Max Weber

Zur Untersuchung der Schuldfrage

An die Redaktion der Frankfurter Zeitung[502] 1

Das anliegende Anschreiben möchte ich Sie bitten, mit tunlichster Beschleunigung so zu veröffentlichen, daß es etwas in die Augen fällt.

Die amtliche Antwort der Entente auf die Anregung, deutscherseits eine neutrale Kommission über die Schuldfrage einzusetzen, ist in radikal ablehnendem Sinn ausgefallen. Der Verlauf der jetzigen Berner Verhandlungen läßt nach Meinung gut unterrichteter Herren, welche über Beziehungen zur Gegenseite verfügen, einen solchen Schritt gerade von anderer als unabhängig-sozialdemokratischer Seite ratsam erscheinen. Daß der Brief nur von einem einzelnen und gerade von mir geschrieben wird, beruht auf einer Reihe von verwickelten Überlegungen.

Die Fassung beruht darauf, daß dem Auswärtigen Amt jede Art der Behandlung dieser Anregung offen gehalten werden muß, je nach Änderung der Situation. Insbesondere muß die Anregung auch als ein Vorschlag aufgefaßt werden können, eine Kommission unter Beteiligung neutraler Persönlichkeiten einzusetzen. Andererseits ist es nicht ratsam, dies auszusprechen, da sich der Versuch vielleicht schon wegen der Haltung der Neutralen als undenkbar erweist und dann das, was vielleicht zustande kommt: eine unabhängige deutsche Kommission, nicht als gegenüber der Anregung minderwertig erscheinen darf. Eine parlamentarische Untersuchungskommission einzusetzen, wäre in diesem besonderen Fall sicherlich kein zweckmäßiger Weg. Alle Erörterungen würden dann sofort unter rein parteipolitische Gesichtspunkte geraten. Mir persönlich erscheint eine Kommission aus möglichst unabhängigen und politisch ungebundenen,[502] dabei aber in politischen Dingen, insbesondere der letzten Jahre, möglichst erfahrenen Persönlichkeiten des In- und Auslandes, natürlich unter Beteiligung pazifistischer Kreise, das allein Richtige.


Die Untersuchung der Schuldfrage2

An die Redaktion der Frankfurter Zeitung


Heidelberg, den 20. 3. 1919


Die Erörterung der sogenannten Schuldfrage steht auf einem toten Punkt. Der Standpunkt deutscher Kreise, welche annexionistische Tendenzen stets, auch auf der Höhe unserer Erfolge, abgelehnt haben, wurde in der seinerzeit auch von Ihnen gebrachten Erklärung der »Heidelberger Vereinigung für eine Politik des Rechts« zum Ausdruck gebracht3. Diese Kreise wissen sich frei von irgendwelcher Absicht, die wirkliche Verantwortung der deutschen, von ihnen wiederholt scharf kritisierten Politik verkleinern zu wollen, sind aber selbstverständlich überzeugt davon, daß nur eine wirklich unparteiische Prüfung der internationalen Lage und aller Vorgänge vor und bei Ausbruch des Krieges eine geeignete Grundlage für die Beurteilung des deutschen Verhaltens bieten könnte. Auf die öffentliche Anregung, eine internationale neutrale Kommission mit einer systematischen Erhebung unter Heranziehung sämtlicher Archive zu betrauen, ist von den Gegnern nicht reagiert worden. Dabei darf es sein Bewenden nicht haben. Eine Publikation des gesamten deutschen Aktenmaterials wurde seinerzeit in Aussicht gestellt, ist bisher aber noch nicht erfolgt. Wiederholt sind die schweren Bedenken gegen eine einseitige deutsche Publikation betont worden, und sie bestehen unvermindert fort.

Allein die Zusage ist gegeben. Offizielle Weißbücher haben nun in der Öffentlichkeit nicht die nötige überzeugende Kraft: Es besteht die begründete Auffassung, daß Aktenmaterialien allein Aufklärung über die Hergänge nicht schaffen können, daß vielmehr unbedingt eine mit allen Garantien der Sachlichkeit und Vollständigkeit umgebene [503] Vernehmung der beteiligten Persönlichkeiten hinzuzutreten hätte. Diese Persönlichkeiten leben in der Mehrzahl jetzt noch, und es wäre dringend zu wünschen, daß die Aufklärung über die Motive ihres Handelns nicht der Memoiren-Publikation künftiger Jahrzehnte überlassen bleibt, sondern daß sie alle unter Gegenüberstellung untereinander und mit dem Aktenbefund jetzt veranlaßt werden, sich erschöpfend, wenn möglich im Kreuzverhör, vor einer in jeder Hinsicht unbefangenen Instanz zu äußern. Eine solche Instanz müßte besonders geschaffen werden. Ein gegen wen immer gerichtetes Verfahren vor einem künftigen Staatsgerichtshof würde gerade den entscheidenden Dienst nicht leisten. Denn um die Feststellung von Schuld im juristischen Sinne handelt es sich nicht, die Erforschung politischer Vorgänge aber durch eine deutsche juristische Körperschaft würde vor dem Forum der Welt schwerlich die genügende Autorität genießen. Er fragt sich also, ob eine Form gefunden werden kann, die Prüfung der deutschen Akten in Verbindung mit der Einvernahme aller an den Vorgängen handelnd Beteiligten und, je nach Ermessen und Möglichkeit, auch anderer Zeugen einer Instanz zu unterbreiten, welche durch ihre Zusammensetzung jedem unbefangenen Urteil, insbesondere aber künftigen, den Leidenschaften der Gegenwart entrückten Geschlechtern jede denkbare Garantie dafür böte, daß wirklich alle für die Beurteilung der deutschen Politik erheblichen Tatsachen so weit aufgeklärt werden, als dies überhaupt möglich ist. Das Ziel wäre:

1. umstrittene Tatsachen und Zusammenhänge aufzuklären,

2. jenes Bild der Weltlage, welches den deutschen Staatsmännern nach ihren Informationen bei ihrer Politik vor Augen stand, erschöpfend festzustellen,

3. ihr Verhalten gegenüber diesem ihnen vorschwebenden Sachverhalt in seinen Motiven aufzuklären.

Das Auswärtige Amt wird sich der Pflicht kaum entziehen dürfen, die Öffentlichkeit wissen zu lassen, ob und welche Schritte es zu unternehmen gedenkt, um diesem Verlangen nach einer objektiven Klarstellung des deutschen Verhaltens zu entsprechen, und so eine Aufklärung herbeizuführen, welche ganz unabhängig davon erfolgen muß, wie sich die Gegner verhalten.


gez. Prof. MAX WEBER[504]


Fußnoten

1 Begleitschreiben vom 20. März 1919 zum nachstehenden Artikel [vgl. Gesammelte Politische Schriften, 1. Aufl. 1921, S. 487]. (D.H.)


2 Frankfurter Zeitung vom 22. März 1919.


3 Frankfurter Zeitung vom 13. Februar 1919.

Zu vgl. MARIANNE WEBER, MAX WEBER – ein Lebensbild (1926), S. 659. (D.H.)


Quelle:
Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51988, S. 505.
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