Max Weber

Der verschärfte U-Bootkrieg[146] 1

Einen »Weg zum Frieden«, d.h. zu einem Frieden an einem früheren als dem sonst dafür zu erwartenden Zeitpunkt, bietet der verschärfte U-Bootkrieg nur unter der Voraussetzung, daß entweder ein Eingreifen Amerikas aus diesem Anlaß nicht zu erwarten ist, oder daß, wenn es stattfindet, es keine stark ins Gewicht fallende Belastung unserer eigenen Lage bedeutet, oder endlich, daß diese Belastung sich bestimmt erst so spät fühlbar macht, daß vorher England zur Kapitulation gezwungen worden ist.


Zu diesen Voraussetzungen nun ist zu bemerken:

1. Es steht leider fest, daß Amerika bei einem Eingreifen so gut wie nichts riskiert und den Krieg zeitlich unbeschränkt führen kann. Im Bunde mit England geführt, wäre er die denkbar beste Versicherung gegen die japanische Gefahr.

2. Jeder Kenner Amerikas muß als wahrscheinlich ansehen, daß ein Krieg von ihm mit mindestens der gleichen Hartnäckigkeit geführt würde wie bisher von England, und daß im Falle unserer[146] Unfähigkeit, ihn durchzuhalten, wir überaus schmähliche Bedingungen annehmen müßten.

3. Falls nicht eine überaus schnelle Kapitulation Englands erzwungen wird – eine Chance, von der noch zu sprechen ist –, bedeutet das Eingreifen Amerikas eine Verlängerung des Krieges um mehrere Jahre.


Es soll hier nicht allgemein erörtert werden, wie eine derartige Verlängerung von uns auszuhalten wäre:

finanziell –,

in bezug auf unsere Versorgung mit Rohstoffen –,

im Hinblick auf die allmähliche seelische und körperliche Abnutzung unserer Truppen –,

im Hinblick auf die Chance eines Separatfriedens der Türkei, welcher bei den politisch irrationalen Bedingungen dort und angesichts des Umstandes, daß wir unsererseits Annexionen erstreben, der Türkei aber keine solche zu bieten vermögen, stets möglich, bei einer unabsehbaren Verlängerung des Krieges aber wahrscheinlich scheint (Finanzen! Feldarbeiter- und Nahrungsmittelnot!).


Fest steht jedenfalls: unsere Gegner würden durch ein nicht unbedingt verspätetes Eingreifen Amerikas materiell und moralisch auf praktisch unabsehbare Zeit zur Fortführung des Krieges befähigt. Schon die bloße Chance, daß ein Zufall ein solches Eingreifen herbeiführen könnte, wird die Gegner, selbst schweren Mißerfolgen zum Trotz, so lange aufrecht erhalten, bis jene Chance ausgeschaltet ist.

Im übrigen ergibt sich, wenn man von der Möglichkeit einer schnellen Kapitulation Englands zunächst einmal absieht und also mit der Verlängerung des Krieges durch Amerikas Eingreifen rechnet, folgendes Bild:

I. Nach dem Kriege würde beim Ausbleiben der Zufuhr neutralen Kapitals das wichtigste Kriegsziel Englands: Vernichtung unserer Konkurrenzfähigkeit, erreicht sein. Es würden infolge der dann eintretenden Unmöglichkeit der Retablierung unserer Industrie die denkbar schwerste wirtschaftliche Depression und bisher unbekannte soziale Spannungen gefährlichster Art uns sicher sein. Ein gemeinsamer Krieg [beider Mächte] gegen Deutschland verflicht das amerikanische Kapital so innig mit der City von London, daß es schlechthin »feindliches« Kapital werden würde.

[147] II. Für unsere Interessen gleichgültig wäre, daß die Schwächung Englands dabei die City in ein Anhängsel der Neuyorker Finanzmächte verwandeln würde. Denn dies würde die Machtstellung des feindlich interessierten Kapitals nur weiter stärken. Unabhängig von allen Friedensbedingungen wäre damit der Krieg im Effekt wirtschaftlich verloren. Die unzweifelhaft schon heute, neben sozialen Beziehungen der Amerikaner zu England, starken materiellen Beziehungen gewisser Finanzkreise dort zur City haben nicht im entferntesten die dann eintretende beherrschende Tragweite.

III. Die Zeichnung unserer Kriegsanleihe würde schwer gefährdet. Die bei Verlängerung des Krieges befürchtete assignatenartige Papier[geld]entwertung und die Unsicherheit des Ausganges schrecken schon jetzt, wie zahlreiche Anfragen potenter Privatleute ergeben, Teile des Privatpublikums ab. Dies könnte sich bei Eintritt des Krieges leicht katastrophal steigern. Der bekannte »Kreislauf« als Quelle der Zeichnungspotenz hat bekanntlich zwar elastische, doch aber endgültige Schranken. Jene Haltung wäre also eine ernste Gefahr.

IV. Daß diese Befürchtungen absolut sinnlos seien, läßt sich ernstlich nicht behaupten. Dauernde Papier[geld]wirtschaft bei Abschneidung der Zufuhr neutralen Kapitals als Folge des Krieges für uns würde bedeuten, daß England sein wirtschaftliches Kriegsziel erreicht hätte. Ihm selbst stände schlimmstenfalls zur Retablierung seiner Währung, neben der Herrschaft über die Goldminen, die Finanzkraft Amerikas zufolge der gestiegenen ökonomischen Verflechtung zur Verfügung. Die dabei entstehende Herrschaft der Neuyorker Finanzmächte über die City wäre für unser Interesse auch hier keine Wendung zum Besseren. Wir hätten unsere weltpolitische Zukunft für absehbare Zeit verspielt.

V. Falls Amerika den Krieg als Subsidienkrieg führt, so würde damit die sonst sichere Deklassierung der Währung Italiens hintangehalten, Frankreich und England die Notwendigkeit von Maßregeln, welche einer teilweisen Zahlungseinstellung gleichkämen, endgültig erspart.

Dagegen wäre, von der Türkei ganz abgesehen, die endgültige Deklassierung der Währung Österreich-Ungarns absolut sicher und ebenso eine langdauernde valutarische Lähmung Deutschlands. Nach dem Kriege wären mithin alle kreditbedürftigen Staaten auf den[148] guten Willen unserer Gegner angewiesen. Der Krieg wäre für uns also auch bei äußerlich günstigen Friedensbedingungen im politischen Effekt verloren.

VI. Die Gegner könnten während des Krieges, falls sie nicht vernichtende Niederlagen erleiden, in aller Ruhe und stets erneut ihre Munitionsvorräte und Mannschaftsreserven ergänzen, unter Heranziehung des gewaltigen amerikanischen Werbungsmarktes. Denn jeder Kenner Amerikas muß es für höchst wahrscheinlich halten, daß eine überaus große, nach vielen Hunderttausenden zu schätzende Anzahl gut [aus]gerüsteter und sportlich trainierter amerikanischer Freiwilliger an der Westfront erscheint. Ganz abgesehen davon, daß die Geschäftskrisis auch in Amerika Kräfte für diese Art der Verwendung freisetzen wird. Es gibt eben in Amerika in allen Schichten der Bevölkerung Kreise, auf welche das Erleben eines Krieges, wenn er einmal Realität ist, einen mächtigen Reiz ausüben wird, und es ist ganz dringend davor zu warnen, die törichten Vorstellungen, welche über die Kriegswilligkeit der Engländer, namentlich ihrer gebildeten Schichten, vor dem Krieg bei uns herrschten, nun bei den Amerikanern erneut ihre Rolle spielen zu lassen.


Die Möglichkeit eines Bruches mit Amerika um des U-Bootkrieges willen wäre daher unter Zukunftsperspektiven selbst dann äußerst gefährlich, wenn die Chance bestände, England zur Kapitulation zu zwingen, es sei denn, daß dies in wenigen Monaten geschehen könnte. Die Frage aber, ob eine solche ernsthafte Chance besteht, ist mit einer Anzahl politischer und ökonomischer Voraussetzungen belastet, welche keineswegs auch von noch so hervorragenden Marinesachverständigen endgültig beantwortet werden können. Sie bedürfen einer von jeder pathetischen und Gefühlspolitik absolut freien, ganz nüchternen Berechnung, ehe irgendein Schritt geschieht.

I. Dabei ist vor allem davon auszugehen, daß England, von einer wirklichen Blockade bedroht, etwa die gleichen Maßregeln zum Zwecke des Durchhaltens ergreifen wird und, entgegen voreiligen Vorstellungen, auch durchführen kann wie wir. Wir müssen die Voraussetzung machen, daß unser jetziges Versorgungsmaß alsdann dort durchgeführt werden würde. (Konsumregulierung, Höchstpreis, Beschlagnahme der Handelsschiffe, Stillegung aller nicht für absolut unentbehrliche Bedürfnisse arbeitenden Industrien, vor allem derjenigen, deren Rohstoffeinfuhr viel Tonnage beansprucht.) Daneben[149] würde die Einfuhr der Lebensmittel in der mindestvoluminösen Form (Mehl, Gefrierfleisch, Konserven) erfolgen. Im Laufe von 4 bis 5 Monaten wäre dies, wenn auch nicht ohne peinliche Schwierigkeiten und bedeutende Kosten, ohne allen Zweifel durchführbar und würde durchgeführt werden, sobald England den Enderfolg des Krieges davon abhängig wüßte und des langsam steigenden Druckes der Hilfe Amerikas sicher wäre.

Folglich müßte berechnet werden, welcher Mindesttonnage unter derartigen Voraussetzungen England absolut bedarf. Dieselbe wäre ganz überraschend gering, und zu ihrer Ergänzung ständen alle Werften der Welt (außer den deutschen) zur Verfügung.

Diese sehr eingeschränkte Zufuhr könnte nun aber überdies unter Benutzung südlicher Routen nach südfranzösischen, portugiesischen, spanischen, italienischen Häfen und von da an die Kanalküste mit der Bahn zur Seeverfrachtung gebracht werden. Es sei denn, daß wirklich die zunächst ganz unglaubwürdige Behauptung erwiesen würde, daß die erforderlichen Waggons hierfür auf keine Weise beschafft werden können.

II. Angesichts dessen müßte ferner festgestellt werden, welcher Grad von Absperrung der Kanalüberfahrt von Frankreich nach England zu garantieren ist. Ob auch zur Nachtzeit? (Was jetzt nicht der Fall ist.) Ob auch bei Benutzung zahlreicher kleiner Transportschiffe, welche (wie jetzt) eine wirklich umfassende Torpedierung möglichst aller Transporte unmöglich machen? Ob auch bei Schutz durch Torpedoboote des Feindes? Wie bekannt, ist für die Truppen- und Munitionssendungen nach Frankreich wegen dieser Schwierigkeiten die Absperrung bisher praktisch nicht gelungen, und sie gilt, soviel bekannt, auch als nicht ausführbar. Je nach dem Grade der möglichen oder nichtmöglichen Absperrung dieses Einfalltores richtet sich aber die Chance des U-Bootkrieges. Denn es darf als unwahrscheinlich gelten, daß vermittels der U-Boote außer England selbst auch alle jene südlichen Routen kontrolliert werden können. Die technischen Möglichkeiten des U-Bootbaues in Deutschland sind ungefähr übersehbar. Ebenso ist die sehr bedeutende Mindestzeit, welche der Bau von U-Bootmotoren beansprucht, ungefähr bekannt. Daraus ergibt sich die ungefähre Zahl und die Ergänzungschance der neuen U-Boote, und wenn diese auch nur annähernd zutrifft, so muß schon eine wirkliche Blockade Englands als Utopie gelten, falls nicht ganz neue und unbekannte Rechnungsposten in Betracht kommen.

[150] III. In Betracht ist ferner zu ziehen, daß beim Eingreifen Amerikas zunächst die konfiszierte deutsche Tonnage dem Feinde zuwächst und es vermutlich mehrere Monate dauern wird, bis zunächst einmal auch nur der jetzige Stand der für Englands Versorgung verfügbaren Schiffsräume durch Torpedierung wieder hergestellt ist.

Daß dabei England, selbst im Fall sehr starker eigener Verluste, eins seiner Kriegsziele: eine furchtbare Dezimierung unserer Handelsflotte erreicht haben, seinerseits aber zur relativ schnelleren Retablierung seiner Flotte nach dem Kriege instand gesetzt und daß Amerika billig in den Besitz eines Teils unserer Handelsflotte gelangt sein würde, dürfte immerhin auch in Betracht kommen.

Es darf wohl angenommen werden, daß alle diese Erwägungen auch von den maßgebenden amtlichen Instanzen des Reiches in Betracht gezogen sind.

IV. Die Frage, wieweit durch Konvoyierung der für die absolut unentbehrliche Einfuhr nötigen Schiffe in Gruppenfahrten mittels Torpedobooten oder durch andere im Bereich des Möglichen liegende Mittel der Wirksamkeit der U-Boote Abbruch getan [werden kann,] und [die Möglichkeit,] daß die Handelsschiffe zu deren Bekämpfung vielleicht zunehmend wirksamer ausgerüstet werden können, dürften ebenfalls erwogen sein. Allein in jedem Falle bleibt es höchst gefährlich, auf ein in sehr begrenzter Quantität verfügbares, nicht schnell ergänzbares, rein technisches und also technischen Umwälzungen preisgegebenes Mittel Entschlüsse von einer für unsere ganze Zukunft ungeheuren Tragweite aufzubauen.

V. Irgendwelche Erhöhung der Handelsfrachten und Versicherungsspesen, mit denen (unglaublicherweise) in der Presse operiert wird, kommen für England im Falle des Eingreifens Amerikas selbstverständlich überhaupt nicht mehr in Betracht, zumal bei einer Beschlagnahme der [deutschen] Handelstonnage.

VI. Als sicher ist anzunehmen, daß die Frage der Rückwirkung des amerikanischen Drucks auf die Neutralen (Holland) erwogen worden sein wird. In Betracht zu ziehen ist dabei selbstverständlich die bei längerer Dauer sicher zu gewärtigende schärfste mögliche Form desselben und deren äußerste mögliche Konsequenzen.

VII. Es ist zu hoffen, daß einwandfrei festgestellt ist, welche Rohstoff- und Lebensbedarf-Zufuhren trotz allem jetzt noch über neutrale Länder zu uns gelangen und im Fall des Eingreifens Amerikas fortfallen würden und welche Rückwirkung dies auf die Chancen eines[151] noch mehrjährigen Durchhaltens des Kriegs für uns haben würde. Ganz gering sind jene Quantitäten nach allem, was bekannt ist, kaum.


Die Erörterungen in der in fast allen Parteien sich findenden Presse der sogenannten »scharfen Tonart« über die Frage des U-Bootkrieges und über die Chancen des Eingreifens Amerikas, welche sich teilweise als fachmäßig informiert hinstellen, haben unseren Interessen schon jetzt schweren Schaden zugefügt. In zwei Richtungen:

I. Sie erweckten mit der ersten Frage: »Gibt es einen anderen Weg zum Frieden?« bei Freunden, Feinden und Neutralen den verhängnisvollen Anschein, daß wir materiell und seelisch außerstande seien, die kaiserliche Parole des »Durchhaltens« so lange wirklich zu befolgen, bis der Gegner von der Aussichtslosigkeit unserer Niederwerfung überzeugt sei, daß also die deutsche militärische Leitung aus diesem Grunde zu einer Verzweiflungspolitik genötigt sei.

II. Sie haben diesen Anschein mit dem allerschlimmsten Erfolge auch bei massenhaften privaten Kreisen im Inland und selbst im Heere hervorgerufen. Das plötzliche aufgeregte, oft geradezu hysterisch anmutende Rufen nach einem »Weg zum Frieden«, die aufgeregte Ablehnung des Eingehens auf sachliche Erörterung, der plötzliche Meinungswechsel einflußreicher Kreise innerhalb weniger Wochen und zwar, wie sich stets herausstellte, ohne alle und jede neuen sachlichen Informationen, waren erschreckende und objektiv höchst gefährliche Erscheinungen. Man braucht sich nur zu verdeutlichen, welcher Rückschlag erfolgen wird, wenn das verlangte einzige Mittel den in Aussicht gestellten Erfolg nicht voll erzielt. Und es muß offen gesagt werden: daß die moralische Feigheit, sich nicht als einen Flaumacher hinstellen zu lassen, dabei eine gelegentlich überaus verächtliche Rolle gespielt hat. Der Unterzeichnete hat von Anfang des Krieges an dessen Ausgang mit unbedingtem Vertrauen darauf, daß wir mit Ehren aus ihm hervorgehen werden, entgegengesehen. Zum erstenmal angesichts solcher Erscheinungen und angesichts der Chance, daß, auf einen ganz unsicheren Einsatz hin, ein Krieg mit Amerika in den Bereich der Möglichkeit tritt, hegt er ernste Besorgnisse für das Land und eventuell für die Zukunft der Dynastie.

Es wiederholten sich in letzter Zeit bei uns diejenigen Erscheinungen, welche s.Zt. Italien gegenüber auf österreichischer Seite zu beobachten waren. Zunächst versicherten einflußreiche und angeblich[152] gut informierte Kreise: Italien »bluffe« nur, obwohl Kenner Italiens das Gegenteil genau wußten. Nach der Entscheidung versicherten die gleichen Kreise: »Der Krieg sei auf jeden Fall sicher gewesen.« Daß die Unterstellung gegen[über] einer Großmacht, welche mit Krieg droht, sie bluffe, eine tödliche Verletzung bedeutet, wurde dabei ebenso übersehen, wie: daß unsere Politik, Österreich zu Zugeständnissen zu veranlassen, zu einer unverzeihlichen Torheit gestempelt würde, wenn eine jener Behauptungen, gleichviel welche, wahr gewesen wäre. Genau ebenso wechselt jetzt die Ansicht über Amerikas Absichten bei einem und demselben Politiker. Dies muß zu genau den gleichen Konsequenzen führen, und die Verantwortung dafür ist um so schwerer, als jedenfalls diesmal unbedingt keine von beiden Voraussetzungen zutraf. Sicher ist wohl freilich, daß ein bloßes Treibenlassen und ein Hin und Her zwischen Entgegenkommen unserer Regierung und Auftrumpfen in der deutschen Presse die hysterische Erregung und die auf dieser sich aufbauende Straßen- und Tribünenpolitik schließlich auch jenseits des Ozeans derart steigern könnte, daß die maßgebenden Bosses der Parteien im Wahlkampf keine andere Möglichkeit hätten, als auf eine schwere Demütigung Deutschlands oder auf den Krieg loszusteuern. Soweit irgend erkennbar, liegen heute drüben die Dinge noch keineswegs so, so unbegründet auch der mehrfach vertretene Optimismus anläßlich der Abstimmungen im Kongreß sein dürfte. Fest steht nur das eine: daß die Situation hoffnungslos verfahren wird, wenn die deutsche Öffentlichkeit aus der Art der Erledigung dieses unter allen Umständen höchst schwierigen und komplizierten Streitfalls einen Ehrenpunkt macht und so eine Lage schafft, aus der es keinen Weg rückwärts mehr gibt. Leider muß mit solchen Möglichkeiten und also damit, daß die Geschäfte Englands bei uns durch mißverstandenen, gewiß gut gemeinten patriotischen Eifer besorgt werden, gerechnet werden.

Es dürfte nach alledem Pflicht der Parteiführer sein, soweit die Regierung sich aus naheliegenden Rücksichten zu militärtechnischen Informationen außerstande sehen sollte, die bündige Zusicherung zu erbitten:

1. daß keinerlei Schritt erfolgt oder unterlassen wird, der den Krieg direkt oder indirekt, durch Engagement unserer Ehre, herbeiführen kann, ohne daß alle den Entschlüssen zugrunde liegenden Rechnungen mit dem absoluten Höchstmaß von Vorsicht gemacht worden sind,

[153] 2. daß ganz eindeutig alle diejenigen Persönlichkeiten, welche für die Richtigkeit jeder einzelnen dieser Rechnungen einstehen, als dafür verantwortlich aktenkundig gemacht werden, nebst den von ihnen angewendeten Rechnungsgrundlagen und Rechnungsmethoden. Denn stimmt auch nur ein einziger Rechnungsfaktor nicht, so kann die größte Tapferkeit der Truppen den wirtschaftlichen Zusammenbruch im Kriege und die wirtschaftliche Agonie nach dem Kriege nicht hindern.

Die innerpolitischen Folgen einer solchen wirtschaftlichen Niederlage und eines Verlustes des Krieges infolge des Eingreifens Amerikas auf Grund eines als möglich vorauszusehenden unglücklichen »Zufalls« sind mit dem Allerungünstigsten, was ohne diese Eventualität uns weiterhin widerfahren könnte, an Schwere nicht im entferntesten zu vergleichen. Denn darauf, daß das Durchhalten zunehmend schwieriger wird und vielleicht noch radikalere wirtschaftliche Maßregeln erfordert, ist in Deutschland heute jedermann gefaßt. Ebenso rechnet jedermann, wenn auch als mit einer sehr unwahrscheinlichen Möglichkeit, mit den Unberechenbarkeiten militärischer Ereignisse, die unsere Lage auch einmal nachteiliger als jetzt gestalten können. Dafür wird niemand die Regierung und den Träger der Krone verantwortlich machen. Wohl aber, ganz einerlei ob mit Recht oder Unrecht, für die Folgen einer Politik gegenüber Amerika, welche von breiten Teilen der Bevölkerung nachträglich, wenn sie fehlschlägt, als eine Abenteuerpolitik aufgefaßt werden wird2.


gez. Professor MAX WEBER,

Heidelberg[154]


Fußnoten

1 Der Verfasser hat diese bisher unveröffentlichte Denkschrift, an der Herr Dr. Felix SOMARY mitgearbeitet hat, in der ersten Märzhälfte 1916 den Parteiführern und bekannten Abgeordneten und dem Auswärtigen Amt zugestellt. Von letzterem ist sie auch dem Reichskanzler übermittelt. Damals, nach der Torpedierung der »Lusitania«, stand die Gefahr des Krieges mit Amerika auf dem Höhepunkt. Und ebenso die Agitation der konservativen und alldeutschen Kreise für den verschärften U-Bootkrieg. In einem im März aus Berlin geschriebenen Briefe des Verfassers heißt es: »Inzwischen ist die Gefahr mit Amerika auf dem Höhepunkt. Und mir ist, als ob eine Horde Irrsinniger uns regierte. Alle Leute, die vor vierzehn Tagen meiner Ansicht waren, sind umgefallen. Die vor vierzehn Tagen sagten: ›Ach, die Amerikaner schlagen ja nie los‹ –, sagen jetzt: ›Ach, die Amerikaner wollen ja den Krieg auf jeden Fall‹ – ganz wie damals bei Italien.«

DIE HERAUSGEBERIN.

2 Der Abdruck wurde überprüft an Hand der im Archiv des Max Weber Instituts in München vorhandenen Photokopie des Originals. (D.H.)


Quelle:
Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51988, S. 155.
Lizenz:

Buchempfehlung

Jean Paul

Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch

Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch

Als »Komischer Anhang« 1801 seinem Roman »Titan« beigegeben, beschreibt Jean Paul die vierzehn Fahrten seines Luftschiffers Giannozzos, die er mit folgenden Worten einleitet: »Trefft ihr einen Schwarzkopf in grünem Mantel einmal auf der Erde, und zwar so, daß er den Hals gebrochen: so tragt ihn in eure Kirchenbücher unter dem Namen Giannozzo ein; und gebt dieses Luft-Schiffs-Journal von ihm unter dem Titel ›Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten‹ heraus.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon