Addition kleiner Kräfte

[786] Addition kleiner Kräfte. Wenn auf einen vollkommen frei beweglichen Punkt gleichzeitig zwei Kräfte wirken, so läßt sich an ihre Stelle immer eine Kraft setzen (man nennt sie die Resultante), welche entweder, falls die Richtungslinien jener beiden Kräfte in eine Gerade fallen, gleich der algebraischen Summe derselben ist, d.h. gleich der absoluten Summe od. Differenz, je nachdem die Kräfte gleich od. gerade entgegengesetzt gerichtet sind; oder falls die Richtungslinien der beiden gegebenen Kräfte einen von 0° u. 180° verschiedenen Winkel unter einander bilden, durch das Parallelogramm der Kräfte gefunden wird, d.h. man construirt zwei Gerade, welche nach Größe u. Richtung die gegebenen Kräfte ausdrücken, ergänzt dieselben zu einem Parallelogramm u. zieht durch den gemeinschaftlichen Angriffspunkt die Diagonale, dann drückt diese letztere nach Größe[786] u. Richtung die Resultante aus. Wirken mehr als zwei Kräfte gleichzeitig auf einen frei beweglichen Punkt, so läßt sich auch für diese die Resultante bestimmen, indem man sie zunächst für zwei derselben sucht, dann für diese Resultante u. eine dritte Kraft u. s. s. Alles dieses kann man die A. der Kräfte nennen, wenn die Regel derselben auch nur in einzelnen Fällen auf einer arithmetischen Addition beruht. Auch in dem Falle pflegt man noch von einer Addition der Kräfte zu sprechen, wenn die letzteren nicht gleichzeitig, sondern successive auf denselben Punkt wirken, obwohl dann nicht eigentlich die Kräfte, sondern die Wirkungen derselben, d.i. die durch sie erzeugten Geschwindigkeiten, zu einer vereinigt werden. Es ist nun begreiflich, daß auch sehr kleine Kräfte, wenn sie nur in hinreichend großer Zahl nach einander u. immer in demselben Sinne auf den beweglichen Punkt wirken, welcher der Träger einer gewissen Masse sein mag, eine sehr große Wirkung erzielen können, u. dies ist die eine Bedeutung, welche man dem Ausdrucke A. k. K. beizulegen hat. Sie kommt namentlich dann zum Vorschein, wenn der Angriffspunkt, od. auch die fest unter einander zusammenhängenden Angriffspunkte aller jener Kräfte, vermöge ihrer Verknüpfung mit noch anderen Massentheilchen in der Lage sind schwingende Bewegungen zu machen u. wenn dann die fraglichen kleinen Kräfte periodisch wiederkehren, so daß die Periode dieser Wiederkehr der Periode der Schwingungen gleich od. ein Vielfaches davon ist. Wenn z.B. am Strange einer schweren Glocke eine kurze Zeit lang ein verhältnißmäßig kleines Gewicht, das Gewicht eines Knaben, sich anhängt, so verursacht dies eine pendelartige Bewegung der Glocke; wird sich nun das nämliche Gewicht allemal beim Niedergange desselben Hebelarmes aufs neue anhängen, so vergrößert sich allmälig die Amplitude der Schwingungen, bis der wachsende Reibungswiderstand sich aufhebt, mit der Beschleunigung durch das Gewicht, u. durch diese A. k. K. kann eine sehr bedeutende Bewegung der Masse herbeigeführt werden. Ebenso ist es bekannt, daß eine Schaar marschirender Menschen eine Brücke zum Einsturz bringen kann, wenn der Takt des Marschirens in Übereinstimmung ist mit der Schwingungsperiode des gespannten Brückenbogens. Dahin gehört auch die Erscheinung, daß die außerordentlich kleinen Schallschwingungen der Luft bei einiger Andauer eine gespannte Saite od. Membran in Mitschwingung versetzen, wenn letzterer gleiche Schwingungsdauer zukommt. Auch ein an einem Faden befestigter Ring in der Hand gehalten kommt gewöhnlich nach u. nach zu beträchtlichen Schwingungen, weil die unwillkürlichen u. unmerklich kleinen Bewegungen der Hand dem Takte der Pendelschwingungen zu folgen pflegen. In ähnlicher Weise erklärt sich die Erscheinung des Tischrückens (s. d), welches vor einiger Zeit so großes Aufsehen machte. In allen diesen Fällen hat man es allerdings nicht mit einem vollkommen frei beweglichen Punkte zu thun, welches doch die Voraussetzung der ganz allgemeinen Addition der Kräfte war, sondern mit einem solchen, der in Folge von nebenher existirenden Kräften gezwungen ist, wenn er sich einmal bewegt, dies in pendelartigen Schwingungen zu thun. Auch ist es in der That, wenn man beabsichtigt die genannten Bewegungserscheinungen mathematisch zu verfolgen, unvermeidlich, die damit verknüpften Variationen jener nebenher existirenden Kräfte mit zu berücksichtigen, u. insofern würden eben jene bewegenden Kräfte nicht einfach addirt werden. Allein dies ist es nicht, worauf in vorliegenden Fällen der Sprachgebrauch Gewicht legt, er betont vielmehr, wenn er hier von A. k. K. spricht, die Kleinheit der Kräfte gegenüber der Größe ihrer gemeinschaftlichen Wirkung. Dagegen findet der Ausdruck A. k. K. noch in einem andern Sinne Anwendung, indem gerade auf den zuletzt erwähnten Umstand Rücksicht genommen wird, nämlich auf die Grenze, innerhalb welcher die Zusammensetzung der Kräfte eine Addition durch das Parallelogramm der Kräfte bleibt, ohne weitere Berücksichtigung von Nebenbedingungen. Wenn nämlich der Angriffspunkt mehrer gleichzeitig wirkender Kräfte nicht vollkommen frei beweglich ist, sondern als Theil eines elastischen Körpers vermöge seines Zusammenhangs mit den übrigen Theilen in einer gewissen Gleichgewichtslage erhalten wird u. jede einzeln auf ihn wirkende Kraft diese gegenseitige Lage ändern würde, so tritt eine Addition der Kräfte nur dann ein, d.h. die Bewegung, welche der Punkt in Folge mehrer gleichzeitig wirkender Kräfte ausführt, entspricht nur dann einfach dem Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte, wenn jede einzelne Kraft sehr klein ist, wenn also die Veränderung des Abstandes jenes Angriffspunktes von den benachbarten Theilchen des elastischen Körpers im Vergleich zu diesem Abstande selbst sehr klein ist. Widrigenfalls wird es erforderlich, die merkliche Veränderung der Elasticitätsverhältnisse noch als eine neu hinzukommende Kraft mit in Rechnung zu ziehen. Man betont bei dieser Anwendung des Begriffs der Ak. K. die Kleinheit der Kräfte insofern, als größere Kräfte eine andere Art der Zusammensetzung nothwendig machen. So ist es bekannt, daß mehre Wellenzüge gleichzeitig u. in ihren Richtungen sich kreuzend über eine Wasserfläche sich fortpflanzen können, ohne sich zu stören, d.h. jedes Wassertheilchen beschreibt den Weg, welchen ihm die Resultante der Kräfte vorschreibt, die von Seiten der verschiedenen Wellensysteme auf dasselbe ausgeübt werden, u. das Auge kann bequem die einander superponirten Wellenzüge verfolgen. So pflanzen sich auch durch die Luft gleichzeitig sehr viele verschiedene Tonschwingungen fort, jedes Lufttheilchen führt eine aus den einzelnen Bewegungen nach dem Parallelogramm der Kräfte zusammengesetzte Bewegung aus, falls die Elasticitätsverhältnisse nicht merklich geändert werden, u. das Ohr analysirt dieselben wieder u. erkennt die einzelnen Wellenzüge. Sind dagegen die einzelnen Kräfte zu groß, werden die Ausweichungen der Lufttheilchen aus der durch die Elasticität der Luft bedingten Gleichgewichtslage zu beträchtlich, so tritt eine andere Art der Zusammensetzung ein, u. hierin hat Helmholtz die Quelle der Combinationstöne gefunden.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 19. Altenburg 1865, S. 786-787.
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