung, die Gerechtigkeit zur Ruhe: könnten beide wohl von der Urmaterie gehindert werden7?

1

Te, Tugend, steht hier für Urkraft, Li.

2

Für diese vier in einem Zahlenverhältnisse zu einander stehenden Begriffe finden sich bei Tschu tse die vier Anfangsworte des Iking.

3

Tchong yong Cap. 17. 3ter Abschnitt.

4

Diess ist wahrscheinlich der berühmte Yen yen tchi, der als ein Muster der Genügsamkeit und Bescheidenheit gepriesen wird. Er starb 456 n. Ch. Geb. Hist. gen. de la Chine, V. 105.

5

Ich bin über den Sinn dieser Periode etwas zweifelhaft; es ist leicht möglich, dass mir irgend eine Anspielung entgangen ist.

6

Der P. Basilius erklärt diese zwei reinsten Functionen des obersten oder letzten Princips auf folgende Weise: Hoên et phĕ sunt activitates duarum hhi, in et yâng. Hoên est activitas yâng, cui tribuitur esse principium omnium motuum et actionum transeuntium nec non respirationis et intelligentiae; ad yâng praecipue spectat calor naturalis. Phĕ est activitas in, cui tribuitur esse principium actionum immanentium et memoriae; ad in praecipue spectant sanguis, caro, ossa, pili etc. Klaproth, Supplément 74.

7

Manches bleibt wohl auch deshalb in diesen kleinen, hinter einem jeden grössern Abschnitte folgenden Sätzen etwas dunkel, weil sie sich, wie aus den kurzen Bemerkungen der Herausgeber erhellt, auf die Meinungen anderer Philosophen beziehen, die dadurch widerlegt werden sollen. So soll der letzte Satz sich auf eine Aeusserung des Tsching tse beziehen.

Quelle:
Die Natur- und Religionsphilosophie der Chinesen. In: Zeitschrift für die historische Theologie. Neue Folge, Stück 1, Nr. 1, Gotha 1837, S. 36-41.
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