III. Knies und das Irrationalitätsproblem.

[105] 4) Die »Einfühlung« bei Lipps und die »Anschauung« bei Croce S. 105. – »Evidenz« und »Geltung« S. 115. – Heuristisches »Gefühl« und »suggestive« Darstellung des Historikers S. 118. – Die »rationale« Deutung S. 126. – Die doppelte Wendung der Kausalitätskategorie und das Verhältnis zwischen Irrationalität und Indeterminismus S. 132. – Der Begriff des Individuums bei Knies. Anthropologischer Emanatismus S. 138.


Für die Erörterung der logischen Stellung des »Deutens« (in dem hier festgehaltenen Sinne) ist zunächst ein Blick auf gewisse moderne Theorien über seinen psychologischen Hergang unvermeidlich.[105]

Nach Lipps158, welcher, wennschon wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Begründung der ästhetischen Werte, eine eigenartige Theorie der »Deutung« entwickelt hat, ist das »Verstehen« der »Ausdrucksbewegung« eines anderen, z.B. eines Affektlautes, »mehr« als bloßes »intellektuelles Verständnis« (S. 106). Es enthält »Einfühlung«, und diese für Lipps grundlegende Kategorie ist ihrerseits (nach ihm) ein Seitentrieb der »Nachahmung«, nämlich die ausschließlich »innere« Nachahmung eines Vorganges (S. 120), z.B. des Seiltanzens eines Akrobaten – als eines »eigenen«. Und zwar ist es nicht reflektierende Betrachtung des fremden Tuns, sondern eigenes, aber rein innerlich bleibendes »Erlebnis«, neben welchem das »Urteil«, daß – im Beispiel – nicht ich, sondern eben der Akrobat auf dem Seile steht, »unbewußt« bleibt (S. 122)159. Aus dieser »vollkommenen« Einfühlung, welche also ein gänzliches inneres Hineingehen des »Ich« in dasjenige Objekt, in welches man sich »einfühlt«: – ein wirkliches phantastisches, eigenes (inneres) Tun also, nicht etwa ein bloß phantasiertes, d.h. zum Objekt einer »Vorstellung« gemachtes Tun160, – bedeutet, und welches Lipps als ästhetische »Einfühlung« zur konstitutiven Kategorie des ästhetischen Genusses erhebt, entwickelt (nach ihm) sich das »intellektuelle Verständnis« dadurch, daß, um im Beispiel zu bleiben, zunächst jenes »unbewußte« Urteil: – »nicht ich, sondern der Akrobat steht (oder: stand) auf dem Seil« – ins Bewußtsein erhoben, und damit das »Ich« in ein »vorgestelltes« (auf dem Seil) und ein »reales« (jenes andre sich vorstellendes) sich zerspaltet (S. 125), so daß alsdann die – wie Münsterberg sagen würde: – »Objektivierung« des Vorganges, insbesondere also seine kausale Interpretation, beginnen kann. Ohne vorangegangene[106] kausale »Erfahrung« ist andererseits aber »Einfühlung« nicht möglich: ein Kind »erlebt« den Akrobaten nicht. Aber – dürfen wir in Lipps' Sinne einschalten – diese »Erfahrung« ist nicht das objektivierte Produkt nomo logischer Wissenschaft, sondern die anschaulich »erlebte« und erlebbare, mit dem Begriff des »Wirkens«, der »wirkenden Kraft«, des »Strebens« verknüpfte Subjektkausalität des Alltags. Dies äußert sich insbesondere bei der »Einfühlung« in reine »Naturvorgänge«. Denn die Kategorie der »Einfühlung« ist nach Lipps keineswegs auf »psychische« Vorgänge beschränkt. Wir »fühlen« uns vielmehr auch in die physische Außenwelt ein, indem wir Bestandteile ihrer als Ausdruck einer »Kraft«, eines »Strebens«, eines bestimmten »Gesetzes« usw. gefühlsmäßig »erleben« (S. 188), und diese phantastisch »erlebbare«, anthropomorphe individuelle Kausalität in der Natur ist nach Lipps die Quelle der »Naturschönheiten«. Die »erlebte« Natur besteht im Gegensatz zur objektivierten, d.h. in Relationsbegriffe aufgelösten oder aufzulösenden, aus »Dingen« ganz ebenso, wie das erlebte eigene »Ich« ein Ding ist, – und der Unterschied zwischen »Natur« und »Ich« liegt eben darin, daß das »erlebte Ich« das einzige reale »Ding« ist, von dem alle »Natur«individuen ihre anschaulich »erlebbare« Dinghaftigkeit und »Einheit« zu Lehen tragen (S. 196).

Wie man nun auch über den Wert dieser Aufstellungen für die Begründung der Aesthetik denken mag: für logische Erörterungen ist vor allem daran festzuhalten, daß das »individuelle Verstehen« – wie das ja auch bei Lipps wenigstens angedeutet ist – nicht ein »eingefühltes Erlebnis« ist. Aber jenes entwickelt sich auch nicht in der Art aus diesem, wie Lipps es darstellt. Wer sich in den Lippsschen Akrobaten »einfühlt«, »erlebt« ja weder, was dieser auf dem Seil »erlebt«, noch was er »erleben« würde, wenn er selbst auf dem Seil stände, sondern etwas dazu nur in durchaus nicht eindeutigen, phantastischen Beziehungen Stehendes, und deshalb vor allem: etwas, was nicht nur keinerlei »Erkenntnis« in irgendeinem Sinne enthält, sondern auch garnicht das »historisch« zu erkennende Objekt enthält. Denn dies wäre eben doch im gegebenen Falle das Erlebnis des Akrobaten und nicht dasjenige des Einfühlenden. Nicht eine »Spaltung« des einfühlenden Ich tritt also ein, sondern die Verdrängung des eigenen Erlebnisses durch die Besinnung auf ein fremdes als »Objekt«, wenn die Reflexion beginnt. Richtig ist nur, daß[107] auch das »intellektuelle Verständnis« in der Tat ein »inneres Mitmachen«, also »Einfühlung«, in sich schließt, – aber, sofern es »Erkenntnis« beabsichtigt und erzielt, ein »Mitmachen« zweckvoll gewählter Bestandteile. Die Ansicht, daß die Einfühlung »mehr« sei als bloßes »intellektuelles Verständnis«, kann also nicht ein Plus an »Erkenntniswert« im Sinne des »Geltens« behaupten, sondern besagt nur, daß kein objektiviertes »Erkennen«, sondern reines »Erleben« vorliegt. Im übrigen ist entscheidend, ob die von Lipps dem »Ich« und nur ihm zugeschriebene reale »Dinghaftigkeit« Konsequenzen für die Art der wissenschaftlichen Analyse »innerlich nacherlebbarer« Vorgänge haben soll. Die letztgenannte Frage aber bildet einen Bestandteil des universelleren Problems nach der logischen Natur der »Dingbegriffe«, dessen allgemeinste Formulierung wiederum sich dahin zuspitzen läßt: gibt es denn überhaupt Dingbegriffe? Man hat es immer wieder geleugnet, und welche Konsequenzen dieser Standpunkt für die logische Beurteilung speziell der Geschichte haben muß, zeigt neuestens wieder in typischer Weise der geistvolle italienische Widerpart der Ansichten von Lipps und des Psychologismus überhaupt in der Philologie und Aesthetik: Benedetto Croce161. »Dinge sind Anschauungen«, meint Croce, »Begriffe dagegen beziehen sich auf Beziehungen zwischen Dingen«. Der Begriff, welcher seinem Wesen nach nur genereller und also abstrakter Natur sein kann, ist daher »nicht mehr« Anschauung, aber er ist es anderseits »doch noch«, da er ja eben schließlich seinem Inhalt nach nur verarbeitete Anschauung ist. Die Folge seines notwendig abstrakten Charakters ist jedoch, daß »Dinge«, da sie stets individuell sind, nicht in Begriffe eingehen, sondern nur »angeschaut« werden können: ihre Erkenntnis ist also nur »künstlerisch« möglich. Ein »Begriff« von etwas Individuellem ist contradictio in adjecto, und die Geschichte, welche das Individuelle erkennen will, ist eben deshalb »Kunst«, d.h. eine Aneinanderreihung von »Intuitionen«. Denn ob eine Tatsache unsres Lebens »wirklich war« – worauf es ja der Geschichte allein ankommt –, lehrt keine begriffliche Analyse, sondern allein die »Reproduktion der Anschauungen«: – »Geschichte ist Gedächtnis«, und die Urteile, welche ihren Inhalt ausmachen, enthalten, als bloße »Einkleidung des Eindrucks einer Erfahrung«, keinerlei[108] »Setzung von Begriffen«, sondern sind nur »Ausdrücke« von Anschauungen. Es kann daher die Geschichte Gegenstand »logischer« Bewertung gar nicht werden, denn die »Logik« befaßt sich nur mit (Allgemein-)Begriffen und ihrer Definition162.

Solche Aufstellungen sind die Konsequenz folgender naturalistischer Irrtümer: 1. Daß nur Relationsbegriffe, und – da die Relationsbegriffe der unmittelbaren Alltagserfahrung selbstverständlich genau so viel »Anschauung« enthalten wie irgendein Dingbegriff163 – nur Relationsbegriffe von absoluter Bestimmtheit, d.h. aber: in Kausalgleichungen ausdrückbare Relationsbegriffe überhaupt »Begriffe« seien. Ausschließlich mit solchen Begriffen aber arbeitet nicht einmal die Physik. – 2. Die damit zusammenhängende Behauptung, daß »Dingbegriffe« keine »Begriffe« seien, sondern »Anschauungen«, ist die Folge des Ineinanderschiebens verschiedener Bedeutungen der Kategorie der »Anschaulichkeit«. Wie die anschauliche Evidenz des mathematischen Lehrsatzes etwas anderes ist als die für die »Erfahrung« unmittelbar gegebene, »in« und »außer« uns erlebte und erlebbare »Anschaulichkeit« des Mannigfaltigen – »kategoriale« Anschauung im Gegensatz zur »sinnlichen« nach Husserls Terminologie164 –, so ist das Crocesche Ding und insbesondere auch das Lippssche Ding κat? ??????: das »Ich«, so, wie es die empirische Wissenschaft anwendet, etwas gänzlich anderes als der »erlebte«, zu einer rein sinnlich oder gefühlsmäßig anschaulichen »Einheit« zusammengeflossene und als solche durch »Gedächtnis« oder »Ichgefühl« psychologisch zusammengehaltene Komplex von Bewußtseinsinhalten. Wo die empirische Wissenschaft eine gegebene Mannigfaltigkeit als »Ding« und damit als »Einheit« behandelt, z.B. die »Persönlichkeit« eines konkreten historischen Menschen, da ist dieses Objekt zwar stets ein nur »relativ bestimmtes«, d.h. ein stets[109] und ausnahmslos empirisch »Anschauliches« in sich enthaltendes gedankliches Gebilde, – aber es ist gleichwohl eben ein durchaus künstliches Gebilde165, dessen »Einheit« durch Auswahl des mit Bezug auf bestimmte Forschungszwecke »Wesentlichen« bestimmt ist, ein Denkprodukt also von nur »funktioneller« Beziehung zum »Gegebenen« und mithin: ein »Begriff«, wenn anders dieser Ausdruck nicht künstlich auf nur einen Teil der durch denkende Umformung des empirisch Gegebenen entstehenden und durch Worte bezeichenbaren Gedankengebilde beschränkt wird. – Schon deshalb ist natürlich auch: 3. die weitverbreitete und von Croce akzeptierte Laienansicht durchaus irrig, als ob die Geschichte eine »Reproduktion von (empirischen) Anschauungen« oder ein Abbild von früheren »Erlebungen« (des Abbildenden selbst oder anderer) sei. Schon das eigene Erlebnis kann, sobald es denkend erfaßt werden soll, nicht einfach »abgebildet« oder »nachgebildet« werden: das wäre eben kein Denken über das Erlebnis, sondern ein nochmaliges »Erleben«166 des früheren oder vielmehr, da dies unmöglich ist, ein neues »Erlebnis«, in welches das – für eine denkende Betrachtung sich stets als nur relativ begründet herausstellende – »Gefühl« mit »eingeht«, »dies« (d.h. einen unbestimmt bleibenden Bestandteil des als präsentes »Erlebnis« Gegebenen) schon einmal »erlebt« zu haben. Ich habe an anderer Stelle – ohne übrigens selbstredend damit irgend etwas »Neues« zu sagen – dargelegt, wie auch das einfachste »Existenzialurteil« (»Peter geht spazieren«, um mit Croce zu exemplifizieren), sobald es eben »Urteil« sein und sich als solches »Geltung« sichern will – denn das ist die einzige in Betracht kommende Frage –, logische Operationen voraussetzt, welche allerdings nicht die »Setzung«, wohl aber die konstante Verwendung von Allgemeinbegriffen, daher Isolation und Vergleichung, in sich enthalten.[110] Es ist eben – und damit kommen wir zu Gottls Ausführungen zurück – der entscheidende Fehler aller jener, leider auch von Fachhistorikern so sehr oft akzeptierten Theorien, welche das spezifisch »Künstlerische« und »Intuitive« der historischen Erkenntnis, z.B. der »Deutung« von »Persönlichkeiten«, als das Privileg der Geschichte ansehen, daß die Frage nach dem psychologischen Hergang bei der Entstehung einer Erkenntnis mit der gänzlich andern nach ihrem logischen »Sinn« und ihrer empirischen »Geltung« verwechselt wird. Was den psychologischen Hergang des Erkennens anbetrifft, so ist die Rolle, welche der »Intuition« zufällt, dem Wesennach – wie schon oben ausgeführt – auf allen Wissensgebieten dieselbe, und nur der Grad, in welchem wir uns alsdann bei der denkenden Formung der allseitigen begrifflichen Bestimmtheit nähern können und wollen, ein je nach dem Erkenntnisziel verschiedener. Die logische Struktur einer Erkenntnis aber zeigt sich erst dann, wenn ihre empirische Geltung im konkreten Fall, weil problematisch, demonstriert werden muß. Erst die Demonstration erfordert unbedingt die (relative) Bestimmtheit der verwendeten Begriffe und setzt ausnahmslos und immer generalisie rende Erkenntnis voraus, – was beides eine gedankliche Bearbeitung des nur »eingefühlten« Mit- oder Nacherlebens, d.h. seine Verwandlung in »Erfahrung«, bedingt167. Und die Verwendung von »Erfahrungsregeln« zum Zweck der Kontrolle der »Deutung« des menschlichen Handelns ist dabei nur dem alleroberflächlichsten Anschein nach von der gleichen Prozedur bei konkreten »Naturvorgängen« geschieden. Dieser Anschein entsteht dadurch, daß wir, infolge unserer an der eignen Alltagserkenntnis geschulten Phantasie, bei der »Deutung« menschlichen Handelns die ausdrückliche Formulierung jenes Erfahrungsgehaltes in »Regeln« in weiterem[111] Umfang als »unökonomisch« unterlassen und also die Generalisierungen »implicite« verwenden. Denn die Frage, wann es für »deutend« arbeitende Disziplinen irgendwelchen wissenschaftlichen Sinn hat, aus ihrem Material, also dem unmittelbar verständlichen menschlichen Sich-Verhalten, im Wege der Abstraktion für ihre Zwecke besondere Regeln und sog. »Gesetze« zu bilden, ist freilich durchaus davon abhängig, ob dadurch für die deutende Kausalerkenntnis des Historikers bzw. Nationalökonomen bezüglich eines konkreten Problems brauchbare neue Einsichten zu erwarten sind. Daß dies der Fall sein müsse, ist schon wegen der geringen Schärfe, außerdem aber wegen der Trivialität der überwältigenden Mehrzahl der so zu gewinnenden Erfahrungssätze nicht im allergeringsten generell selbstverständlich. Wer sich veranschaulichen will, welche Früchte die bedingungslose Durchführung des Grundsatzes der Aufstellung von »Regeln« zeitigen würde, der lese etwa die Werke von Wilhelm Busch. Seine drolligsten Effekte erzielt dieser große Humorist gerade dadurch, daß er die zahllosen trivialen Alltagserfahrungen, die wir überall in unzählbaren Verschlingungen »deutend« verwenden, in das Gewand wissenschaftlicher Sentenzen kleidet. Der schöne Vers aus »Plisch und Plum«: »Wer sich freut, wenn wer betrübt, macht sich meistens unbeliebt« ist, zumal er das Gattungsartige des Vorgangs sehr korrekt nicht als Notwendigkeitsurteil, sondern als Regel »adäquater Verursachung« faßt, ein ganz tadellos formuliertes »historisches Gesetz«. – Sein Gehalt an Erfahrungswahrheit ist als geeignetes Hilfsmittel der »Deutung« z.B. der politischen Spannung zwischen Deutschland und England nach dem Burenkriege (natürlich neben sehr vielen andern, vielleicht wesentlich wichtigeren Momenten) gänzlich unbezweifelbar. Eine »sozialpsychologische« Analyse derartiger politischer »Stimmungs«-Entwickelungen könnte nun ja selbstverständlich unter den verschiedensten Gesichtspunkten höchst interessante Ergebnisse zutage fördern, die auch für die historische Deutung solcher Vorgänge, wie des erwähnten, den erheblichsten Wert gewinnen können, – aber was eben ganz und gar nicht feststeht, ist, daß sie ihn gewinnen müssen, und daß nicht im konkreten Fall die »vulgärpsychologische« Erfahrung vollkommen genügt und also das auf einer Art naturalistischer Eitelkeit beruhende Bedürfnis, die historische (oder ökonomische) Darstellung möglichst überall mit der Bezugnahme[112] auf psychologische »Gesetze« schmücken zu können, im konkreten Fall ein Verstoß gegen die Oekonomie der wissenschaftlichen Arbeit wäre. Für eine grundsätzlich das Ziel der »verständlichen Deutung« festhaltende »psychologische« Behandlung von »Kulturerscheinungen« lassen sich Aufgaben der Begriffsbildung von logisch ziemlich heterogenem Charakter denken: darunter ohne allen Zweifel notwendigerweise auch die Bildung von Gattungsbegriffen und von »Gesetzen« in dem weiteren Sinn von »Regeln adäquater Verursachung«. Diese letzteren werden nur da, aber auch überall da, von Wert sein, wo die »Alltagserfahrung« nicht ausreicht, denjenigen Grad »relativer Bestimmtheit« der kausalen Zurechnung zu gewährleisten, welcher für die Deutung der Kulturerscheinungen im Interesse ihrer »Eindeutigkeit« erforderlich ist. Der Erkenntniswert ihrer Ergebnisse wird aber eben deshalb regelmäßig um so größer sein, je weniger sie dem Streben nach einer den quantifizierenden Naturwissenschaften verwandten Formulierung und Systematik auf Kosten des Anschlusses an die unmittelbar verständliche »Deutung« konkreter historischer Gebilde nachgeben, und je weniger sie infolgedessen von den allgemeinen Voraussetzungen in sich aufnehmen, welche naturwissenschaftliche Disziplinen für ihre Zwecke verwerten. Begriffe wie etwa der des »psychophysischen Parallelismus« z.B. haben als jenseits des »Erlebbaren« liegend für derartige Untersuchungen natürlich unmittelbar nicht die allergeringste Bedeutung, und die besten Leistungen »sozialpsychologischer« Deutung, die wir besitzen, sind in ihrem Erkenntniswert ebenso unabhängig von der Geltung aller derartigen Prämissen, wie ihre Einordnung in ein lückenloses »System« von »psychologischen« Erkenntnissen eine Sinnlosigkeit wäre. Der entscheidende logische Grund ist eben der: daß die Geschichte zwar nicht in dem Sinn »Wirklichkeitswissenschaft« ist, daß sie den gesamten Gehalt irgendeiner Wirklichkeit »abbildete«, – das ist prinzipiell unmöglich, – wohl aber in dem anderen, daß sie Bestandteile der gegebenen Wirklichkeit, die, als solche, begrifflich nur relativ bestimmt sein können, als »reale« Bestandteile einem konkreten kausalen Zusammenhang einfügt. Jedes einzelne derartige Urteil über die Existenz eines konkreten Kausalzusammenhangs ist an sich der Zerspaltung schlechthin ins Unendliche hinein fähig168, und nur eine[113] solche würde – bei absolut idealer Vollendung des nomolo gischen Wissens – zur vollständigen Zurechnung mittels exakter »Gesetze« führen. Die historische Erkenntnis führt die Zerlegung nur so weit, als der konkrete Erkenntniszweck es verlangt, und diese notwendig nur relative Vollständigkeit der Zurechnung manifestiert sich in der notwendig nur relativen Bestimmtheit der für ihre Vollziehung verwendeten »Erfahrungsregeln«: darin also, daß die auf Grund methodischer Arbeit gewonnenen und weiter zu gewinnenden »Regeln« stets nur eine Enklave innerhalb der Flut »vulgär-psychologischer« Alltagserfahrung darstellen, welche der historischen Zurechnung dient. Aber »Erfahrung« ist eben, im logischen Sinn, auch diese.

»Erleben« und »Erfahren«, die Gottl einander so schroff gegenüberstellt169, sind in der Tat Gegensätze, aber auf dem Gebiet[114] der »innern« in keinem andern Sinn wie auf dem der »äußern« Hergänge, beim »Handeln« nicht anders als in der »Natur«. »Verstehen« – im Sinne des evidenten »Deutens« – und »Erfahren« sind auf der einen Seite keine Gegensätze, denn jedes »Verstehen« setzt (psychologisch) »Erfahrung« voraus und ist (logisch) nur durch Bezugnahme auf »Erfahrung« als geltend demonstrierbar. Beide Kategorien sind anderseits insofern nicht identisch, als die Qualität der »Evidenz«170 das »Verstandene« und »Verständliche« dem bloß (aus Erfahrungsregeln) »Begriffenen« gegenüber auszeichnet. Das Spiel menschlicher »Leidenschaften« ist sicherlich in einem qualitativ andern Sinn »nacherlebbar« und »anschaulich« als »Natur«-Vorgänge es sind. Aber diese »Evidenz« des »verständlich« Gedeuteten ist sorgsam von jeder Beziehung zur »Geltung« zu trennen. Denn sie enthält nach der logischen Seite lediglich die Denkmöglichkeit und nach der sachlichen lediglich die objektive Möglichkeit171 der »deutend« erfaßbaren Zusammenhänge als Voraussetzung in sich. Für die Analyse der Wirklichkeit aber kommt ihr, lediglich um jener ihrer Evidenz-Qualität willen, nur die Bedeutung entweder, – wenn es sich um die Erklärung eines konkreten Vorganges handelt, – einer Hypothese, oder, – wenn es sich um die Bildung genereller Begriffe handelt, sei es zum Zweck der Heuristik oder zum Zweck einer eindeutigen Terminologie, – diejenige eines »idealtypischen« Gedankengebildes zu. Der gleiche Dualismus von »Evidenz« und empirischer »Geltung« ist aber auf dem Gebiet der an der Mathemathik orientierten Disziplinen, ja gerade auf dem Gebiet des mathematischen Erkennens selbst172, ganz ebenso vorhanden,[115] wie auf demjenigen der Deutung menschlichen Handelns. Während aber die »Evidenz« mathematischer Erkenntnisse und der mathematisch formulierten Erkenntnis quantitativer Beziehungen der Körperwelt »kategorialen« Charakter hat, gehört die »psychologische« Evidenz in dem hier behandelten Sinn in das Gebiet des nur Phänomenologischen. Sie ist – denn hier erweist sich die Lippssche Terminologie als recht brauchbar – phänomenologisch bedingt durch die spezielle Färbung, welche die »Einfühlung« in solche qualitativen Hergänge besitzt, deren wir uns als objektiv möglicher Inhalte der eignen inneren Aktualität bewußt werden können. Ihre indirekte logische Bedeutung für die Geschichte ist gegeben durch den Umstand, daß zum »einfühlbaren« Inhalt fremder Aktualität auch jene »Wertungen« gehören, an denen der Sinn des »historischen Interesses« verankert ist, und daß daher seitens einer Wissenschaft, deren Objekt, geschichtsphilosophisch formuliert, »die Verwirklichung von Werten« darstellt173, die selbst »wertenden« Individuen stets als die »Träger« jenes Prozesses behandelt werden174.

Zwischen jenen beiden Polen –: der kategorialen mathematischen Evidenz räumlicher Beziehungen und der phänomenologisch bedingten Evidenz »einfühlbarer« Vorgänge des bewußten Seelenlebens, – liegt eine Welt von weder der einen noch der andern Art von »Evidenz« zugänglichen Erkenntnissen, die aber um dieses phänomenologischen »Mangels« willen natürlich nicht das Allermindeste an Dignität oder empirischer Geltung einbüßen. Denn, um es zu wiederholen, der Grundirrtum der von Gottl akzeptierten Erkenntnistheorie liegt darin, daß sie das Maximum »anschaulicher«175 Evidenz mit dem Maximum von (empirischer) Gewißheit[116] verwechselt. Wie das wechselvolle Schicksal der sogenannten »physikalischen Axiome« immer wieder den Prozeß zeigt176,

daß eine in der Erfahrung sich bewährende Konstruktion die Dignität einer Denknotwendigkeit prätendiert, so hat die Identifikation von »Evidenz« mit »Gewißheit« oder gar – wie manche Epigonen K. Mengers wollten – mit »Denknotwendigkeit« bei »idealtypischen« Konstruktionen auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften ganz entsprechende Irrtümer gezeitigt, und auch Gottl z.B. in manchen Aufstellungen in seiner »Herrschaft des Worts« den gleichen Weg betreten177.[117] Allem Gesagten zum Trotz wird man nun aber doch daran festhalten wollen, daß jedenfalls auf einem Gebiet die an sich nur erkenntnispsychologische Bedeutung der »nacherlebenden Deutung« de facto den Sinn des »Geltens« annehme: da nämlich, wo eben bloße nicht artikulierte »Gefühle« historisches Erkenntnisobjekt und eben daher die Suggestion von entsprechenden »Gefühlen« bei uns das einzige mögliche Erkenntnisideal sei. Das »Einleben« eines Historikers, Archäologen, Philologen in »Persönlichkeiten«, »Kunstepochen«, »Sprachen« erfolge in Gestalt bestimmter »Gemeingefühle«, »Sprachgefühle« usw., und man hat178 diese Gefühle geradezu als den sichersten »Canon« für die historische Bestimmung z.B. der Provenienz einer Urkunde, eines Kunstwerks, oder für die Deutung der Gründe und des Sinnes einer historischen Handlung hingestellt. Da nun der Historiker anderseits bezwecke und bezwecken müsse, uns die »Kulturerscheinungen« (wozu natürlich z.B. auch einzelne historisch, speziell auch rein politisch bedeutsame »Stimmungen«[118] gehören) »nacherleben« zu lassen, sie uns zu »suggerieren«, so sei wenigstens in diesen Fällen diese suggerierende »Deutung« ein Vorgang, welcher gegenüber der begrifflichen Artikulation auch erkenntnistheoretisch autonom sei.

Versuchen wir, in diesen Ausführungen Zutreffendes von Falschem zu sondern. Was zunächst jene behauptete Bedeutung der »Gemeingefühle« oder »Totalitätsgefühle« als »Canon« der kulturhistorischen Einordnung oder der Deutung von »Persönlichkeiten« anlangt, so ist die Bedeutung des – wohlgemerkt: durch konstante denkende Beschäftigung mit dem »Stoff«, d.h. aber: durch Uebung, also »Erfahrung« erworbenen179 – »Gefühls« für die psychologische Genesis einer Hypothese im Geist des Historikers sicherlich von eminenter Bedeutung, ja geradezu unentbehrlich: durch bloßes Hantieren mit »Wahrnehmungen« und »Begriffen« ist noch keinerlei wertvolle historische, aber auch keinerlei Erkenntnis irgendwelcher andern Art, »geschaffen« worden. Was dagegen die angebliche »Sicherheit« im Sinn des wissenschaftlichen »Geltens« anlangt, so wird jeder gewissenhafte Forscher die Ansicht auf das bestimmteste ablehnen müssen, daß der Berufung auf »Totalitätsgefühle«, z.B. auf den »allgemeinen Charakter« einer Epoche, eines Künstlers usw. irgendwelcher Wert zukomme, sofern sie sich nicht in bestimmt artikulierte und demonstrierbare Urteile, d.h. aber in »begrifflich« geformte »Erfahrung« durchaus im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes umsetzen und so kontrollieren läßt. – Damit ist im Grunde auch schon gesagt, was es mit der historischen »Reproduktion« von gefühlsmäßigen seelischen Inhalten, wo sie historisch (kausal) relevant sind, für eine Bewandtnis hat. Daß »Gefühle« sich nicht in dem Sinne begrifflich »definieren« lassen wie etwa ein rechtwinkliges Dreieck oder wie Abstraktionsprodukte der quantifizierenden Wissenschaften, teilen sie durchaus mit allem Qualitativen. Alle Qualia, mögen wir sie als Qualitäten der »Dinge« in die Welt außer uns »projizieren« oder als psychische Erlebungen in uns »introjizieren«, besitzen als solche diesen Charakter des notwendig relativ »Unbestimmten«.[119] Für Lichtfarben, Klangfarben, Geruchsnuancen usw. gilt natürlich genau im gleichen Sinn wie für religiöse, ästhetische, ethische »Wertgefühle«, daß bei ihrer schildernden Darstellung letztlich »ein jeder sieht, was er im Herzen trägt«. Die Deutung psychischer Vorgänge arbeitet also, soweit nur dieser Umstand in Frage kommt, in durchaus keinem andern Sinn mit prinzipiell nicht absolut eindeutig bestimmbaren Begriffen, wie jede Wissenschaft, welche vom Qualitativen nicht durchweg abstrahiert, überhaupt es tun muß180.

Soweit der Historiker in seiner Darstellung sich mit suggestiv wirkenden Mitteln an unser »Gefühl« wendet, also m. a. W. ein begrifflich nicht artikulierbares »Erlebnis« in uns zu provozieren trachtet, handelt es sich entweder um eine Stenographie für die Darstellung von Teilerscheinungen seines Objekts, deren begriffliche Bestimmtheit für den konkreten Erkenntniszweck ohne Schaden unterlassen werden kann: – dies ist eine Folge des Umstandes, daß die prinzipielle Unausschöpfbarkeit des empirisch gegebenen Mannigfaltigen jede Darstellung nur[120] als einen »relativen« Abschluß des historischen Erkenntnisprozesses »Geltung« erlangen läßt. Oder aber: die Provokation eines reinen Gefühlserlebnisses in uns beansprucht, als spezifisches Erkenntnismittel zu dienen: als »Veranschaulichung« z.B. des »Charakters« einer Kulturepoche oder eines Kunstwerkes. Alsdann kann sie zwiefachen logischen Charakter haben. Sie kann mit dem Anspruch auftreten, ein »Nacherleben« des – je nach der Ausdrucksweise – »geistigen« oder »psychischen« »Gehaltes« des »Lebens« der betreffenden Epoche oder Persönlichkeit oder des konkreten Kunstwerkes darzustellen. In diesem Fall enthält sie beim Darsteller und erzeugt sie beim Leser, der sich mit ihrer Hilfe »einfühlt«, solange sie im Stadium des »Gefühlten« beharrt, stets und unvermeidlich unartikulierte eigene Wertgefühle, bezüglich deren an sich nicht die mindeste Gewähr besteht, daß sie den Gefühlen jener historischen Menschen irgendwie entsprechen, in welche er sich einfühlt181. Es fehlt ihr deshalb auch jeder kontrollierbare Maßstab für eine Unterscheidung von kausal »Wesentlichem« und »Unwesentlichem«. Wie das »Totalitätsgefühl«, welches in uns z.B. durch eine fremde Stadt erzeugt wird, im Stadium des rein Gefühlsmäßigen durch Dinge, wie die Lage der Schornsteine, die Form der Dachgesimse und dergleichen absolut zufällige, d.h. hier: für den eignen »Lebensstil« ihrer Bewohner in keinem Sinn kausal wesentliche Elemente bestimmt zu werden pflegt, so steht es auch, nach aller Erfahrung, mit allen unartikulierten historischen »Intuitionen« ohne alle Ausnahme: ihr wissenschaftlicher Erkenntniswert sinkt zumeist parallel mit ihrem ästhetischen Reiz; sie können unter Umständen bedeutenden »heuristischen« Wert gewinnen, unter Umständen aber auch der sachlichen Erkenntnis geradezu im Wege stehen, weil sie das Bewußtsein davon, daß es sich um Gefühlsinhalte des Beschauers, nicht der geschilderten »Epoche« resp. des schaffenden Künstlers usw. handelt, verdunkeln. Der subjektive Charakter derartiger »Erkenntnis« ist in diesem Falle identisch mit dem Mangel der »Geltung«, eben weil eine begriffliche[121] Artikulation unterlassen ist, und die »Anempfindung« dadurch sich der Demonstration und Kontrolle entzieht. Und sie trägt überdies die eminente Gefahr in sich, die kausale Analyse der Zusammenhänge zugunsten des Suchens nach einem dem »Totalgefühl« entsprechenden »Gesamtcharakter« zurückzudrängen, welcher nun, – da das Bedürfnis nach einer die »Gefühlssynthese« wiedergebenden Formel an die Stelle desjenigen nach empirischer Analyse getreten ist, – der »Epoche« als Etikette aufgeklebt wird. Die subjektive gefühlsmäßige »Deutung« in dieser Form stellt weder empirische historische Erkenntnis realer Zusammenhänge (kausale Deutung) dar, noch dasjenige andere, was sie außerdem noch sein könnte: wertbeziehende Interpretation. Denn dies ist derjenige andere Sinn des »Erlebens« eines historischen Objektes, welcher neben der kausalen Zurechnung in der »Kategorie« [der Deutung], mit welcher wir uns hier befassen, liegen kann. Ich habe über ihr logisches Verhältnis zum Geschichtlichen an anderer Stelle gehandelt182, und es genügt hier festzustellen, daß in dieser Funktion die »Deutung« eines ästhetisch, ethisch, intellektuell oder unter Kulturwertgesichtspunkten aller denkbaren Art bewertbaren Objektes nicht Bestandteil einer (im logischen Sinn) rein empirisch-historischen – d.h. konkrete, »historische Individuen« zu konkreten Ursachen zurechnenden – Darstellung, sondern vielmehr – vom Standpunkt der Geschichte aus betrachtet – Formung des »historischen Individuums« ist. Die »Deutung« des »Faust«, oder etwa des »Puritanismus« oder etwa bestimmter Inhalte der »griechischen Kultur« in diesem Sinn ist Ermittlung der »Werte«, welche »wir« in jenen Objekten »verwirklicht« finden können und derjenigen, stets und ausnahmslos individuellen »Form«, in welcher »wir« sie darin »verwirklicht« finden und um derentwillen jene »Individuen« Objekte der historischen »Erklärung« werden: – mithin eine geschichtsphilosophische Leistung. Sie ist in der Tat »subjektivierend«, wenn nämlich darunter verstanden wird, daß die »Geltung« jener Werte selbstverständlich von uns niemals im Sinn einer Geltung als empirischer »Tatsache« gemeint sein kann. Denn in dem hier jetzt in Rede stehenden Sinn verstanden, interpretiert sie nicht, was die historisch an der Schaffung des »bewerteten« Objekts Beteiligten ihrerseits subjektiv »empfanden«[122] – das ist ihr, soweit sie Selbstzweck ist, nur eventuell Hilfsmittel für unser eigenes, besseres »Verständnis« des Wertes183 –, sondern was »wir« in dem Objekt an Werten finden »können« – oder etwa auch: »sollen«. Im letzteren Fall setzt sie sich die Ziele einer normativen Disziplin – etwa der Aesthetik – und »wertet« selbst, im ersteren ruht sie, logisch betrachtet, auf der Grundlage »dialektischer« Wertanalyse und ermittelt ausschließlich »mögliche« Wertbeziehungen des Objekts. Diese »Beziehung« auf »Werte« ist es nun aber, – und das ist ihre in unserm Zusammenhang entscheidend wichtige Funktion, – welche zugleich den einzigen Weg darstellt, aus der völligen Unbestimmtheit des »Eingefühlten« herauszukommen zu derjenigen Art von Bestimmtheit, deren die Erkenntnis individueller geistiger Bewußtseinsinhalte fähig ist. Denn im Gegensatz zum bloßen »Gefühlsinhalt« bezeichnen wir als »Wert« ja eben gerade das und nur das, was fähig ist, Inhalt einer Stellungnahme: eines artikuliert-bewußten positiven und negativen »Urteils« zu werden, etwas, was »Geltung heischend« an uns herantritt, und dessen »Geltung« als »Wert« »für« uns demgemäß nun »von« uns anerkannt, abgelehnt oder in den mannigfachsten Verschlingungen »wertend beurteilt« wird. Die »Zumutung« eines ethischen oder ästhetischen »Wertes« enthält ausnahmslos die Fällung eines »Werturteils«. Ohne nun auf das Wesen der »Werturteile« hier noch näher eingehen zu können184, so ist für unsere Betrachtungen das eine jedenfalls festzustellen: daß die Bestimmtheit des [Urteils-]Inhaltes es ist, welche das Objekt, auf welches sie sich beziehen, aus der Sphäre des nur »Gefühlten« heraushebt. Ob irgend jemand das »Rot« einer bestimmten Tapete »ebenso« sieht wie ich, ob es für ihn dieselben »Gefühlstöne« besitzt, ist durch kein Mittel eindeutig festzustellen, die betreffende »Anschauung« bleibt in ihrer Kommunikabilität notwendig unbestimmt. Die Zumutung, ein ethisches oder ästhetisches Urteil über einen Tatbestand zu teilen, hätte dagegen gar keinen Sinn, wenn – bei allem Mitspielen inkommunikabler »Gefühls« bestandteile – nicht dennoch der »zugemutete« Inhalt des Urteils in den Punkten, »auf die es ankommt«, identisch »verstanden« würde. Beziehung des Individuellen auf[123] mögliche »Werte« bedeutet stets ein – immer nur relatives – Maß von Beseitigung des lediglich anschaulich »Gefühlten«. Eben darum – und damit kommen wir noch einmal abschließend auf einige schon früher gemachte Andeutungen zurück – tritt diese geschichtsphilosophische »Deutung«, und zwar in ihren beiden möglichen Formen: der direkt wertenden (also: metaphysischen) und der lediglich wertanalytischen, offensichtlich fortwährend in den Dienst des »einfühlenden Verständnisses« des Historikers. Es kann in dieser Hinsicht durchaus auf die, nur in der Formulierung hier und da nicht abschließenden, gelegentlich auch sachlich nicht ganz unbedenklichen Bemerkungen Simmels185 verwiesen und mag nur folgendes ergänzend hinzugefügt werden: Weil das »historische Individuum« auch in der speziellen Bedeutung der »Persönlichkeit« im logischen Sinn nur eine durch Wertbeziehung künstlich hergestellte »Einheit« sein kann, ist »Wertung« die normale psychologische Durchgangsstufe für das »intellektuelle Verständnis«. Die volle Verdeutlichung[124] der historisch relevanten Bestandteile der »inneren Entwickelung« einer »historischen Persönlichkeit« (etwa Goethes oder Bismarcks) oder auch nur ihres konkreten Handelns in einem konkreten historisch relevanten Zusammenhang pflegt in der Tat nur durch Konfrontation möglicher »Wertungen« ihres Verhaltens gewonnen zu werden, so unbedingt die Ueberwindung dieser psychologischen Durchgangsstufe in der Genesis seines Erkennens vom Historiker beansprucht werden muß. Wie in dem früher benutzten Beispiel des Patrouillenführers die kausale Deutung in den Dienst des praktischen »Stellungnehmens« trat, indem sie das noëtische »Verstehen« der aus sich selbst nicht eindeutigen Order ermöglichte, so tritt in diesen Fällen umgekehrt die eigene »Wertung« als Mittel in den Dienst des »Verstehens«, und das heißt hier: der kausalen Deutung fremden Handelns186. In diesem Sinn und aus diesem Grund ist es richtig, daß gerade eine ausgeprägte »Individualität« des Historikers, d.h. aber: scharf präzisierte »Wertungen«, die ihm eigen sind, eminent leistungsfähige Geburtshelfer kausaler Erkenntnis sein können, so sehr sie auf der andern Seite durch die Wucht ihres Wirkens die »Geltung« der Einzelergebnisse als Erfahrungswahrheit auch wieder zu gefährden geeignet sind187.

Um hiermit diese notgedrungen etwas eintönige Auseinandersetzung mit den mannigfachen, in allerhand Farben und Formen schillernden Theorien, von der angeblichen Eigenart der »subjektivierenden« Disziplinen und der Bedeutung dieser Eigenart für die Geschichte abzuschließen, so ist das Ergebnis lediglich die eigentlich recht triviale, aber trotz allem immer wieder in Frage gestellte Einsicht, daß weder die »sachlichen« Qualitäten des[125] »Stoffes« noch »ontologische« Unterschiede seines »Seins«, noch endlich die Art des »psychologischen« Herganges der Erlangung einer bestimmten Erkenntnis über ihren logischen Sinn und über die Voraussetzungen ihrer »Geltung« entscheiden. Empirische Erkenntis auf dem Gebiet des »Geistigen« und auf demjenigen der »äußern« »Natur«, der Vorgänge »in« uns und derjenigen »außer« uns ist stets an die Mittel der »Begriffsbildung« gebunden, und das Wesen eines »Begriffs« ist auf beiden sachlichen »Gebieten« logisch das gleiche. Die logische Eigenart »historischer« Erkenntnis im Gegensatz zu der im logischen Sinn »naturwissenschaftlichen« hat mit der Scheidung des »Psychischen« vom »Physischen«, der »Persönlichkeit« und des »Handelns« vom toten »Naturobjekt« und »mechanischen Naturvorgang« durchaus nichts zu schaffen188. Und noch weniger darf die »Evidenz« der »Einfühlung« in tatsächliche oder potentielle »bewußte« innere »Erlebungen« – eine lediglich phänomenologische Qualität der »Deutung« – mit einer spezifischen empirischen »Gewißheit« »deutbarer« Vorgänge identifiziert werden. – Weil und soweit es uns etwas »bedeuten« kann, wird eine, physische oder psychische oder beides umfassende, »Wirklichkeit« von uns als »historisches Individuum« geformt; – weil es durch »Wertungen« und »Bedeutungen« bestimmbar ist, wird »sinnvoll« deutbares menschliches Sich-Verhalten (»Handeln«) in spezifischer Art von unserm kausalen Interesse bei der »geschichtlichen« Erklärung eines solchen »Individuums« erfaßt; – endlich: soweit es an sinnvollen »Wertungen« orientiert oder mit ihnen konfrontierbar ist, kann menschliches Tun in spezifischer Art »evident« »verstanden« werden. Es handelt sich also bei der besonderen Rolle des »deutbar« Verständlichen in der »Geschichte« um Unterschiede 1. unseres kausalen Interesses und 2. der Qualität der erstrebten »Evidenz« individueller Kausalzusammenhänge, nicht aber um Unterschiede der Kausalität oder der Bedeutung und Art der Begriffsbildung. –

Es erübrigt jetzt nur noch, einer bestimmten Art der »deutenden« Erkenntnis einige Betrachtungen zu widmen: der »rationalen« Deutung mittels der Kategorien »Zweck« und »Mittel«.[126] Wo immer wir menschliches Handeln als durch klar bewußte und gewollte »Zwecke« bei klarer Erkenntnis der »Mittel« bedingt »verstehen«, da erreicht dieses Verständnis unzweifelhaft ein spezifisch hohes Maß von »Evidenz«. Fragen wir nun aber, worauf dies beruhe, so zeigt sich als Grund alsbald der Umstand, daß die Beziehung der »Mittel« zum »Zweck« eine rationale, der generalisierenden Kausalbetrachtung im Sinn der »Gesetzlichkeit« in spezifischem Maße zugängliche ist. Es gibt kein rationales Handeln ohne kausale Rationalisierung des als Objekt und Mittel der Beeinflussung in Betracht gezogenen Ausschnittes aus der Wirklichkeit, d.h. ohne dessen Einordnung in einen Komplex von Erfahrungsregeln, welche aussagen, welcher Erfolg eines bestimmten Sich-Verhaltens zu erwarten steht. Zwar ist es in jedem Sinn grundverkehrt, wenn behauptet wird, die »teleologische«189 »Auffassung« eines Vorganges sei aus[127] diesem Grunde als eine »Umkehrung« der kausalen zu begreifen190. Richtig aber ist, daß es ohne den Glauben an die Verläßlichkeit der Erfahrungsregeln kein auf Erwägung der Mittel für einen beabsichtigten Erfolg ruhendes Handeln geben könnte, und daß, im Zusammenhang damit, ferner bei eindeutigem gegebenen Zweck die Wahl der Mittel zwar nicht notwendig ebenfalls eindeutig,[128] aber doch wenigstens nicht in gänzlich unbestimmter Vieldeutigkeit, sondern in einer Disjunktion von je nach den Umständen verschieden vielen Gliedern »determiniert« ist. Die rationale Deutung kann so die Form eines bedingten Notwendigkeitsurteils annehmen (Schema: bei gegebener Absicht x »mußte« nach bekannten Regeln des Geschehens der Handelnde zu ihrer Erreichung das Mittel y bzw. eines der Mittel y, y', y'' wählen) und daher zugleich mit einer teleologischen »Wertung« des empirisch konstatierbaren Handelns in Eins zusammenfließen (Schema: die Wahl des Mittels y gewährte nach bekannten Regelns des Geschehens gegenüber y' oder y'' die größere Chance der Erreichung des Zweckes x oder erreichte diesen Zweck mit den geringsten Opfern usw., die eine war daher »zweckmäßiger« als die andere oder auch allein »zweckmäßig«). Da diese Wertung rein »technischen« Charakters ist, d.h. lediglich an der Hand der Erfahrung die Adäquatheit der »Mittel« für den vom Handelnden faktisch gewollten Zweck konstatiert, so verläßt sie trotz ihres Charakters als »Wertung« den Boden der Analyse des empirisch Gegebenen in keiner Weise. Und auf dem Boden der Erkenntnis des wirklich Geschehenden tritt diese rationale »Wertung« auch lediglich als Hypothese oder idealtypische Begriffsbildung auf: Wir konfrontieren das faktische Handeln mit dem, »teleologisch« angesehen, nach allgemeinen kausalen Erfahrungsregeln rationalen, um so entweder ein rationales Motiv, welches den Handelnden geleitet haben kann, und welches wir zu ermitteln beabsichtigen, dadurch festzustellen, daß wir seine faktischen Handlungen als geeignete Mittel zu einem Zweck, den er verfolgt haben »könnte«, aufzeigen, – oder um verständlich zu machen, warum ein uns bekanntes Motiv des Handelnden infolge der Wahl der Mittel einen anderen Erfolg hatte, als der Handelnde subjektiv erwartete. In beiden Fällen aber nehmen wir nicht eine »psychologische« Analyse der »Persönlichkeit« mit Hilfe irgendwelcher eigenartiger Erkenntnismittel vor, sondern vielmehr eine Analyse der »objektiv« gegebenen Situation mit Hilfe unseres nomologischen Wissens. Die »Deutung« verblaßt also hier zu dem allgemeinen Wissen davon, daß wir »zweckvoll« handeln können, d.h. aber: handeln können auf Grund der Erwägung der verschiedenen »Möglichkeiten« eines künftigen Hergangs im Fall der Vollziehung jeder von verschiedenen als möglich gedachten Handlungen (oder Unterlassungen). Infolge[129] der eminenten faktischen Bedeutung des in diesem Sinn »zweckbewußten« Handelns in der empirischen Wirklichkeit läßt sich die »teleologische« Rationalisierung als konstruktives Mittel zur Schaffung von Gedankengebilden verwenden, welche den außerordentlichsten heuristischen Wert für die kausale Analyse historischer Zusammenhänge haben. Und zwar können diese konstruktiven Gedankengebilde zunächst [1.] rein individuellen Charakters: Deutungs-Hypothesen für konkrete Einzelzusammenhänge sein, – so etwa in einem schon erwähnten Beispiel die Konstruktion einer, durch supponierte Zwecke einerseits, durch die Konstellation der »großen Mächte« anderseits, bedingten Politik Friedrich Wilhelms IV. Sie dient dann als gedankliches Mittel zu dem Zweck, seine reale Politik daran in bezug auf den Grad ihres rationalen Gehaltes zu messen und so einerseits die rationalen Bestandteile, andererseits die (mit bezug auf jenen Zweck) nicht rationalen Elemente seines wirklichen politischen Handelns zu erkennen, wodurch dann die historisch gültige Deutung jenes Handelns, die Abschätzung der kausalen Tragweite beider und so die gültige Einordnung der »Persönlichkeit« Friedrich Wilhelms IV. als kausalen Faktors in den historischen Zusammenhang ermöglicht wird. Oder aber – und das interessiert uns hier – sie können [2.] idealtypische Konstruktionen generellen Charakters sein, wie die »Gesetze« der abstrakten Nationalökonomie, welche unter der Voraussetzung streng rationalen Handelns die Konsequenzen bestimmter ökonomischer Situationen gedanklich konstruieren. In allen Fällen aber ist das Verhältnis solcher rationalen teleologischen Konstruktionen zu derjenigen Wirklichkeit, welche die Erfahrungswissenschaften bearbeiten, natürlich nicht etwa das von »Naturgesetz« und »Konstellation«, sondern lediglich das eines idealtypischen Begriffs, der dazu dient, die empirisch gültige Deutung dadurch zu erleichtern, daß die gegebenen Tatsachen mit einer Deutungsmöglichkeit – einem Deutungsschema – verglichen werden, – sie ist insofern also verwandt der Rolle, welche die teleologische Deutung in der Biologie spielt. Wir »erschließen« auch durch die rationale Deutung nicht – wie Gottl meint – »wirkliches Handeln«, sondern »objektiv mögliche« Zusammenhänge. Die teleologische Evidenz bedeutet auch bei diesen Konstruktionen nicht ein spezifisches Maß von empirischer Gültigkeit, sondern die »evidente« rationale Konstruktion vermag, »richtig« gebildet, gerade die teleologisch [130] nicht rationalen Elemente des faktischen ökonomischen Handelns erkennbar und damit das letztere in seinem tatsächlichen Verlaufe verständlich zu machen. Jene Deutungsschemata sind daher auch nicht nur – wie man gesagt hat – »Hypothesen« nach Analogien naturwissenschaftlicher hypothetischer »Gesetze«. Sie können als Hypothesen bei der heuristischen Verwendung der Deutung konkreter Vorgänge fungieren. Aber im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Hypothesen tangiert die Feststellung, daß sie im konkreten Fall eine gültige Deutung nicht enthalten, ihren Erkenntniswert nicht, ebensowenig wie z.B. die empirische Nichtgeltung des pseudosphärischen Raumes die »Richtigkeit« seiner Konstruktion. Die Deutung mit Hilfe des rationalen Schemas war dann eben in diesem Fall nicht möglich – weil die im Schema angenommenen »Zwecke« im konkreten Fall als Motive nicht existent waren –, was aber die Möglichkeit ihrer Verwertung für keinen anderen Fall ausschließt. Ein hypothetisches »Naturgesetz«, welches in einem Fall definitiv versagt, fällt als Hypothese ein- für allemal in sich zusammen. Die idealtypischen Konstruktionen der Nationalökonomie dagegen prätendieren – richtig verstanden – keineswegs, generell zu gelten, während ein »Naturgesetz« diesen Anspruch erheben muß, will es nicht seine Bedeutung verlieren. – Ein sogenanntes »empirisches« Gesetz endlich ist eine empirisch geltende Regel mit problematischer kausaler Deutung, ein teleologisches Schema rationalen Handelns dagegen eine Deutung mit problematischer empirischer Geltung: beide sind also logisch polare Gegensätze. – Jene Schemata sind aber »idealtypische Begriffsbildungen«191. Weil die Kategorien »Zweck« und »Mittel« bei ihrer Anwendung auf die empirische Wirklichkeit deren Rationalisierung bedingen, deshalb und nur deshalb ist die Konstruktion solcher Schemata möglich192.[131] Von hier aus fällt noch einmal, und endgültig, Licht auf die Behauptung von der spezifischen empirischen Irrationalität der »Persönlichkeit« und des »freien« Handelns.

Je »freier«, d.h. je mehr auf Grund »eigener«, durch »äußeren« Zwang oder unwiderstehliche »Affekte« nicht getrübter »Erwägungen«, der »Entschluß« des Handelnden einsetzt, desto restloser ordnet sich die Motivation ceteris paribus den Kategorien »Zweck« und »Mittel« ein, desto vollkommener vermag also ihre rationale Analyse und gegebenenfalls ihre Einordnung in ein Schema rationalen Handelns zu gelingen, desto größer aber ist infolgedessen auch die Rolle, welche – beim Handelnden einerseits, beim analysierenden Forscher andrerseits – das nomologische Wissen spielt, desto »determinierter« ist ersterer in bezug auf die »Mittel«. Und nicht nur das. Sondern je »freier« in dem hier in Rede stehenden Sinn das »Handeln« ist, d.h. je weniger es den Charakter des »naturhaften Geschehens« an sich trägt, desto mehr tritt damit endlich auch derjenige Begriff der »Persönlichkeit« in Kraft, welcher ihr »Wesen« in der Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten »Werten« und Lebens-»Bedeutungen« findet, die sich in ihrem Tun zu Zwecken ausmünzen und so in teleologisch-rationales Handeln umsetzen, und desto mehr schwindet also jene romantisch-naturalistische Wendung des »Persönlichkeits«gedankens, die umgekehrt in dem dumpfen, ungeschiedenen vegetativen »Untergrund« des persönlichen Lebens, d.h. in derjenigen, auf der Verschlingung einer Unendlichkeit psycho-physischer Bedingungen der Temperaments-und Stimmungsentwickelung beruhenden »Irrationalität«, welche die »Person« ja doch mit dem Tier durchaus teilt, das eigentliche Heiligtum des Persönlichen sucht. Denn diese Romantik ist es, welche hinter dem »Rätsel der Persönlichkeit« in dem Sinn steht, in welchem Treitschke gelegentlich und viele andere sehr häufig davon sprechen, und welche dann womöglich noch die »Willensfreiheit« in jene naturhaften Regionen hineindichtet. Die Sinnwidrigkeit dieses letzteren Beginnens ist schon im unmittelbaren Erleben handgreiflich: wir »fühlen« uns ja gerade durch[132] jene »irrationalen« Elemente unseres Handelns entweder (zuweilen) geradezu »nezessitiert« oder doch in einer unserem »Wollen« nicht »immanenten« Weise mitbestimmt. Für die »Deutung« des Historikers ist die »Persönlichkeit« nicht ein »Rätsel«, sondern umgekehrt das einzig deutbare »Verständliche«, was es überhaupt gibt, und menschliches Handeln und Sich-Verhalten an keiner Stelle, insbesondere auch nicht da, wo die Möglichkeit rationaler Deutung aufhört, in höherem Grade »irrational« – im Sinn von »unberechenbar« oder der kausalen Zurechnung spottend –, als jeder individuelle Vorgang als solcher überhaupt es ist, dagegen hoch hinausgehoben über die Irrationalität des rein »Natürlichen« überall da, wo rationale »Deutung« möglich ist. Der Eindruck von der ganz spezifischen Irrationalität des »Persönlichen« entsteht dadurch, daß der Historiker das Handeln seiner Helden und die daraus sich ergebenden Konstellationen an dem Ideal teleologisch-rationalen Handelns mißt, statt es, wie es – um Vergleichbares zu vergleichen – geschehen müßte, mit dem Ablauf individueller Vorgänge in der »toten Natur« zu konfrontieren. Am allerwenigsten aber sollte irgendein Begriff von »Willensfreiheit« mit jener Irrationalität je in Beziehung gesetzt werden. Gerade der empirisch »frei«, d.h. nach Erwägungen Handelnde, ist teleologisch durch die, nach Maßgabe der objektiven Situation, ungleichen und erkennbaren Mittel zur Erreichung seiner Zwecke gebunden. Dem Fabrikanten im Konkurrenzkampf, dem Makler auf der Börse hilft der Glaube an seine »Willensfreiheit« herzlich wenig. Er hat die Wahl zwischen ökonomischer Ausmerzung oder der Befolgung sehr bestimmter Maximen des ökonomischen Gebarens. Befolgt er sie zu seinem offenkundigen Schaden nicht, so werden wir zur Erklärung – neben anderen möglichen Hypothesen – eventuell gerade auch die in Betracht ziehen, daß ihm die »Willensfreiheit« mangelte. Gerade die »Gesetze« der theoretischen Nationalökonomie setzen, ganz ebenso wie natürlich auch jede rein rationale Deutung eines historischen Einzelvorganges, das Bestehen von »Willensfreiheit« in jedem auf dem Boden des Empirischen überhaupt möglichen Sinn des Wortes notwendig voraus.

In irgendeinem andern als jenem Sinn zweckvoll-rationalen Handelns gefaßt, steht dagegen das »Problem« der »Willensfreiheit« in allen Formen, die es überhaupt annehmen kann, durchaus jenseits des Betriebes der Geschichte und ist für sie ohne alle Bedeutung.

[133] Die »deutende« Motivforschung des Historikers ist in absolut dem gleichen logischen Sinn kausale Zurechnung wie die kausale Interpretation irgendeines individuellen Naturvorganges, denn ihr Ziel ist die Feststellung eines »zureichenden« Grundes (mindestens als Hypothese) genau so, wie dies bei komplexen Naturvorgängen, falls es auf deren individuelle Bestandteile ankommt, allein das Ziel der Forschung sein kann. Sie kann die Erkenntnis eines So-handeln-müssens (im naturgesetzlichen Sinn), wenn sie nicht entweder dem Hegelschen Emanatismus oder irgendeiner Spielart des modernen anthropologischen Okkultismus zum Opfer fallen will, nicht zum Erkenntnisziel machen, weil das menschliche ganz ebenso wie das außermenschliche (»lebende« oder »tote«) Konkretum, als ein irgendwie begrenzter Ausschnitt des kosmischen Gesamtgeschehens angesehen, nirgends im ganzen Umkreise des Geschehens in ein lediglich »nomologisches« Wissen »eingeht«, – da es überall (nicht nur auf dem Gebiete des »Persönlichen«) eine intensive Unendlichkeit des Mannigfaltigen ist, von der für einen historischen Kausalzusammenhang, logisch betrachtet, alle denkbaren einzelnen, für die Wissenschaft lediglich als »gegeben« konstatierbaren Bestandteile als kausal bedeutsam in Betracht kommen können.

Die Form, in welcher die Kategorie der Kausalität von den einzelnen Disziplinen verwendet wird, ist eben eine verschiedene, und in einem bestimmten Sinn – das ist durchaus zugegeben – wechselt damit auch der Gehalt der Kategorie selbst, dergestalt nämlich, daß von ihren Bestandteilen bald der eine, bald der andere grade dann seinen Sinn verliert, wenn mit der Durchführung des Kausalprinzips bis in die letzten Konsequenzen Ernst gemacht wird193. Ihr voller, sozusagen »urwüchsiger« Sinn enthält zweierlei:[134] den Gedanken des »Wirkens« als eines, sozusagen, dynamischen Bandes zwischen unter sich qualitativ verschiedenen Erscheinungen auf der einen, den Gedanken der Gebundenheit an »Regeln« auf der anderen Seite. Das »Wirken« als sachlicher Gehalt der Kausalkategorie und damit der Begriff der »Ursache« verliert seinen Sinn und verschwindet überall da, wo im Wege der quantifizierenden Abstraktion die mathematische Gleichung als Ausdruck der rein räumlichen Kausalbeziehungen gewonnen ist. Soll ein Sinn der Kausalitätskategorie hier noch festgehalten werden, so kann es nur der einer Regel zeitlichen Aufeinanderfolgens von Bewegungen sein, und auch dieses nur in dem Sinn, daß sie als Ausdruck der Metamorphose eines seinem Wesen nach ewig Gleichen gilt. – Umgekehrt verschwindet der Gedanke der »Regel« aus der Kausalkategorie, sobald auf die schlechthinnige qualitative Einmaligkeit des durch die Zeit ablaufenden Weltprozesses und die qualitative Einzigartigkeit auch jedes räumlich-zeitlichen Ausschnittes daraus reflektiert wird. Für eine schlechthin einmalige gesamtkosmische oder partialkosmische Entwickelung verliert dann der Begriff der Kausalregel ganz ebenso seinen Sinn, wie für die Kausalgleichung der Begriff des kausalen Wirkens, und will man für jene von keiner Erkenntnis je zu umspannende Unendlichkeit des konkreten Geschehens einen Sinn der Kausalkategorie festhalten, so bleibt nur der Gedanke des »Bewirktwerdens« in dem Sinn, daß das in jedem Zeitdifferential schlechthin »Neue« eben gerade so und nicht anders aus dem »Vergangenen« entstehen »mußte«, was aber im Grunde nichts anderes bedeutet als die Angabe der Tatsache, daß es eben schlechthin so und nicht anders in seinem »Jetzt«, in absoluter Einzigartigkeit und doch in einem Kontinuum des Geschehens, »entstand«.

Diejenigen empirischen, mit der Kategorie der Kausalität arbeitenden Disziplinen, welche die Qualitäten der Wirklichkeit bearbeiten, und zu ihnen gehört die Geschichte und gehören alle »Kulturwissenschaften« gleichviel welcher Art, verwenden diese Kategorie durchweg in ihrer vollen Entfaltung: sie betrachten[135] Zustände und Veränderungen der Wirklichkeit als »bewirkt« und »wirkend« und suchen teils aus den konkreten Zusammenhängen durch Abstraktion »Regeln« der »Verursachung« zu ermitteln, teils konkrete »ursächliche« Zusammenhänge durch Bezugnahme auf »Regeln« zu »erklären«. Welche Rolle aber die Formulierung der »Regeln« dabei spielt, und welche logische Form diese annehmen, ob überhaupt eine Formulierung von Regeln stattfindet, ist Frage des spezifischen Erkenntnisziels. Ihre Formulierung in Gestalt von kausalen Notwendigkeitsurteilen aber ist nicht das ausnahmslose Ziel, die Unmöglichkeit der apodiktischen Form keineswegs auf die »Geisteswissenschaften« beschränkt. Für die Geschichte speziell folgt die Form der kausalen Erklärung überdies aus ihrem Postulat verständlicher »Deutung«. Gewiß will und soll auch sie mit Begriffen von hinlänglicher Bestimmtheit arbeiten, und erstrebt sie das nach Lage des Quellenmaterials mögliche Maximum von Eindeutigkeit der kausalen Zurechnung. Die Deutung des Historikers wendet sich aber nicht an unsere Fähigkeit, »Tatsachen« als Exemplare in allgemeine Gattungsbegriffe und Formeln einzuordnen, sondern an unsere Vertrautheit mit der täglich an uns herantretenden Aufgabe, individuelles menschliches Handeln in seinen Motiven zu »verstehen«. Die hypothetischen »Deutungen«, welche unser einfühlendes »Verstehen« uns bietet, werden von uns dann allerdings an der Hand der »Erfahrung« verifiziert. Wir sahen aber an dem Beispiel mit dem Felsabsturz, daß die Gewinnung von Notwendigkeitsurteilen als ausschließliches Ziel für jede kausale Zurechnung einer individuellen Mannigfaltigkeit des Gegebenen nur an abstrahierten Teilbeständen vollziehbar ist. So auch in der Geschichte: sie kann nur feststellen, daß ein »ursächlicher« Zusammenhang bestimmter Art bestanden hat und dies durch die Bezugnahme auf Regeln des Geschehens »verständlich« machen. Bleibt so die strikte »Notwendigkeit« des konkreten historischen Geschehens für die Geschichte nicht nur ein ideales, sondern ein in der Unendlichkeit liegendes Postulat, so ist anderseits aus der Irrationalität auch jedes partialkosmischen individuellen Geschehens natürlich keinerlei für die historische Forschung spezifischer und relevanter Begriff einer indeterministischen »Freiheit« abzuleiten. Speziell die »Willensfreiheit« ist für sie etwas durchaus Transzendentes, und als Grundlage ihrer Arbeit gedacht geradezu Sinnloses. Negativ gewendet, ist die Sachlage[136] die, daß für sie beide Gedanken jenseits jeder durch sie zu verifizierenden »Erfahrung« liegen, und beide ihre praktische Arbeit faktisch nicht beeinflussen dürfen.

Wenn sich also in methodologischen Erörterungen nicht selten der Satz findet, daß »auch« der Mensch in seinem Handeln (objektiv) einem »immer gleichen« (also: gesetzlichen) »Kausalnexus« unterworfen »sei«194, so ist dies eine das Gebiet der wissenschaftlichen Praxis nicht berührende und nicht unbedenklich formulierte protestatio fidei zugunsten des metaphysischen Determinismus, aus welcher der Historiker keinerlei Konsequenzen für seinen praktischen Betrieb ziehen kann. Vielmehr ist aus dem gleichen Grunde die Ablehnung des metaphysischen Glaubens an den »Determinismus« – in welchem Sinne immer sie gemeint sein mag – seitens eines Historikers, etwa aus religiösen oder anderen jenseits der Erfahrung liegenden Gründen, prinzipiell und auch erfahrungsgemäß, so lange gänzlich irrelevant, als der Historiker in seiner Praxis an dem Prinzip der Deutung menschlichen Handelns aus verständlichen, prinzipiell und ausnahmslos der Nachprüfung an [Hand] der Erfahrung unterworfenen »Motiven« festhält. Aber: der Glaube, deterministische Postulate schlössen für irgendein Wissensgebiet das methodische Postulat der Aufstellung von Gattungsbegriffen und »Gesetzen« als ausschließlichen Ziels ein, ist kein größerer Irrtum195, als die ihm im umgekehrten Sinne entsprechende Annahme: irgendein metaphysischer Glaube an die »Willensfreiheit« schlösse die Anwendung von Gattungsbegriffen und »Regeln« auf menschliches Sich-Verhalten aus, oder die menschliche »Willensfreiheit« sei mit einer spezifischen »Unberechenbarkeit« oder überhaupt irgendeiner spezifischen Art von »objektiver« Irrationalität des menschlichen Handelns verknüpft. Wir sahen, daß das Gegenteil der Fall ist. –[137] Wir haben nunmehr, nach dieser langen Abschweifung auf das Gebiet moderner Problemstellungen, zu Knies zurückzukehren und uns zunächst klarzumachen, auf welcher prinzipiellen philosophischen Basis sein »Freiheits«begriff ruht, und welche Konsequenzen dies für seine Tragweite in der Logik und Methodik der Wirtschaftswissenschaft hat. – Da zeigt sich nun alsbald, daß – und in welchem Sinne – auch Knies durchaus im Banne jener historisch gewendeten »organischen« Naturrechtslehre steht, welche, in Deutschland vorwiegend unter dem Einfluß der historischen Juristenschule, alle Gebiete der Erforschung menschlicher Kulturarbeit durchdrang. – Am zweckmäßigsten beginnen wir mit der Frage, welcher »Persönlichkeitsbegriff« denn bei Knies mit seinem »Freiheits«gedanken kombiniert ist. Es zeigt sich dabei, daß jene »Freiheit« nicht als »Ursachlosigkeit«, sondern als Ausfluß des Handelns aus der notwendig schlechthin individuellen Substanz der Persönlichkeit gedacht ist, und daß die Irrationalität des Handelns infolge dieses der Persönlichkeit zugeschriebenen Substanzcharakters alsbald wieder ins Rationale umgebogen wird.

Das Wesen der »Persönlichkeit« ist für Knies zunächst: eine »Einheit« zu sein. Diese »Einheit« aber verwandelt sich in den Händen von Knies alsbald in den Gedanken einer naturalistisch-organisch gedachten »Einheitlichkeit«, und diese wiederum wird als (»objektive«) innere »Widerspruchslosigkeit«, also im letzten Grunde rational, gedeutet196. Der Mensch ist ein organisches Wesen und teilt daher mit allen Organismen den »Grundtrieb« der »Selbsterhaltung« und »Vervollkommnung«, einen Trieb, welcher – nach Knies – als »Selbstliebe« durchaus »normal« und deshalb »sittlich« ist, insbesondere keinen Gegensatz gegen »Nächstenliebe« und »Gemeinsinn« enthält, sondern nur in seiner »Ausartung« zur »Selbstsucht« sowohl eine »Abnormität« ist als, eben deshalb, im Widerspruch mit jenen sozialen »Trieben« steht (S. 161). Beim normalen Menschen sind hingegen jene beiden Kategorien von »Trieben« nur verschiedene »Seiten« eines und desselben einheitlichen Vervollkommnungsstrebens (S. 165), und liegen mit dem von Knies gelegentlich (ebendort) als »dritter[138] wirtschaftlicher« – soll heißen: »wirtschaftlich relevanter« – »Haupttrieb« bezeichneten »Billigkeits-und Rechtssinn« ungeschieden in der Einheit der Persönlichkeit. An die Stelle der konstruktiven Allgemeinheit bestimmter konkreter »Triebe«, insbesondere des »Eigennutzes«, in der älteren Nationalökonomie, und an Stelle des auf dieser Grundlage aufgebauten religiös bedingten ethischen Dualismus der Triebe bei Roscher, tritt bei Knies die konstruktive Einheitlichkeit des konkreten Individuums an sich, welche daher mit »fortschreitender Kulturentwickelung« die »einseitige Ausbildung« des »Eigennutzes« nicht etwa häufiger, sondern – so nach Knies' Meinung im 19., im Gegensatz gegen das 18. Jahrhundert – immer seltener werden läßt. Nach einer Erörterung der starken Entwicklung karitativer Arbeit in der Neuzeit fährt er fort: »Und wenn solche Werktätigkeit nur Spenden des Erworbenen erkennen läßt, also dem Eigennutz im Verbrauch widersagt, wäre es nicht schon an sich ein unlösbarer psychologischer Widerspruch, wenn man sich die Massen dagegen im Erwerb, auf den Bahnen der Produktion, nur von Selbstsucht und Eigennutz erfüllt denken sollte, unbekümmert um das Wohl des Nächsten und um das Gemeinwohl, solange sie Güter zu gewinnen streben?« (S. 164/5197). Und doch steht die Erfahrung aller derjenigen, welche jenen Unternehmertypus, den das heroische Zeitalter des Kapitalismus gezeitigt hat, entweder aus der Geschichte oder aus eigener Anschauung in den Nachzüglern, die er auch heute noch besitzt, kennen, dem schnurstracks entgegen, und ganze Kulturmächte, wie der Puritanismus, tragen jenes nach Knies »psychologisch« widerspruchsvolle Gepräge. Allein wie die Anm. I zitierte Berufung auf den »Begriff« der »Selbstliebe« zeigt: das Individuum darf eben kein »Mensch mit seinem Widerspruch« sein, – es ist ein »ausgeklügelt Buch«, weil es eben sonst nicht dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit genugtun würde.

Aus diesem Begriff der psychologischen »Einheitlichkeit« des Individuums folgert nun Knies für die Methodik seine wissenschaftliche Unzerlegbarkeit. Der Versuch der »Zerlegung« des Menschen in einzelne »Triebe« ist nach ihm der Grundfehler[139] der bisherigen (klassischen) Methode198). – Man könnte glauben, Knies habe mit dieser letzteren Aeußerung jener Auffassung den Krieg erklärt, welche – Mandeville und Helvetius wie ihre Gegner – die Lehrsätze der theoretischen Nationalökonomie aus einem konstruierten Triebleben des Menschen ableiten zu müssen glaubte und deshalb, da der für sie entscheidende »Trieb«, der »Eigennutz«, nun einmal ein bestimmtes ethisches Vorzeichen trägt, Theorie und Theodizee, Darstellung und Beurteilung hoffnungslos in eine noch heute nachwirkende Verquickung miteinander brachte. In der Tat nähert sich Knies wenigstens an einer Stelle der richtigen Auffassung der Grundlagen der ökonomischen »Gesetze« in hohem Maß: »Von Anfang an«, heißt es in einem gegen Roschers Konstruktion der 'Triebe' gerichteten, freilich wenig klar formulierten Satz (2. Aufl. S. 246), »wird (scil. bei Rau und Roscher) in dem Hinweis auf die 'Aeußerungen des Eigennutzes' nicht zwischen dem 'Prinzip der Wirtschaftlichkeit' in einer – objektiviertenHaushaltungsführung und dem seelischen Trieb des Eigennutzes und der Selbstsucht in dem menschlichen Subjekte unterschieden.« Man sieht, es liegt hier die Erkenntnis ungemein nahe, daß die ökonomischen »Gesetze« Schemata rationalen Handelns sind, die nicht durch psychologische Analyse der Individuen, sondern durch idealtypische Wiedergabe des Preiskampf-Mechanismus aus der so in der Theorie hergestellten objektiven Situation deduziert werden, welche da, wo sie »rein« zum Ausdruck kommt, dem in den Markt verflochtenen Individuum nur die Wahl läßt zwischen der Alternative: »teleologische« Anpassung an den »Markt« oder ökonomischer Untergang. Indessen hat Knies aus dieser vereinzelt auftauchenden Erkenntnis keine methodologischen Konsequenzen gezogen: wie schon die früher zitierten Stellen zeigen, und wir immer wieder sehen werden, bleibt bei ihm in letzter Instanz der Glaube unerschüttert, man bedürfe, um zu begreifen, daß Fabrikanten generell ihre Rohstoffe billig zu kaufen und ihre Produkte teuer zu verkaufen[140] beabsichtigen, eigentlich nicht viel weniger als einer Analyse des gesamten empirischen menschlichen Handelns und seiner psychologischen Triebfedern überhaupt. – Vielmehr hat die Ablehnung der »Zerlegung« des »Individuums« bei ihm einen andern Sinn: »Weil ... die Eigentümlichkeit des einzelnen Menschen wie die eines ganzen Volkes sich aus einem einheitlichen Springquell erschließt, alle Erscheinungskreise der menschlichen Tätigkeit sich auf eine Totalität zurückbeziehen und eben deshalb untereinander in Wechselwirkung stehen, so können weder die Triebfedern der wirtschaftlichen Tätigkeit, noch auch die ökonomischen Tatsachen und Erscheinungen ihren eigentlichen Charakter, ihr ganzes Wesen offenbaren, wenn sie nur isoliert ins Auge gefaßt werden« (S. 244). Der Satz zeigt zunächst, daß Knies – in diesem Punkt durchaus wie Roscher denkend – seine »organische« Theorie vom Wesen des Individuums im Prinzip auch auf das »Volk« anwendet. Was unter einem »Volk« im Sinn seiner Theorie zu verstehen ist, hält er dabei nicht nötig zu bestimmen: er hält es augenscheinlich für ein in der gemeinen Erfahrung eindeutig gegebenes Objekt199) und identifiziert es gelegentlich ausdrücklich (2. Aufl. S. 490) mit der staatlich organisierten Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft nun ist ihm nicht nur, selbstverständlich, etwas anderes als die »Summe der Individuen«, sondern dieser letztere Umstand ist ihm nur eine Folge des viel allgemeineren Prinzips, daß überall und notwendig – wie er (S. 109) es ausdrückt – »ein ähnlicher Zusammenklang« (nämlich wie zwischen den Lebensäußerungen einer »Persönlichkeit«) »auch aus den Lebensäußerungen eines ganzen Volkes heraustönt«. Denn: »Wie von einem einheitlichen Kern aus umfaßt das geschichtliche Dasein eines Volkes die verschiedenen Lebenskreise.« Daß unter dieser »Einheitlichkeit« mehr als die nur rechtliche oder die durch gemeinsame historische Schicksale, Traditionen und Kulturgüter bedingte, historisch erwachsene gegenseitige Beeinflussung aller Lebensgebiete zu verstehen ist, daß vielmehr für Knies umgekehrt[141] die »Einheitlichkeit« das prius ist, aus welchem die Kultur des Volkes emaniert, ergibt sich nicht nur aus der oben zitierten, mehrfach wiederkehrenden Parallele zwischen der »Totalität« beim Individuum und beim Volk, sondern auch aus zahlreichen anderen Aeußerungen. Jene »Totalität« bedeutet insbesondere auch beim Volk eine einheitliche psychologische Bedingtheit aller seiner Kulturäußerungen: die »Völker« sind auch für Knies Träger einheitlicher »Triebkräfte«. Nicht die einzelnen geschichtlich werdenden und empirisch konstatierbaren Kulturerscheinungen sind Komponenten des »Gesamtcharakters«, sondern der »Gesamtcharakter« ist Realgrund der einzelnen Kulturerscheinungen: er ist nicht etwas Zusammengesetztes, sondern das Einheitliche, welches sich in allem einzelnen auswirkt, – zusammengesetzt ist – im Gegensatz zu den natürlichen Organismen – nur der »Körper« des Volksorganismus200). Die einzelnen »Seiten« der Kultur eines Volkes sind daher in keiner Weise gesondert und für sich, sondern lediglich aus dem einheitlichen Gesamtcharakter des Volkes heraus wissenschaftlich zu begreifen. Denn ihr Zusammenschluß zu einer »Einheit« ist nicht etwa bedingt durch gegenseitige »Angleichungs«- und »Anpassungs«-Prozesse, oder wie immer sonst man die durch den Allzusammenhang des Geschehens bedingten gegenseitigen Beeinflussungen alles »Einzelnen« unter sich bezeichnen will, sondern umgekehrt: der notwendig in sich einheitliche und widerspruchslose »Volkscharakter« »strebt« seinerseits stets und unvermeidlich dahin, unter allen Umständen einen Zustand der Homogenität auf und zwischen allen Gebieten des Volkslebens herzustellen201). Die Natur dieser[142] dunklen, der vitalistischen »Lebenskraft« gleichartig gedachten Macht wird nicht zu analysieren versucht: sie ist, wie der Ro schersche »Hintergrund«, eben das schlechthin letzte Agens, auf welches man bei der Analyse historischer Erscheinungen stößt. Denn wie in den Individuen das, was ihre »Persönlichkeit«, ihren »Charakter« ausmacht, den Charakter einer »Substanz« hat – dies ist ja doch der Sinn der Kniesschen Persönlichkeitstheorie –, so ist eben hier dieser Substanzcharakter ganz im Geist der Romantik auch auf die »Volksseele« übertragen, – eine metaphysische Abblassung von Roschers frommem Glauben daran, daß die »Seelen« der Einzelnen wie der Völker direkt aus Gottes Hand stammen.

Und über den »Organismen« der einzelnen Völker steht endlich der höchste organische Zusammenhang: derjenige der Menschheit. Die Menschheitsentwicklung kann aber, da sie eben ein »organischer« Zusammenhang ist, nicht ein Nach- und Miteinander von Völkern darstellen, deren Entwickelung in den historisch relevanten Beziehungen je einen Kreislauf bildete, – das wäre ja ein »unorganisches« Hinter- und Nebeneinander von Gattungswesen, – sondern sie ist als eine Gesamtentwickelung aufzufassen, in der jedes Volk seine geschichtlich ihm zugewiesene, [143] daher individuelle, Rolle spielt. In dieser, dem Kniesschen Buch überall stillschweigend zugrunde liegenden geschichts-philosophischen Auffassung liegt der entscheidende Bruch mit Roschers Gedankenwelt. Denn aus ihr folgt, daß für die Wissenschaft die Einzelnen ebenso wie die Völker nicht in letzter Instanz als »Gattungswesen« in ihren generell gleichen Qualitäten, sondern eben als »Individuen« in ihrer – vom Standpunkt der »organischen« Auffassung aus gesprochen: – »funktionellen« Bedeutung in Betracht kommen müssen, und wir werden sehen, daß diese Auffassung in der Tat in der Kniesschen Methodologie äußerst kräftig zum Ausdruck gelangt.

Allein der metaphysische oder, logisch ausgedrückt: der emanatistische Charakter der Kniesschen Voraussetzungen: die Auffassung der »Einheit« des Individuums als einer real, sozusagen biologisch wirkenden »Kraft«, führte auf der andern Seite, sobald sie nicht gänzlich in anthropologisch verkleidete Mystik umschlagen wollte, mit Notwendigkeit doch auch jene rationalistischen Konsequenzen wieder in die Erörterung hinein, welche dem Epigonentum des Hegelschen Panlogismus als Erbe von dessen großartigen Konstruktionen anhaften blieben. Dahin gehört vor allem die der emanatistischen Logik in ihrem Dekadenz-Stadium so charakteristische Ineinanderschiebung von realem Kollektivum und Gattungsbegriff. Es ist, sagt Knies (S. 345) »festzuhalten, daß in allem menschlichen Leben und Wirken etwas. Ewiges und Gleiches ist, weil kein einzelner Mensch zur Gattung gehören könnte, wenn er nicht gerade so mit allen Individuen zum gemeinsamen Ganzen verbunden wäre, und daß dieses Ewige und Gleiche auch in den Gemeinwesen zur Erscheinung gelangt, weil diese die Eigentümlichkeit der Einzelnen doch immer zur Basis haben.« Man sieht: »allgemeiner« Zusammenhang und »allgemeiner« Begriff, reale Zugehörigkeit zur Gattung und Subsumtion unter den Gattungsbegriff gehen hier ineinander über. Wie von Knies die »Einheitlichkeit« der realen Totalität als begriffliche »Widerspruchslosigkeit« gefaßt wurde, so wird hier der reale Zusammenhang der Menschheit und ihrer Entwickelung doch wieder zu einer begrifflichen »Gleichheit« der in sie eingefügten Individuen. Dazu tritt nun ein weiteres: die Identifikation von »Kausalität« und »Gesetzlichkeit«, welche gleichfalls ein legitimes Kind der panlogistischen Entwickelungsdialektik und nur auf ihrem Boden konsequent[144] durchführbar ist: »Wer die Volkswirtschaftslehre als eine Wissenschaft ansieht, der wird es keinem Zweifel unterwerfen, daß es sich in derselben um Gesetze der Erscheinung handelt. Die Wissenschaft unterscheidet sich eben so von dem bloßen Wissen, daß dieses in der Kenntnis von Tatsachen und Erscheinungen besteht, die Wissenschaft aber die Erkenntnis des Kausalitätszusammenhanges zwischen diesen Erscheinungen und den sie hervorbringenden Ursachen vermittelt und die Feststellung der auf dem Gebiete ihrer Untersuchungen hervortretenden Gesetze der Erscheinung erstrebt« – sagt Knies (S. 235). Schon nach allem, was wir im Eingang dieses Abschnittes über die »Freiheit« des Handelns, den Zusammenhang zwischen »Persönlichkeit« und Irrationalität bei Knies hörten, muß diese Bemerkung auf das äußerste erstaunen, – und wir werden alsbald bei Betrachtung seiner Geschichtstheorie sehen, daß mit jener Irrationalität strenger Ernst gemacht wird. Zur Erklärung dient eben der Umstand, daß hier unter »Gesetzlichkeit« nur das durchgängige Beherrschtsein der realen Entwickelung der Menschheitsgeschichte durch jene einheitliche, hinter ihr stehende »Triebkraft« zu verstehen ist, aus welcher alles einzelne als ihre Aeußerungsform emaniert. Der Bruch in der erkenntnistheoretischen Grundlage ist bei Knies wie bei Roscher durch jene verkümmerten und nach der anthropologisch-biologischen Seite abgebogenen Reste der großen Hegelschen Gedanken zu erklären, welche für die Geschichts-, Sprach- und Kulturphilosophie verschiedener noch in den mittleren Jahrzehnten des abgelaufenen Jahrhunderts einflußreicher Richtungen so charakteristisch war. Bei Knies ist zwar der Begriff des »Individuums«, wie nach der vorstehenden Darstellung sich vermuten läßt und wie sich bald näher zeigen wird, wieder zu seinem Rechte gelangt an Stelle des Naturalismus der Roscherschen Kreislauftheo rie. Aber die in ihren Grundlagen emanatistischen Vorstellungen über seinen realen substantiellen Charakter sind mit daran schuld, daß die Kniessche Theorie den Versuch, das Verhältnis zwischen Begriff und Realität zu ermitteln, gar nicht unternahm und daher, wie wir ebenfalls sehen werden, nur wesentlich negative und geradezu destruktive Resultate zeitigen konnte202.[145]


Fußnoten

1 Freilich werden wir es dabei nur mit elementaren Formen dieser Probleme zu tun haben. Dieser Umstand allein erlaubt es mir, dem die fachmäßige Beherrschung der gewaltig anschwellenden logischen Literatur naturgemäß nicht zu Gebote steht, mich mit ihnen hier zu beschäftigen. Ignorieren darf auch der Fachmann der Einzelwissenschaften jene Probleme nicht, und vor allem: so elementar sie sind, so wenig ist, wie sich auch im Rahmen dieser Studie zeigen wird, auch nur ihre Existenz allseitig erkannt.


2 Sachlich erhebliche Aenderungen finden sich übrigens in den für uns wesentlichen Hauptpunkten bis in die spätesten Bände und Auflagen des großen Roscherschen Werkes kaum. Es ist eine gewisse Erstarrung eingetreten. Autoren wie Comte und Spencer hat er zwar noch kennengelernt, ihre Grundgedanken in ihrer Tragweite aber nicht erkannt und nicht verarbeitet. Ueber Erwarten dürftig für unsere Zwecke erweist sich insbesondere seine »Geschichte der Nationalökonomik« (1874), da für R. durchweg das Interesse daran, was der behandelte Schriftsteller praktisch gewollt hat, im Vordergrunde steht.


3 Die nachfolgende Analyse bietet, ihrem Zweck ent sprechend, selbstverständlich das Gegenteil eines Gesamt bildes von der Bedeutung Roschers. Für deren Würdigung ist auf den Aufsatz Schmollers (zuletzt gedruckt in: Zur Literaturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften) und auf die Gedächtnisrede Büchers (abgedruckt Preuß. Jahrbücher, Band 77, 1894, S. 104 ff.) zu verweisen. Daß beide in diesen bei Roschers Lebzeiten bzw. gleich nach seinem Tode erschienenen Aufsätzen einen für Roschers wissenschaftliche Persönlichkeit wichtigen Punkt: seine religiöse Grundanschauung, beiseite ließen, war bei der subjektivistischen Empfindungsweise unserer Generation in diesen Dingen durchaus natürlich. Eine genauere Analyse von Roschers Methode würde – wie wir sehen werden – diesen Faktor nicht vernachlässigen dürfen, und Roscher selbst war – wie die posthume Publikation seiner »Geistlichen Gedanken« zeigt – auch insofern durchaus »unmodern«, als er gar nicht daran dachte, bei dem öffentlichen Bekenntnis zu seinem streng traditionellen Glauben irgendeine Verlegenheit zu empfinden. Daß in der nachfolgenden Analyse Roschers mannigfache Wiederholungen und eine oft scheinbar unnötige Ausführlichkeit sich finden, hat seinen Grund in dem unabgeschlossenen und vielfach in sich wiederspruchsvollen Charakter seiner Ansichten, deren einzelne Verzweigungen immer wieder an den gleichen logischen Gedanken gemessern werden müssen. Für logische Untersuchungen gibt es schlechthin nichts »Selbstverständliches«. Wir analysieren hier in eingehender Weise längst überwundene Anschauungen Roschers auf ihren logischen Charakter hin, über deren sachlichen Gehalt heute in unserer Wissenschaft wohl niemand mehr ein Wort verlieren würde. Irrtümlich aber wäre es, aus diesem Grunde anzunehmen, die logischen Schwächen, die darin stecken, wären uns heute im allgemeinen klarer, als sie es ihm waren.


4 Dieser im weiteren Verlauf unserer Erörterung noch oft zu berührende Gegensatz ist in einem gewissen Maße, obgleich mit teilweise unzutreffenden Folgerungen, schon von Menger – wie noch zu erwähnen sein wird – in seiner Tragweite für die Methodenlehre der Nationalökonomie erkannt worden.

Die exakte logische Formulierung ist, nach den Ansätzen, die sich bei Dilthey (Einleitung in die Geisteswissenschaften) und Simmel (Probleme der Geschichtsphilosophie) fanden, in wichtigen Punkten zuerst in Windelbands Rektoratsrede 1894 (Geschichte und Naturwissenschaft) kurz skizziert, dann aber in dem grundlegenden Werk von H. Rickert (Die Grenzen der naturwissensch. Begriffsbildung) umfassend entwickelt worden. Auf ganz anderen Wegen nähert sich, beeinflußt von Wundt, Dilthey, Münsterberg und Mach, gelegentlich auch von Rickert (Band I), im wesentlichen aber durchaus selbständig, den Problemen der Begriffsbildung in der Nationalökonomie die Arbeit von Gottl (»Die Herrschaft des Wortes«, 1901), welche jetzt freilich, soweit sie Methodenlehre treibt, in manchen – jedoch keineswegs in den ihr wesentlichsten – Punkten durch die inzwischen erschienene zweite Hälfte des Rickertschen Werkes überholt ist. Rickert ist die Arbeit offenbar unbekannt geblieben, ebenso Eduard Meyer, dessen Ausführungen (»Zur Theorie und Methodik der Geschichte«, 1902) sich mit denjenigen Gottls vielfach berühren. Der Grund liegt wohl in der fast bis zur Unverständlichkeit sublimierten Sprache Gottls, der – eine Konsequenz seines psychologistischen erkenntnistheoretischen Standpunkts – die hergebrachte begrifflich gebundene und dadurch für ihn »denaturierte« Terminologie geradezu ängstlich meidet und gewissermaßen in Ideogrammen den Inhalt des unmittelbaren »Erlebens« zu reproduzieren strebt. So sehr manche Ausführungen, darunter auch prinzipielle Thesen der Arbeit, Widerspruch erregen müssen, und so wenig ein wirklicher Abschluß erreicht wird, so sehr ist die in ihrer Eigenart feine und geistvolle Beleuchtung des Problems zu beachten, auf welche auch hier mehrfach zurückzukommen sein wird.


5 Wohlgemerkt: nicht ihr ausschließlich oder auch nur überwiegend verwendetes Mittel, sondern dasjenige, welches sie von den exakten Naturwissenschaften unterscheidet.


6 Begriffen, welche die konkrete historische Erscheinung einem konkreten und individuellen, aber möglichst universellen Zusammenhang einordnen.


7 Indem mit fortschreitender Erkenntnis der Zusammenhang, dem die Erscheinungen eingeordnet werden, in stets zunehmendem Maße in seinen charakteristischen Zügen erkannt wird.


8 Indem mit zunehmender Erkenntnis des Charakteristischen der Erscheinung ihr individueller Charakter notwendig zunimmt.


9 Wie Anmerkung 1.


10 In dem – für den gewöhnlichen Sprachgebrauch ungewöhnlichen – Sinn des Wortes, welcher den Gegensatz gegen naturalistische Relationsbegriffe bezeichnet und z.B. das »Charakter«-Bild einer konkreten »Persönlichkeit« einschließt. – Der Terminus »Begriff«, heute so umstritten wie je, ist hier wie weiterhin für jedes durch logische Bearbeitung einer anschaulichen Mannigfaltigkeit zum Zweck der Erkenntnis des Wesentlichen entstehende, wenn auch noch so individuelle Gedankengebilde gebraucht. Der historische »Begriff« Bismarck z.B. enthält von der anschaulich gegebenen Persönlichkeit, die diesen Namen trug, die für unsere Erkenntnis wesentlichen Züge, hineingestellt als einerseits bewirkt, andererseits wirkend in den gesellschaftlich-historischen Zusammenhang. Ob auf die prinzipielle Frage, welches jene Züge sind, die Methodik eine Antwort bereit halten kann, ob es also ein allgemeines methodisches Prinzip gibt, nach welchem sie aus der Fülle der wissenschaftlich gleichgültigen herausgelesen werden, bleibt vorerst dahingestellt. (S. dagegen z.B. Ed. Meyer a.a.O.)


11 Ich glaube, vorstehend mich ziemlich sinngetreu an die wesentlichen Gesichtspunkte der früher zitierten Arbeit Rickerts angeschlossen zu haben, soweit sie für uns von Belang sind. Es ist einer der Zwecke dieser Studie, die Brauchbarkeit der Gedanken dieses Autors für die Methodenlehre unserer Disziplin zu erproben. Ich zitiere ihn daher nicht bei jeder einzelnen Gelegenheit erneut, wo dies an sich zu geschehen hätte.


12 Die praktische Wirkung einer derartigen Identifikation, wenn mit ihr einmal Ernst gemacht wird, auf die Art der historischen Darstellung kann man sich wohl am leichtesten an Lamprechts Deutscher Geschichte, I. Ergänzungsband, verdeutlichen, wo gewisse Eintagsfliegen der deutschen Literatur als »entwickelungsgeschichtlich wichtig« bezeichnet werden, weil ohne ihre – aus diesem Grunde theoretisch wertvolle – Existenz der angeblich gesetzlich gleichmäßige Ablauf der verschiedenen »Impressionismen« usw. in der Sozialpsyche nicht so konstruiert werden könnte, wie es der Theorie entspricht, und wo andererseits Persönlichkeiten, die wie Klinger, Böcklin u.a. der Theorie lästig sind, gewissermaßen als Mörtel in die Fugen zwischen die Konstruktionsteile geschoben werden: sie sind dem Gattungsbegriff »Uebergangsidealisten« eingeordnet, – und wo auch die Bedeutung von R. Wagners Lebenswerk »steht und fällt«: nicht etwa mit dem, was es uns bedeutet, sondern mit der Frage, ob es in einer bestimmten theoretisch postulierten »Entwicklungs«-Linie liegt.


13 Jene oben erwähnte Bemerkung dagegen hat Roscher wenigstens in die prinzipiellen Erörterungen seines »Systems« nicht aufgenommen, woraus allein schon hervorgeht, daß es sich dabei und bei gelegentlichen ähnlichen Aeußerungen nicht um Aufstellung eines klaren methodischen Prinzips handelte.


14 Ganz in Uebereinstimmung mit Rau fordert er, daß »unsere Lehren, Naturgesetze usw. immer so gehalten sein müssen, daß sie von den neueintretenden Veränderungen der Kameraldisziplin nicht gesprengt werden«. (S. Rau in seinem Archiv 1835, S. 37. Roscher daselbst 1845, S. 158).

15 Die gleiche Anschauung – wennschon mit einigen Vorbehalten bezüglich der psychologischen Motivation – z.B. bei Schmoller in der Rezension des Kniesschen Werkes (in seinem Jahrbuch 1883, abgedruckt in »Zur Literatur der Staats- und Sozialwissenschaften«, S. 203 ff., vgl. insbes. S. 209) und bei Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft, Vorrede zur ersten Auflage: »Sämtliche Vorträge beherrscht eine einheitliche Auffassung vom gesetzmäßigen Verlaufe der wirtschaftsgeschichtlichen Entwickelung«. Da die Anwendung des Terminus »Gesetz« auf eine einmalige Entwickelung auffällig wäre, so kann nur entweder gemeint sein: daß der gesetzlich bestimmte Ablauf der Entwickelung sich – wie Roscher dies annimmt – überall da in den wissenschaftlich wesentlichen, von B. behandelten Punkten wiederhole, wo eine Entwickelung überhaupt stattfinde, – oder (wahrscheinlicher) es ist, wie so oft, »gesetzliche« und »kausale« Bedingtheit identifiziert, weil wir von »Kausalgesetz« zu sprechen pflegen.


16 Keineswegs überall und bei allen Vertretern der historischen Juristenschule, wohl aber bei ihren Nachfolgern auf dem Gebiete der Nationalökonomie.


17 Siehe die Ausführungen über das Verhältnis von Volkscharakter und geographischen Verhältnissen § 37 des Systems, welche in fast naiver Art die Stellung des »Volksgeistes« als eines primären »Urelements« gegen die Möglichkeit »materialistischer« Deutung zu halten suchen.


18 Dabei haben zweifellos die Gedankengänge der Herbartschen Psychologie über das Verhältnis zwischen Individuum und Gesamtheit mitgewirkt; wieweit im einzelnen, ist schwer zu sagen und hier nicht interessant. Roscher zitiert Herbart gelegentlich (§§ 16, 22). Die Lazarus-Steinthalsche »Völkerpsychologie« ist dagegen bekanntlich jüngeren Datums.


19 § 14 des Systems, Band I.


20 S. die Ausführungen über den Begriff »Dänemark« auf S. 19 seines »Thukydides«.


21 Roscher zitiert, wie schon gesagt, speziell Adam Müller als denjenigen, der sich um die Auffassung von Staat und Volkswirtschaft als neben und »über den einzelnen und selbst Generationen« stehendem Ganzen verdient gemacht hat (System, Bd. I § 12, Anm. 2 [2. Aufl. S. 20]). S. aber andererseits die Vorbehalte System, Bd. I § 28, Anm. 1.


22 So schon im »Thukydides« S. 21 trotz aller Vorbehalte auf S. XI und XII in der Vorrede und S. 20 und 188.


23 Auch Knies war, wie wir sehen werden, der Ansicht, daß das, was man unter einem »Volk« verstehe, unmittelbar anschaulich-evident sei und der begrifflichen Analyse nicht bedürfe.


24 Die erstere Einteilung der Wissenschaften wird bekanntlich von Dilthey, die letztere von Windelband und Rickert in den Dienst der Aufhellung der logischen Eigenart der Geschichte gestellt. Daß die Art, wie uns psychische Objekte »gegeben« sind, keinen spezifischen, für die Art der Begriffsbildung wesentlichen Unterschied gegenüber den Naturwissenschaften begründen könne, ist eine Grundthese Rickerts; – daß der Gegensatz der inneren »Erlebungen« zu den »äußeren« Erscheinungen kein bloß »logischer«, sondern ein »ontologischer« sei, ist (nach Dilthey) der Ausgangspunkt Gottls a.a.O. Der in dieser Studie weiterhin zugrunde gelegte Standpunkt nähert sich dem Rickertschen insofern, als dieser meines Erachtens ganz mit Recht davon ausgeht, daß die »psychischen« bzw. »geistigen« Tatbestände – wie immer man diese vieldeutigen Termini abgrenzen möge – prinzipiell der Erfassung in Gattungsbegriffen und Gesetzen durchaus ebenso zugänglich sind wie die »tote« Natur. Denn der geringe erreichbare Grad der Strenge und der Mangel der Quantifizierbarkeit ist nichts den auf »psychische« oder »geistige« Objekte bezüglichen Begriffen und Gesetzen Spezifisches. Die Frage ist vielmehr nur, ob die eventuell aufzufindenden generell geltenden Formeln für das Verständnis derjenigen Bestandteile der Kulturwirklichkeit, auf die es uns ankommt, irgendwelchen erheblichen Erkenntniswert haben. – Weiter ist daran festzuhalten, daß der »urwüchsige Allzusammenhang«, wie er in der inneren Erfahrung erlebt wird und (nach Gottls Ansicht) die Anwendung der naturalistischen Kausalbetrachtung und des naturalistischen Abstraktionsverfahrens ausschließt – in Wahrheit nur: für die Erkenntnis des uns Wesentlichen häufig unfruchtbar macht –, sich auch auf dem Boden der toten Natur (nicht nur bei biologischen Objekten, denen Gottl eine Ausnahmestellung einräumt) dann sofort einstellen würde, wenn wir einen Naturvorgang in voller konkreter Realität zu erfassen suchen würden. Daß wir dies in den exakten Naturwissenschaften nicht tun, folgt nicht aus der sachlichen Natur des ihnen Gegebenen, sondern aus der logischen Eigenart ihres Erkenntnisziels.

Andererseits bleibt auch bei grundsätzlicher Annahme des Rickertschen Standpunktes zweifellos und von Rickert selbst natürlich nicht bestritten, daß der methodische Gegensatz, auf den er seine Betrachtungen zuspitzt, nicht der einzige und für manche Wissenschaften nicht einmal der wesentliche ist. Mag man insbesondere seine These, daß die Objekte der »äußeren« und »inneren« Erfahrung uns grundsätzlich in gleicher Art »gegeben« seien, annehmen, so bleibt doch, gegenüber der von Rickert stark betonten »prinzipiellen Unzugänglichkeit fremden Seelenlebens«, bestehen, daß der Ablauf menschlichen Handelns und menschlicher Aeußerungen jeder Art einer sinnvollen Deutung zugänglich ist, welche für andere Objekte nur auf dem Boden der Metaphysik ein Analogon finden würde, und durch welche u.a. jene eigentümliche, oft – auch von Roscher – hervorgehobene Verwandtschaft des logischen Charakters gewisser ökonomischer Erkenntnisse mit der Mathematik begründet wird, die ihre gewichtigen, wennschon oft (z.B. von Gottl) überschätzten Konsequenzen hat. Die Möglichkeit dieses Schrittes über das »Gegebene« hinaus, den jene Deutung darstellt, ist dasjenige Spezifikum, welches trotz Rickerts Bedenken es rechtfertigt, diejenigen Wissenschaften, die solche Deutungen methodisch verwenden, als eine Sondergruppe (Geisteswissenschaften) zusammenzufassen. In den Irrtum, für sie eine der Rolle der Mathematik entsprechende Grundlage in einer erst noch zu schaffenden systematischen Wissenschaft der Sozialpsychologie für nötig zu halten, braucht man, wie später zu erörtern sein wird, deshalb noch nicht zu verfallen.


25 Das wäre nicht nur faktisch, sondern nach dem logischen Wesen »gesetzlicher« Erkenntnis prinzipiell unmöglich, da die Bildung von »Gesetzen« – Relationsbegriffen von genereller Geltung – mit Entleerung des Begriffsinhalts durch Abstraktion identisch ist. Das Postulat der »Deduktion« des Inhalts der Wirklichkeit aus Allgemeinbegriffen wäre, wie später noch an einem Beispiel zu erörtern sein wird, selbst als in der Unendlichkeit liegendes Ideal gedacht sinnlos. Hier hat meines Erachtens auch Schmoller in seiner Entgegnung gegen Menger (Jahrbuch 1883, S. 979) in dem Satze: »Alle vollendete Wissenschaft ist deduktiv, weil, sobald man die Elemente vollständig beherrscht, auch das komplizierteste nur Kombination der Elemente sein kann«, Konzessionen gemacht, die nicht einmal auf dem eigensten Anwendungsgebiete der exakten Gesetzesbegriffe gelten. Wir kommen darauf später zurück.


26 Wenn wir diesen Ausdruck hier vorerst ohne nähere Deutung akzeptieren.


27 Ueber die so einfachen und doch so oft verkannten Unterschiede der Bedeutungen von »allgemein« voneinander, mit denen wir immer wieder zu tun haben, ist grundlegend der Aufsatz von Rickert, Les quatre modes de l'universel en histoire, in der Revue de synthèse historique 1901.


28 Vgl. darüber und überhaupt über diese Probleme die vorzügliche Arbeit eines sehr begabten Schülers von Rickert: E. Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte, S. 39 ff., 51 f., 64.

29 Wir lassen hier die für die Nationalökonomie zentralen logischen Probleme, zu welchen die besondere Art von anschaulicher Evidenz führt, der die Deutung menschlicher Motivation zugänglich ist, und mit denen neuestens Gottl a.a.O. sich befaßt, zunächst noch absichtlich beiseite. Wir können dies, da Roscher diesen Gesichtspunkt in keiner Weise verwertet hat. Nach ihm nähern wir uns der Erkenntnis der Zusammenhänge menschlichen Handelns diskursiv und von außen her, ganz ebenso wie der Erkenntnis des Naturzusammenhangs. Ueber die »Selbstbeobachtung« als Erkenntnisquelle vgl. die kurze Bemerkung: Gesch. d. Nationalökonomik, S. 1036. Daselbst die oft zitierte Stelle über die relativ geringe Tragweite des Unterschiedes von »Induktion« und »Deduktion«, welch letztere mit der Selbstbeobachtung identifiziert wird, ohne daß Roscher den sich daraus ergebenden logischen Problemen hier oder sonst weiter nachginge.


30 Roschers ausführliche Stellungnahme zu Hegel in der Geschichte der Nationalökonomik (S. 925 ff.) ist für uns belanglos, da er fast nur die Beurteilung konkreter praktischer Fragen durch Hegel kritisiert. Bemerkenswert ist nur der Respekt, mit welchem er die »dreistufige Entwickelung vom abstrakt Allgemeinen durch das Besondere zum konkret Allgemeinen« behandelt, welche »eines der tiefsten historischen Entwickelungsgesetze berühre«, – ohne nähere Erläuterung.


31 Auch B. G. Niebuhr, dem er in der Gesch. d. Nationalökonomik (S. 916 f.) ein schönes Denkmal setzt, rechnet er selbst dazu.


32 Thukydides S. 19. Er nennt Hegel, den er weiterhin gelegentlich zitiert (S. 24, 31, 34, 69), an dieser Stelle nicht.


33 Thuk. S. 28.


34 Das. S. 24 f., bes. S. 27.


35 Das. S. 29.


36 Das. S. 22. Der Unterschied zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Wahrheit findet sich S. 27 und S. 35 entwickelt.


37 Das. S. 35.


38 Vorrede S. XII.


39 Eine eingehendere Auseinandersetzung mit derjenigen Form der Hegelschen Dialektik, welche das »Kapital« von Marx repräsentiert, hat Roscher nie unternommen. Seine Ausführungen gegen Marx in der Gesch. d. Nationalökonomik, S. 1221 und 1222 (eine Seite!) sind von erschreckender Dürftigkeit und zeigen, daß ihm damals (1874) jede Reminiszenz an die Bedeutung Hegels abhanden gekommen war.


40 So Thuk. S. 10.


41 Thuk. S. 35.


42 Thuk. S. 58.


43 Thuk. S. 188.


44 Selbst für die künstlerische Produktion ist ihm das allein interessierende »Hauptsächlichste« (das was der Künstler von der Erscheinung erfassen will und soll) dasjenige, welches »zu allen Zeiten, unter allen Völkern und in allen Herzen wiederkehrt« (Thukydides S. 21 mit Exemplifikation auf Hermann und Dorothea und die Reden im Thukydides).


45 § 22 des Systems, Band I.


46 Vgl. dazu unter anderen die Ausführungen von Rickert, Grenzen S. 245 f.


47 »Jedes historische Urteil beruht auf unzähligen Analogien«, meint er Thukydides S. 20, – ein Satz, der in dieser Form jenem Irrtum verwandt ist, der das Studium einer – erst zu schaffenden! – Psychologie als Voraussetzung exakter historischer Forschung ansieht und bei den sehr energischen Worten gegen den Mißbrauch von historischen Analogien S. XI der Vorrede besonders auffällt.

48 Vgl. Thukydides S. 195.


49 § 13 Note 4 des »Systems«, Band I.


50 Roschers Stellung zum Wunder ist reserviert und vermittelnd (vgl. Geistliche Gedanken S. 10, 15 u. öfter). Wie Ranke, so hat auch er das konkrete Geschehen lediglich aus natürlichen Motiven zu erklären gesucht. Wo Gott in die Geschichte hineinragen würde, hätte auch für ihn unser Erkennen ein Ende.


51 Im ganzen verläßt also Roscher nicht den Boden der von ihm allerdings nicht korrekt gehandhabten und ihm wohl auch nicht gründlich bekannten Kantischen analytischen Logik. Er zitiert von Kant wesentlich nur: Die Anthropologie (§ 11 Anm. 6 des Systems, Bd. I) und die metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre und der Tugendlehre. Der Abschnitt über Kant in der Geschichte der Nationalökonomik (S. 635 f.), der ihn lediglich als Vertreter des »Subjektivismus« recht oberflächlich erledigt, zeigt die tiefe Antipathie Roschers – des Historikers sowohl wie des religiösen Menschen – gegen alle nur formale Wahrheit.


52 Roscher zitiert Humboldts auch neuerdings viel erörterte Studie (in den Abhandlungen der Berliner Akademie von 1820): Thukydides, S. 44, ebenda und oft die Gervinussche Historik. (Ueber das allmähliche Verschwinden des metaphysischen Charakters der »Idee« bei Gervinus vgl. u.a. die Jenenser Dissertation von Dippe 1892.)


53 Siehe die Bekämpfung des Droysenschen Standpunktes zur »Unparteilichkeits«-Frage, Thukydides S. 230/1, aus der wohl sein Lehrer Ranke mitspricht. – Auch der formale Charakter der gleich zu besprechenden Roscherschen Geschichtsepochen erklärt sich zum Teil wohl mit aus seinem »Objektivitäts«-Streben. Er fand keine andere (nach seiner Meinung) unanfechtbare Basis als die einfache Tatsache des »Alt«-Werdens der Völker. –


54 Roscher war aus diesem Grunde bekanntlich der Ansicht, daß das Studium der Kulturentwicklung der Völker des klassischen Altertums, deren Lebenslauf ja abgeschlossen vor uns liegt, uns in besonders weitgehendem Maße Aufschluß über den Gang unserer eigenen Entwickelung zu geben vermöge. – Ein gewisses Maß von Beeinflussung durch derartige Gedankengänge Roschers verraten noch einige frühere Aeußerungen Eduard Meyers, der dagegen jetzt, wohl namentlich unter dem Eindruck der Wege, auf die Lamprecht geraten ist, sich im wesentlichen auf den schon von Knies, wie wir sehen werden, vertretenen Standpunkt stellt.


55 In einem u. S. 29 noch zu zitierenden Aufsatz in Schmoll. Jahrb., 1897.


56 Wenn moderne Historiker (v. Below, Histor. Zeitschr. 81 [1898] S. 245) von den »lähmenden Gedanken der gesetzlichen Entwickelung« sprechen und der Geschichte die Aufgabe zuweisen, uns von dem »niederdrückenden und abstumpfenden Gefühle, das die von der Naturforschung vorgetragene Lehre unserer Abhängigkeit von allgemeinen Gesetzen bei uns hervorbringen will«, zu befreien, – so lag ein solches Bedürfnis für Roscher nicht vor. Die Entwickelung der Menschheit gilt ihm als zeitlich endlich im Sinn der religiösen Vorstellung vom jüngsten Tage, und daß den Völkern von Gott ihr Lebensweg in bestimmten Bahnen und Altersstufen vorgezeichnet ist, kann die Arbeitspflicht und Arbeitsfreudigkeit des Staatsmanns ebensowenig beeinträchtigen, wie das Bewußtsein, altern und sterben zu müssen, den Einzelnen lähmt.

Uebrigens spricht die Erfahrung gegen die Bemerkung v. Belows, der – sonst ein scharfer und überaus erfolgreicher Kritiker aprioristischer Konstruktionen – hier wohl einmal seinerseits zu »konstruktiv« verfährt. Die radikalsten Neuerer standen unter dem Eindruck und Einfluß der Kalvinistischen Prädestinationslehre, des »l'homme machine« und des marxistischen Katastrophenglaubens. Wir kommen auf diesen Punkt noch mehrfach zurück.


57 »Naturwissenschaftlich« soll hier wie im folgenden stets im Sinn von »gesetzeswissenschaftlich« verstanden sein, also die exakte Methode der Naturwissenschaften bezeichnen.


58 Siehe die charakteristische Stelle § 37 des »Systems«, Band I und die weiterhin zitierten Stellen im Thukydides.


59 Thuk. S. 58, 59, 62, 63.


60 Thuk. S. 43.


61 So der Schluß des ganzen Werkes (S. 502): »So haben von jeher die Lieblingspläne sinkender Zeiten, statt der Freiheit und Glückseligkeit, die sie verhießen, nur gesteigerte Knechtschaft und Drangsal zur Folge gehabt.«


62 In der Gegenwart arbeitet unter den Historikern vornehmlich Lamprecht mit derartigen biologischen Analogien und Begriffen. Auch hier wird die Nation als eine »sozialpsychische« Einheit hypostasiert, welche an sich eine Entwickelung von – wie Lamprecht (Jahrb. f. Nationalökonomie 69, 119) ausdrücklich sagt – »biologischem Charakter«, das soll heißen eine in »typischen«, »regulären« Entwickelungsstufen, nach bestimmten Gesetzen verlaufende Entwickelung, erlebt. Diese Entwickelung stellt sich dar als »beständiges Wachstum der psychischen Energie« der Nation (Deutsche Zeitschrift f. Geschichtswiss. N. F. I, 109 f.): Aufgabe der Wissenschaft ist es, an Völkern mit »abgeschlossener Entwickelung« – wiederum eine Roschersche Vorstellung – diese bei jedem »normal entwickelten« Volke wiederkehrenden typischen Kulturepochen in ihrem notwendigen Hervorgehen auseinander zu beobachten und »kausal (?) zu erklären«. Lamprechts »Diapasons« (!) sind in den im Text wiedergegebenen Ausführungen im 4. Kapitel des Thukydides ganz ebenso vorweggenommen wie dessen stark dilettantische kunsthistorische Konstruktionen, und wenn man von dem »Animismus« und »Symbolismus« auf der einen, dem »Subjektivismus« auf der anderen Seite absieht, selbst die Kategorien, nach denen die Epochen geschieden werden. Das logische Mittel, welches L. anwendet: Hypostasierung der »Nation« als eines kollektiven Trägers derjenigen psychischen Vorgänge, welche nach ihm die »Sozialpsychologie« erörtern soll, ist das gleiche wie bei allen »organischen« Theorien. Auch die Bezugnahme auf das »Gesetz der großen Zahl« zur Erhärtung der »Gesetzlichkeit« in der Bewegung der sozialen Gesamterscheinungen trotz der empirischen »Freiheit« des »Einzelnen« kehrt bei ihm, wenn schon verhüllt, wieder.

Der Unterschied zwischen Roscher und ihm beruht nur auf der nüchternen Gewissenhaftigkeit Roschers, der nie an die Möglichkeit geglaubt hat, das Wesen des einheitlichen Kosmos in einem oder einigen abstrakten Begriffen auch formulieren zu können, und der in seiner Praxis sein Schema zwar innerhalb gewisser Grenzen zur Stoffgliederung und Veranschaulichung benutzte, nie aber dessen Erhärtung zum Ziel seiner wissenschaftlichen Arbeit gemacht und diese dadurch ihrer Unbefangenheit beraubt hätte. Siehe die oben S. 17 wiedergegebenen Ausführungen in Roschers »Thukydides«.


63 Enthalten in Roschers »Ansichten der Volksw. vom gesch. Standpunkt«, Bd. I, in dem Aufsatz über das Verhältnis der Nationalökonomie zum klassichen Altertum. Der Aufsatz ist, wie gesagt, 1849 entstanden.


64 S. die höchst charakteristischen Bemerkungen am Schluß des § 264 und in den Noten dazu. Der logische Charakter der stark religiös gefärbten Argumentation ist ersichtlich emanatistisch, aber wie vorsichtig weicht Roscher in der Formulierung der direkten Berufung auf Gottes Ordnung aus!


65 R. begnügt sich daher auch bei der Schilderung des »Sterbens« der Völker mit ziemlich vagen Bemerkungen (§ 264), wobei die »unvermeidliche Abnutzung aller Ideale« und die »Erschlaffung im Genuß« eine Rolle spielen. In der Geschichte der Nationalökonomik (S. 922) wird in Anlehnung an Aeußerungen Niebuhrs das Schwinden des Mittelstandes auf bestimmten Kulturstufen als »Hauptform des Alterns hochkultivierter Völker« hingestellt. Mit dem modernen geschichtsphilosophischen Kulturpessimismus, wie er wissenschaftlich u.a. von Vierkandt vertreten wird, hat R.s Standpunkt infolge seines religiös bedingten Optimismus innerlich nichts Verwandtes. – Seine Ansicht von der »Notwendigkeit« des »Verfalles« für jeden »Organismus« und deshalb auch das »Volksleben« hielt Roscher auch in den späteren Auflagen (Anm. 7 zu § 16) ausdrücklich als einen Punkt, in dem er von Schmoller abweichen müsse, aufrecht. – Roscher geht soweit, es (Thukydides S. 469) unter Berufung auf Aristoteles Politik V, 7, 16 als eins der »tiefsten Entwickelungsgesetze« zu bezeichnen, daß dieselben »Kräfte«, welche ein Volk auf den Gipfel seiner Kulturentwickelung heben, im weiteren Fortwirken es davon auch wieder herabstürzen, und gelangt so in seinem »System« (§ 264 Anm. 7) zu dem Satz: »Große Herrscher, denen man nachrühmt, daß sie durch ihre Konsequenz die Welt erobert, würden mit derselben Konsequenz, fünfzig Jahre länger fortgesetzt, ganz gewiß (!) die Welt wieder verloren haben.« Es handelt sich hier um halb platonische, halb Hegelsche Formen der Konstruktion, aber in religiöser Wendung: die »Idee« des Endlichen, welche die Notwendigkeit jenes Ablaufs enthält, ist Gottesfeste Ordnung.


66 Möglich wäre es bezüglich des »Sterbens« der Völker nur bei Identifikation des Begriffs »Volk« mit der gattungsmäßig erfaßten politischen Organisation der Staaten, also bei rationalistischer Entleerung des Begriffes »Volk«. Aus dem »Altern« würde dabei vollends lediglich die inhaltsleere Vorstellung des Ablaufs eines erheblichen Zeitraums.


67 Roscher hat freilich diesen prinzipiellen logischen Gegensatz gar nicht bemerkt. Er identifiziert § 22 Anm. 3 in charakteristischer Weise begriffliche Abstraktion und Zerlegung eines Zusammenhangs in seine Komponenten. Die Trennung der Muskeln und Knochen durch den Anatomen ist ihm eine Analogie der Abstraktion.


68 Wir erinnern uns hier an das, was er im »Thukydides« über das Prinzip der Kausalität gesagt hatte: das »Wichtigere« muß als Realgrund angesehen werden, aus dem die Einzelerscheinungen emanieren. Siehe oben S. 18.


69 Siehe oben S. 19 f.


70 Bücher (a.a.O.) bedauert, daß Roscher sein Periodisierungsprinzip nicht »dem Begriffsinhalt der eigenen Wissenschaft entnommen« habe. Es stand eben für Roscher (und ebenso für Knies, wie unten zu zeigen sein wird) keineswegs fest und versteht sich ja auch an sich durchaus nicht von selbst, daß dies überhaupt möglich bzw. in welchem Maße es methodisch fruchtbar ist.


71 Zusammengefaßt als »Politik. Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie«.


72 S. die zutreffenden Bemerkungen von Hintze über »Roschers politische Entwicklungstheorie« in Schmollers Jahrbuch, 21. Jg. (1897), S. 767 ff.


73 Inwieweit diese Ansicht methodisch zutrifft, fragen wir an dieser Stelle nicht.


74 § 11: »Selbst der bloß rechnende Verstand muß erkennen, daß unzählige Anstalten ... für jeden Einzelnen ... notwendig sind, ohne Gemeinsinn aber ganz unmöglich bleiben, weil kein Einzelner die dazu erforderlichen Opfer übernehmen könnte.« – Ganz ähnlich: Gesch. d. Nationalökonomik, S. 1034, wo die für die Pseudo-Ethik, welcher der Historismus zu verfallen droht, recht charakteristische Bemerkung eingeflossen ist: »Der verständige Eigennutz trifft in seinen Forderungen immer näher mit denen des Gewissens zusammen, je größer der Kreis ist, um dessen Nutzen es sich handelt, und je weiter dabei in die Zukunft geblickt wird.«


75 Roscher zitiert hierzu (§ 11 Note 6) die Ausführungen Kants in dessen Anthropologie über die Beschränkung der Neigung zum Wohlleben durch die Tugend. Später ist ihm der »Gemeinsinn« Emanation einer objektiven sozialen Macht geworden, – er betont in den späteren Auflagen, daß er unter Gemeinsinn wesentlich dasselbe verstehe, was Schmoller »Sitte« nenne. Hiergegen wandte sich, wie wir sehen werden, Knies in der zweiten Auflage seines Hauptwerkes.


76 Das Problem bestand für die klassische Theorie deshalb nicht, weil sie von der Annahme ausging, daß auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens nur ein konstantes und einfaches Motiv wissenschaftlich in Betracht zu ziehen sei: der »Eigennutz«, welcher sich auf dem Boden der Verkehrswirtschaft in dem Streben nach dem Maximum privatwirtschaftlichen Gewinns äußere. Für sie bedeutet die ausschließliche Berücksichtigung dieses Triebes keineswegs eine Abstraktion.


77 Bekanntlich ist auch dieses Prinzip selbst von Rau nicht konsequent durchgeführt worden. Rau begnügte sich damit, das vorwaltende Wirken des Eigennutzes als eines »unwiderstehlichen Naturtriebes« als das Normale zugrunde zu legen, dem gegenüber andere »übersinnliche« und »erhabene« Motive jedenfalls nicht als Grundlage für die Aufstellung von »Gesetzen« in Betracht kommen könnten, – weil sie irrational sind. Daß aber die Aufstellung von Gesetzen der einzig mögliche wissenschaftliche Zweck sei, verstand sich von selbst.


78 Für die »prähistorische« nationalökonomische Theorie war eben der Mensch nicht das abstrakte Wirtschaftssubjekt der heutigen Theorie, sondern auch für die Nationalökonomie der abstrakte Staatsbürger der rationalistischen Staatslehre, wie dies charakteristisch bei Rau (Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, § 4) hervortritt: »Der Staat besteht ... aus einer Anzahl von Menschen, welche in gesetzlicher Ordnung beisammen leben. Sie heißen Staatsbürger, sofern sie ... gewisse Rechte genießen; ihre Gesamtheit ist das Volk, die Nation im staatswissenschaftlichen Sinne des Wortes.« Davon verschieden ist nach Rau der Begriff: Volk »im historisch-genealogischen Sinne in bezug auf Abstammung und Absonderung«. (Vgl. dazu Knies, 1. Aufl. S. 28)


79 Eine eingehendere Untersuchung würde ergeben, daß diese Scheidung auf ganz bestimmte puritanische Vorstellungen zurückgeht, die für die »Genesis des kapitalistischen Geistes« von sehr großer Bedeutung gewesen sind.

80 Diese Identifikation bezog sich bei A. Smith – im Gegensatz zu Mandeville und Helvetius – bekanntlich nicht auf die Herrschaft des Eigennutzes im Privatleben.


81 System, Band I § 11 (2. Aufl. S. 17).


82 Eigentümliche Anklänge an diese finden sich vielleicht schon in Mammons Rede an die gefallenen Engel in Miltons Verlorenem Paradiese, wie denn die ganze Ansicht eine Art Umstülpung puritanischer Denkweise ist.


83 Roscher lehnt (Geistl. Gedanken S. 33) die Zumutung, in der Geschichte und den äußeren Vorgängen des Menschenlebens etwas einer Theodizee Aehnliches sehen zu sollen, ebenso wie die Schillersche Formel von der »Weltgeschichte« als dem »Weltgericht«, mit einer einfachen Klarheit ab, die manchem modernen Evolutionisten zu wünschen wäre. Sein religiöser Glaube machte ihm überhaupt das Leitmotiv des »Fortschritts«, dem bekanntlich auch Ranke – ebensosehr als nüchterner Forscher wie als religiöse Natur – innerlich kühl gegenüberstand, entbehrlich: Der »Fortschritts«-Gedanke stellt sich eben erst dann als notwendig ein, wenn das Bedürfnis entsteht, dem religiös entleerten Ablauf des Menschheitsschicksals einen diesseitigen und dennoch objektiven »Sinn« zu verleihen.

84 System, Band I § 13. – Aehnliche Ausführungen hatte Roscher schon im »Thukydides« gemacht (S. 201), wo er die ganz allgemeine Behauptung aufstellt, daß jede gelungene historische Erklärung sich im Kreise herumdrehe, und diese Eigentümlichkeit des diskursiven Erkennens aus der Koordination der realen Objekte, mit denen es die Erfahrungswissenschaften zu tun haben, gegenüber der Subordination der Begriffe in der (Hegelschen) Philosophie entwickelt. – Der Gegensatz zwischen Geschichte und (toter) Natur fehlt jedoch dort noch und ist auch hier von Roscher wenig klar entwickelt. Er beruft sich (§ 13 a.a.O., 2. Aufl. S. 21) darauf, daß z.B. der Wind sich rein als Ursache der Drehung der Mühlenflügel auffassen ließe, ohne daß gleichzeitig eine umgekehrte Kausalbeziehung (Mühlenflügel als Ursache des Windes?) bestehe. Die Unbrauchbarkeit eines so unpräzis formulierten Beispiels liegt auf der Hand. Es liegt in unklarer Weise etwas Aehnliches zugrunde, wie die nach dem Vorgang Diltheys (Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1894, 2, S. 1313 unten u. öfter) und anderer auch von Gottl a.a.O. vertretene Anschauung von dem grundsätzlichen, »nicht nur logischen, sondern ontologischen« Gegensatz des erlebten »Allzusammenhangs« der (menschlich)-psychischen Objekte des Erkennens gegenüber der »zerfällend« erklärbaren toten Natur, – wobei aber von Gottl für die Objekte der Biologie die Notwendigkeit der Uebernahme anthropomorpher Begriffe als durch die Natur des Objektes gegebene Besonderheit eingeräumt wird, während Roscher umgekehrt biologische Begriffe auf das Sozialleben zu übertragen glaubt. Es führte hier zu weit und steht mir nicht zu, jene Anschauung eingehend zu kritisieren, daher sei nur bemerkt, daß »Wechselwirkung« und »Allzusammenhang« in genau dem gleichen Sinn und in ganz genau dem gleichen Grade wie auf dem Gebiet des inneren Erlebens uns auf dem Gebiet der toten Natur (diesen Gegensatz als solchen einmal hingenommen) entgegentreten, sobald wir eine individuelle Erscheinung in ihrer vollen konkreten intensiven Unendlichkeit zu erkennen uns bestreben, und daß eine genauere Besinnung uns den »anthropomorphen« Einschlag in allen Sphären der Naturbetrachtung zeigt.


85 Das ist das charakteristische Merkmal des erkenntnistheoretischen Standpunkts derjenigen »organischen« Gesellschaftsauffassung, welche den Hegelschen Standpunkt ablehnt. – Daß in Wahrheit, da wir auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaften in der glücklichen Lage seien, in das Innere der »kleinsten Teile«, aus denen die Gesellschaft sich zusammensetzt und welche alle Fäden ihrer Beziehungen durchlaufen müssen, hineinzublicken, die Sache umgekehrt liege, hat schon Menger und haben nachher viele andere eingewendet. –

Es ist bezeichnend, daß Gierke, der in seiner Berliner Rektoratsrede über »Das Wesen der menschlichen Verbände« (1902) noch einmal eine Lanze für die »organische Staatslehre« gebrochen hat, erkenntnistheoretisch auf dem gleichen Standpunkt wie Roscher steht. Er hält das Wesen seiner Gesamtpersönlichkeit für ein »Geheimnis«, welches nach seiner Ansicht offenbar wissenschaftlich nicht etwa nur vorläufig, sondern definitiv und notwendig »unentschleiert« bleiben muß (S. 23), d.h. also lediglich einer metaphysischen Deutung (durch »Phantasie« und »Glaube«, wie G. sagt) zugänglich ist. Daß Gierke – dessen Ausführungen sich wohl wesentlich gegen Jellineks m. E. abschließende Kritik richten – an der »überindividuellen Lebenseinheit« der Gemeinschaften festhält, ist verständlich: die Idee hat ihm (und damit der Wissenschaft) heuristisch die allerbedeutendsten Dienste geleistet, – allein wenn G. den Inhalt einer sittlichen Idee oder (S. 22 a.a.O.) sogar den Inhalt patriotischer Empfindungen als Entität (s.v.v.!) vor sich sehen muß, um an die Macht und Bedeutung jener Gefühle glauben zu können, so ist das doch befremdlich, und wenn er umgekehrt aus der sittlichen Bedeutung jener Gefühle auf die reale Existenz seiner Gemeinschaftspersönlichkeit schließt, also Gefühlsinhalte hypostasiert, so würden dagegen die Einwendungen, die Hegel gegen Schleiermacher erhob, mit weit unzweifelhafterem Recht in Kraft treten. Weder 1. der Kosmos der eine Gemeinschaft beherrschenden Normen, noch 2. die (zuständlich betrachtete) Gesamtheit der durch jene Normen beherrschten Beziehungen der zugehörigen Individuen, noch 3. die Beeinflussung des (als Komplex von Vorgängen betrachteten) Handelns der Individuen unter dem Einfluß jener Normen und Beziehungen, stellen ein Gesamtwesen im Gierkeschen Sinne dar oder sind irgendwie metaphysischen Charakters, und doch sind alle drei etwas anderes als eine »bloße Summierung von individuellen Kräften«, – wie übrigens doch schon die rechtlich normierte Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer mit ihren Konsequenzen etwas anderes ist als die einfache Summe der Interessen der beiden Einzelpersonen, und dennoch durchaus nichts Mystisches an sich trägt. – Hinter jenem Kosmos von Normen und Beziehungen steht aber ebenfalls kein geheimnisvolles Lebewesen, sondern eine das Wollen und Fühlen der Menschen beherrschende sittliche Idee, und es ist schwer zu glauben, daß ein Idealist wie Gierke ernstlich das Kämpfen für Ideen als ein Kämpfen für »leere Worte« ansehen könnte.


86 Man wird an die »Dominanten« der modernen Reinkeschen biologischen Theorien erinnert. Reinke hat diese freilich schließlich des metaphysischen Charakters, der ihnen begrifflich anhaften muß, wenn sie als Realgrund der Zweckmäßigkeit der Organismen gelten sollen, wieder entkleidet, und sie aus einer forma formans in eine forma formata zurückgedeutet, – damit aber auch gerade das wieder preisgegeben, was sie für eine spekulative Betrachtung des Kosmos leisten konnten, ohne für die empirische Einzelforschung etwas zu gewinnen. S. die Auseinandersetzung zwischen ihm und Drews im letzten Jahrgang der Preuß. Jahrbücher.


87 Es bedarf kaum des Hinweises, daß von dieser Verwendung des Gesetzes der großen Zahl, so mißbräuchlich sie ist, bis zu Quetelets »homme moyen« ein weiter Weg ist. Immerhin lehnt Roscher (§ 18 Note 2 des Systems, Band I) Quetelets Methode nicht eigentlich prinzipiell ab. Er führt aus, daß die Statistik »nur solche Tatsachen als ihr wahres Eigentum betrachten« dürfe, die sich auf »bekannte Entwicklungsgesetze« zurückführen lassen. Die Sammlung anderer (unverstandener) Zahlenreihen habe die Bedeutung des »unvollendeten Experimentes« (§ 18). Der Glaube an die Herrschaft der »Gesetze« kreuzt sich hier mit dem gesunden Sinn des empirischen Forschers, der die Wirklichkeit verstehen, nicht sie in Formeln verflüchtigen will.


88 Nur die prinzipielle Seite der Frage geht uns an. Ein Versuch, R.s wirtschaftspolitische Ansichten systematisch zu analysieren, liegt hier fern.


89 Roscher gliedert, wie er selbst hervorhebt, in seinem Hauptwerke die Fragen der Wirtschaftspolitik den betreffenden Abschnitten der Theorie ein.


90 Konsequent ist sich freilich Roscher auch in dieser Anschauung nicht geblieben. Rein materiell-wirtschaftliche Werturteile der verschiedensten Art durchziehen auch die rein theoretischen Teile des Roscherschen Systems, angefangen von dem in § 1 aufgestellten, durchaus sozialistisch anmutenden »Ideal«: »daß alle Menschen nur löbliche Bedürfnisse fühlten, aber die löblichen auch vollständig, und alle Befriedigungsmittel derselben klar einsähen und frei besäßen«, bis zu den Erörterungen über den Produktivitätsbegriff (§§ 63 ff.) und zur Aufstellung des »Bevölkerungsideals« in § 253: »Ihren Höhepunkt erreicht die volkswirtschaftliche Entwicklung da, wo die größte Menschenzahl gleichzeitig die vollste Befriedigung ihrer Bedürfnisse findet.«


91 §25: »Das Gängelband des Kindes, die Krücke des Greises würden für den Mann eben nur die ärgsten Fesseln sein.« Es gibt »ebensoviele verschiedene Ideale ... wie Volkseigentümlichkeiten«, außerdem wird »mit jeder Veränderung der Völker selbst und ihrer Bedürfnisse auch das für sie passende Wirtschaftsideal ein anderes« (ebenda).


92 Auch auf dem Boden der Ethik des täglichen Lebens kennt er keine subjektiven Grenzen der ethischen Gebote. Vgl. den Protest gegen die »Zuckerbäckermoral« für den Genius, mit besonderem Bezug auf Goethe, Geistl. Gedanken, S. 82. Ueber Faust eine höchst kleinbürgerlich anmutende Auslassung, das. S. 76.


93 Siehe den Vergleich der notwendig individuellen Wirtschaftsideale der Völker mit dem ebenso notwendig individuellen (aber doch objektiv bestimmbaren) Kleidermaß für Individuen (§ 25), vor allem aber die Erörterungen in § 27, wo Roscher bis zu der völlig utopistischen Ansicht gelangt, daß alle Parteigegensätze nur auf ungenügender Einsicht in den wahren Stand der Entwickelung zurückzuführen seien.


94 Syst., Bd. I §§ 15, 264. – Ganz ebenso faßte Ranke (Sämtl. Werke, Bd. 24, S. 290 f.) die Aufgabe der »Staatsökonomie« auf.


95 Syst., Bd. I § 24. – Roscher ist hierin, wie man sieht, mit den Klassikern völlig einig.


96 In einer Auseinandersetzung mit Kautz' Geschichte der Nationalökonomie sagt Roscher in den späteren Auflagen seines Werkes (§ 29 Note 2): »Wenn Kautz neben der Geschichte noch die ›sittlich praktische Menschenvernunft‹ mit ihren Idealen als Quelle der Nationalökonomie anführt, damit die Wissenschaft kein bloßes Abbild, sondern auch Vorbild des wirtschaftlichen Völkerlebens werde: so kann ich dies mir gegenüber für keinen wirklichen Gegensatz halten. Abgesehen davon, daß nur die sittlich-prakttische Menschenvernunft Geschichte versteht, bilden die Ideale jeder Periode eines der wichtigsten Elemente ihrer Geschichte. Namentlich pflegt sich das Zeitbedürfnis in ihnen am schärfsten auszusprechen. Der geschichtliche Nationalökonom als solcher ist gewiß nicht abgeneigt oder ungeeignet, Reformpläne zu machen. Nur wird er sie schwerlich dadurch empfehlen, daß sie absolut besser seien als das Bestehende, sondern er wird nachweisen, daß ein Bedürfnis vorhanden ist, welches durch sie wahrscheinlich am wirksamsten befriedigt werden möchte«. –

Die erste der unterstrichenen Stellen ist eine in ihrer Art klassische Antwort auf die heute noch so viel umstrittene und auch hier später noch zu berührende Frage der »Voraussetzungslosigkeit« der Geschichtsforschung. Die zweite enthält, wenn schon verhüllt, die spezifisch »entwickelungsgeschichtliche« Vermischung von Werdendem, Seinsollendem und Sittlichem, die wir ebenfalls noch erörtern werden. Aus einer Methode wird der historische Entwicklungsgedanke hier zu einer Normen offenbarenden Weltanschauung, und das enthält die prinzipiell gleichen Bedenken wie der analoge Vorgang, den wir mit den naturwissenschaftlichen Entwickelungsgedanken noch heute sich vollziehen sehen. Dahin gehört z.B. der naive Rat mancher Evolutionisten an die Religion, »neue Verbindungen einzugehen«: als ob sie über ihre Hand verfügen könnte wie eine unglücklich verheiratet gewesene Frau. Roscher hat, auch wo nicht der ihm aus religiösen Gründen widerwärtige Darwinismus in Frage kam, den ethischen Evolutionismus zugunsten seiner im religiösen Sinne idealistischen Psychologie abgewiesen: Geistl. Gedanken, S. 75: »Wer bloß nach unten blickt auf das Emporsteigen aus der Materie, der wird auch die Sünde, zumal die kultivierte Sünde, mit großer Gemütsruhe als eine noch nicht erreichte Vollkommenheit ansehen, während sie doch in Wahrheit das absolut Böse, dem innersten Kern unserer Natur Feindliche, ja Tödliche ist«.

Nicht minder, wie wir schon sahen, den Gedanken der Theodizee, was sein freilich in diesem Punkt wohl kaum noch kirchlich korrekter Glaube an die Fortsetzung der Entwickelung des Einzelnen nach dem Tode (Geistl. Gedanken, S. 33 – cf. die fast kindlich-naive Stelle S. 7/8) ihm religiös möglich machte.


97 Uebrigens kaum mit Recht, da R. ihn sowohl im »System« eingehend zitiert, wie in der Geschichte der Nationalökonomik anerkennend behandelt. Auffallend ist freilich, daß Roscher auf Knies' z. T. tiefgreifende Angriffe weder eingehend antwortete, noch seine eigene Darstellung entsprechend modifizierte.


98 S. eine so entstandene unmögliche Periode: 1. Aufl. S. 203.


99 Hier, wo es uns nur auf die Entwickelung bestimmter logischer Probleme ankommt, wird eine solche erschöpfende Wiedergabe nicht beabsichtigt. Für unsere Zwecke ist von der ersten Auflage und Knies' Aufsätzen aus den 50er Jahren auszugehen, die zweite und die späteren Arbeiten, insbesondere »Geld und Kredit«, werden da ohne weiteres mit herangezogen, wo ihre Ausführungen lediglich ein Ausbau jener sind; die abweichenden Gesichtspunkte der späteren Zeit werden, soweit dabei überhaupt neue logische und methodische Anschauungen hervortreten – was nur in geringem Maße der Fall ist –, zusammen mit den Ansätzen, die sich dazu schon in der ersten finden, kurz behandelt. Auch hier geschieht – wie bei Roscher – durchaus das Gegenteil dessen, was zu geschehen hätte, wenn es gelten würde, Knies' Leistung »historisch« zu würdigen. Seine Formulierungen werden zu Problemen der Wissenschaft in Beziehung gesetzt, die noch heute bestehen, und die Absicht ist nicht, ein Bild von Knies, sondern ein Bild von jenen Problemen zu geben, welche für unsere Arbeit notwendig entstehen mußten, und zu zeigen, wie er sich damit abgefunden hat und auf der Grundlage von Anschauungen, die auch heute von Vielen geteilt werden, sich damit abfinden mußte. Ein adäquates Bild seiner wissenschaftlichen Bedeutung entsteht dadurch natürlich in keiner Weise, ja in den Ausführungen dieses ersten Abschnittes muß zunächst der Anschein entstehen, als sei Knies nur der »Vorwand« für das hier Gesagte.


100 2. Aufl. S. 1 ff. und 215.


101 Vgl. S. 119 (1. Aufl. – dieselbe ist mangels eines besonderen Zusatzes im folgenden immer gemeint).


102 Dies spricht er S. 344 ausdrücklich aus.


103 Die kollektiven Zusammenhänge fallen als Sondergruppe unter den Tisch. Da sie »Handeln« enthalten, sind auch sie für Knies irrational.


104 S. 237, 333/4, 352, 345.


105 Schon Schmoller hat, in seiner Besprechung des Kniesschen Werkes, dessen Formulierung abgelehnt, da auch die Natur sich nie genau wiederhole (Zur Lit.-Gesch. der Staats- u. Sozialwissensch., S. 205).


106 So von Hinneberg, Histor. Zeitschr. 63 (1889), S. 29, wonach das Freiheitsproblem »die Grundfrage der gesamten Geisteswissenschaften« sein soll. Ganz ähnlich wie Knies hält z.B. auch Stieve (D. Z. f. Gesch.-Wissensch. VI, 1891, S. 41) die Annahme einer naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit durch die »Tatsache der menschlichen Willensfreiheit« für ausgeschlossen. – »Man wird«, glaubt Meinecke, Hist. Zeitschr. 77 (1896), S. 264, »den geschichtlichen Massenbewegungen doch mit ganz anderen Augen gegenüberstehen, wenn man in ihnen die Leistungen vieler Tausende freiheitlicher X verborgen weiß, als wenn man sie nur als das Spiel gesetzmäßig wirkender Kräfte ansieht«. – Und S. 266 daselbst spricht der gleiche Schriftsteller von diesem »X« – dem irrationalen »Rest« der Persönlichkeit – als dem »inneren Heiligtum« derselben, ganz ähnlich wie Treitschke mit einer gewissen Andacht von dem »Rätsel« der Persönlichkeit redet. Allen diesen Aeußerungen, denen als methodisch berechtigter Kern natürlich die Mahnung an die »ars ignorandi« innewohnt, liegt doch auch die seltsame Vorstellung zugrunde, daß die Dignität einer Wissenschaft oder aber ihres Objektes gerade in dem beruhe, was wir von ihm in concreto und generell nicht wissen können. Das menschliche Handeln würde also seine spezifische Bedeutung darin finden, daß es unerklärlich und daher unverständlich ist.


107 Ausdrücklich sei dabei bemerkt, daß die Frage: ob dabei für die praktische Methodik der Nationalökonomie etwas »herauskommt«, a limine abgelehnt wird. Es wird hier Erkenntnis gewisser logischer Beziehungen um ihrer selbst willen gesucht mit demselben Recht, mit welchem die wissenschaftliche Nationalökonomie nicht lediglich danach bewertet zu werden wünscht, ob für »die Praxis« durch ihre Arbeit »Rezepte« ermittelt werden.


108 Denn die Erkenntnistheorie der Geschichte konstatiert und analysiert die Bedeutung der Beziehung auf Werte für die historische Erkenntnis, aber sie begründet die Geltung der Werte ihrerseits nicht.


109 An dem individuellen Charakter der »Massenerscheinung«, sobald sie als Glied historischer Zusammenhänge erscheint, wird durch die Bemerkungen Simmels (Probleme der Geschichtsphilosophie, 2. Aufl., S. 63 unten) natürlich, zweifellos auch nach Simmels eigener Ansicht, nichts geändert. Daß das generell Gleiche an der beteiligten Vielheit von Individuen die »Massenerscheinung« konstituiert, hindert nicht, daß ihre historische Bedeutung in dem individuellen Inhalt, der individuellen Ursache, den individuellen Wirkungen dieses den Vielen Gemeinsamen (z.B. einer konkreten religiösen Vorstellung, einer konkreten wirtschaftlichen Interessenkonstellation) liegt. Nur wirkliche, d.h. konkrete Objekte sind in ihrer individuellen Gestaltung reale Ursachen, und diese sucht die Geschichte. Ueber die Beziehung der Kategorien »Realgrund« und »Erkenntnisgrund« zu den geschichtsmethodologischen Problemen siehe meine Auseinandersetzungen mit Eduard Meyer und einigen anderen (s. unten S. 234 ff.).


110 Z.B. auch in seiner »Völkerpsychologie«.


111 Logik (2. Aufl.) II 2, S. 267 ff.


112 Dies hat übrigens niemand klarer betont als Rickert, – es bildet geradezu das Grundthema seiner in dieser Hinsicht im wesentlichen auch gegen Dilthey sich richtenden Schrift: »Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung.« Es ist erstaunlich, daß manche »Soziologen« in einer Art von blindem Eifer dies immer wieder übersehen.


113 Dies würde von psychologistischen Entwickelungstheoretikern wohl in die Form etwa der These gekleidet werden: »wo Entwickelung« ist, da ist sie eine solche in der Richtung auf jene »Werte«. In Wahrheit ist der Sachverhalt der, daß wir nur dann eine Veränderung als »Kulturentwickelung« bezeichnen, wenn sie Beziehungen zu Werten aufweist, vom Standpunkt der an Werten orientierten Betrachtung aus »relevant« ist, d.h. entweder selbst »Wertwandel« ist oder dazu in kausalem Verhältnis steht.


114 S. darüber z.B. die Ausführungen Windelbands, Ueber Willensfreiheit, S. 161 ff.

115 Die Erscheinung, daß wirkliche oder angebliche Forschungsmethoden und -Ergebnisse empirischer Disziplinen zum Aufbau von »Weltanschauungen« benützt werden, ist ja nachgerade ein trivial gewordener Vorgang. In klassischer Reinheit ist er wieder an den einigermaßen »fürchterlichen« Ergebnissen zu beobachten, welche gewisse Aeußerungen Machs (S. 18 Anm. 12 der »Analyse der Empfindungen«) im letzten Kapitel von L. M. Hartmanns Buch über »Die geschichtliche Entwicklung« (1905) gezeitigt haben. Eine Auseinandersetzung mit der merkwürdigen Verirrung eines mit Recht angesehenen Gelehrten, welche diese Arbeit darstellt, erspare ich mir für einen andern Ort. Die Schrift ist – allerdings wider den Willen des Autors – methodologisch recht lehrreich. (Vgl. über sie die Rezension von F. Eulenburg, D. Lit.-Zeitung 1905, Nr. 24.)


116 Grundzüge der Psychologie. Bd. I, Leipzig 1900. Wir kommen alsbald eingehend auf ihn zurück (s. unten S. 71 ff.).


117 Daher sollte die Frage der »Vorausberechenbarkeit« überhaupt nicht in der Art in den Mittelpunkt der Methodologie gerückt werden, wie es bei Bernheim, Hist. Methode, 3. Aufl. S. 97 geschieht.


118 Die Ansichten L. M. Hartmanns a.a.O. zeigen freilich, daß die Natur jenes Begriffes doch immer wieder verkannt wird. Davon ein anderes Mal.


119 Für alles Nähere siehe hierzu Windelband, Ueber Willensfreiheit, S. 19 ff.


120 Daß dadurch für die Deutung nicht etwa die Beziehung auf »Regeln« logisch oder sachlich irrelevant wird, werden wir sehr bald nachdrücklich zu betonen haben. Hier soll nur hervorgehoben werden, daß die »Deutung« phänomenologisch nicht einfach unter die Kategorie der Subsumtion unter Regeln fällt. Daß ihr erkenntnistheoretisches Wesen ein komplexes ist, werden wir später sehen.


121 Wir werden noch sehen, daß man von »Nachbildung« nur in sehr uneigentlichem Sinn reden darf. Aber hier, wo es sich um den phänomenologischen Gegensatz gegen das »Undeutbare« handelt, ist der Ausdruck unmißverständlich.


122 Auch eine lobende Prädizierung eines Werkes ist eine Anmaßung, wo die Berechtigung zur Beurteilung fehlt. Bemerkt sei daher, daß hier nur von den die erkenntnistheoretischen Probleme der historischen Disziplinen betreffenden Partien die Rede ist, deren Wert ich, auch ohne Fachmann zu sein, schätzen zu können glaube. Die höchst interessanten Erörterungen über die Methodologie der Psychologie zu beurteilen, erlaube ich mir in keiner Weise; den Versuch, mir über ihren Wert oder Unwert bei den Fach-Psychologen Auskunft zu holen, werde ich allerdings auch kaum unternehmen, da diese Gelehrten sich zur Zeit nach Art jener beiden Löwen im Liede gegenseitig ohne alle für den Außenstehenden wahrnehmbaren Ueberbleibsel zu verschlingen pflegen. Bei einzelnen von Münsterbergs Ausführungen, namentlich bei der »erkenntnistheoretischen« Begründung der Introjektion des Psychischen in das Gehirn darf allerdings m. E. auch der Nichtpsychologe den Kopf schütteln. Hier möchte man nach einer Erörterung der »Grenzen der Erkenntnistheorie« rufen, denn bei dem erfreulichen Aufschwung des erkenntnistheoretischen Interesses entsteht doch auch die Gefahr, daß sachliche Probleme aus logischen Prinzipien heraus entschieden werden sollen, und das ergäbe eine Renaissance der Scholastik.


123 Nur auf diese wird eingegangen. Daher bleiben eine ganze Anzahl gerade solcher Thesen hier ganz außer Betracht, auf welche Münsterberg sicherlich entscheidende Bedeutung legt. Nicht nur die Art, wie das Psychische als Objekt der Experimentalpsychologie gewonnen wird, sondern auch der Begriff der »erlebten Wirklichkeit«, des »stellungnehmenden Subjektes« usw. bleiben hier unberührt. Von Münsterbergs Standpunkt aus gesehen, handelt es sich vielmehr wesentlich um einen Grenzstreit zwischen »sub jektivierenden« und »objektivierenden« Wissenschaften, der die Zugehörigkeit speziell der Geschichte betrifft. Eine kurze, aber sehr durchsichtige Analyse des Münsterbergschen Buches gibt Rickert, Deutsche Lit.-Zeitung 1901, Nr. 14.


124 Auf diesen Punkt kommen wir ebenfalls wiederholt zurück.


125 Andrerseits behandelt Münsterberg (S. 92) die Interpolation von Lücken der gehirnanatomischen Kenntnisse durch psychologische als möglich.


126 Zu diesen logischen Mängeln ist m. E. zu rechnen:

1. Die Verkennung der intensiven Unendlichkeit alles empirisch gegebenen Mannigfaltigen (S. 38), welche doch die (»negative«) Voraussetzung der in jeder empirischen Wissenschaft vollzogenen Stoff-Auslese ist. Diese Verkennung ist, wie Rickert bereits bemerkt hat, nur möglich infolge Festhaltung des vorkritischen Standpunktes der Betrachtung, der die Gesamtheit des jeweils Gegebenen mit demjenigen an und in ihm, worauf es für uns »ankommt« – also eben mit dem Produkt jener Auslese –, identifiziert. Dieser Standpunkt führt nun, in Verbindung mit einem anderen Irrtum,

2. zur Verkennung der Beziehungen zwischen »Gesetz« und »Individuum« (im logischen Sinne), insbesondere zu der Meinung, die individuelle »objektivierte« Wirklichkeit gehe in die Gesetze ein (S. 39). Der Irrtum tritt als solcher am handgreiflichsten zu tage, wenn Münsterberg (S. 114) meint: »Hätte Nero andere Vorstellungen erlebt, so müßte das ideale System der Psychologie geändert werden«, – weil eben, unter genügender Spezialisierung der »Bedingungen«, das Gesetz auch den individuellsten Einzelfall erreiche, ja ein Gesetz für den Einzelfall möglich sei. Hier ist nicht bemerkt, daß die Annahme eines anderen Vorstellungsablaufs bei Nero doch wohl in erster Linie die Annahme einer abweichenden Bedingungskonstellation hervorrufen muß, und diese »gegebenen Bedingungen« ihrerseits enthalten erstens kausal den ganzen individuellen Ablauf der antiken Geschichte nicht minder als die ganze Ahnenreihe Neros usw. usw. in sich, – also doch nicht nur Objekte irgendeiner noch so »vielseitigen« Psychologie, – und sind zweitens, – auch wenn wir sie eben als »gegeben« einfach hinnehmen, – überdies nur dann und nur soweit nicht unendlich an Zahl, wenn wir von vornherein nur gewisse allgemeine klinisch-psychologische Qualitäten der Vorstellungen Neros, also – mögen wir diese Qualitäten noch so »speziell« nehmen – ein durch Auslese gewonnenes Objekt, nicht aber den individuellen Gesamtablauf als das zu Erklärende allein in Betracht ziehen. Das »Historische« an dem Vorgange, d.h. das nur historisch zu erklärende Objekt, ist die aus einem Gesetz (und aus einer noch so großen Zahl von Gesetzen) doch nimmermehr zu deduzierende Tatsache der faktischen Gegebenheit gerade dieser Bedingungen in diesem Zusammenhang. [Ganz ebenso mißverständlich klingt es freilich, wenn Simmel (Probleme der Geschichtsphilosophie, 2. Aufl., S. 95) ausführt, bei absoluter Vollständigkeit unseres nomologischen Wissens würde »eine einzige historische Tatsache« zur »Vollendung des Wissens überhaupt« genügen. Diese »eine« Tatsache würde nämlich in diesem Falle immer noch einen unendlich großen Inhalt haben müssen. Weil, wie man gesagt hat, die Gesamtheit des Weltgeschehens anders verlaufen sein müßte, wenn wir ein Sandkorn auf eine andere Stelle verschoben denken als die, an der es sich faktisch befindet, ist es doch nicht etwa richtig, zu glauben, daß – um im Beispiel zu bleiben – bei absolut vollendetem nomologischem Wissen die Kenntnis der Lage dieses »Sandkorns« in einem Zeitdifferential zur Konstruktion der Lage aller »Sandkörner« genügen würde. Immer noch würde für diesen Zweck vielmehr die Lage aller Sandkörner (und aller anderen Objekte) in einem anderen Zeitdifferential gekannt werden müssen.]

3. Es ist – was ebenfalls schon Rickert (Deutsche Lit.-Ztg. 1901, Nr. 14) angedeutet hat – bei den mehrfachen Erörterungen darüber, daß die Geschichte es mit einem »Allgemeinen« zu tun hat, der seither von Rickert klar entwickelte grundverschiedene Sinn des Begriffs des »Allgemeinen« (in diesem Fall: universelle Bedeutung im Gegensatz zur generellen Geltung) im Unklaren geblieben, was mit dem Irrtum ad 1 zusammenhängt.

4. Trotz des großen Scharfsinns und der Eleganz, mit welchen die Scheidung und der Parallelismus der beiden Münsterbergschen Wissenschaftskategorien durchgeführt wird, ist das so höchst verschiedener logischer Bedeutungen fähige Subjekt-Objekt-Verhältnis nicht restlos aufgeklärt und [sind] die gegebenen Begriffsbestimmungen nicht unbedingt festgehalten (an zwei Stellen fließen sogar, ich nehme an: aus Versehen, »erkenntnistheoretisches« und »stellungnehmendes« Subjekt ineinander: S. 35 Mitte, S. 45 oben). Und damit kommt die für Münsterberg entscheidende Kategorie, die »Objektivierung«, in ein bedenkliches Schwanken, denn die entscheidende Frage ist eben, wo sie einsetzt, ob – worauf es hier ankommt – die Geschichte und die ihr verwandten Disziplinen als »objektivierend« zu gelten haben. Wenn Münsterberg sagt (S. 57): Das »erfahrende« Subjekt (dasjenige also, welches der objektivierten Welt gegenübersteht) sei das wirkliche Subjekt, wenn von dessen Aktualität »abstrahiert« werde, so ist das eben irreführend formuliert. Das »erfahrende« Subjekt existiert entweder in der Wirklichkeit als ein aktuelles Subjekt, dessen für den Wissenserfolg allein in Betracht kommende Aktualität auf die Realisierung von Werten empirischen Erkennens gerichtet ist, – oder aber es handelt sich um jenen theoretischen Begriff des nur gedachten »erkenntnistheoretischen Subjektes«, dessen Grenzfall das vielverlästerte »Bewußtsein überhaupt« bildet. Münsterberg trägt sodann in den Begriff des »Erfahrens« alsbald den des Zerlegens in »Elemente« hinein und darüber hinaus noch den des Zurückgehens auf die »letzten« Elemente, obwohl doch, wie er selbst gelegentlich erwähnt, z.B. die (nach ihm) zweifellos »objektivierende« Biologie davon weit entfernt ist. Es ist, wenigstens bei Münsterbergs Auffassung des Verhältnisses zwischen Gesetz und (logischer) Individualität ganz und gar nicht abzusehen, warum, was auf S. 336 unten für die Naturwissenschaften gesagt wird, nicht auch für die Geschichte, Nationalökonomie usw. gelten sollte: »angewandte Psychologie« würden sie damit in keiner Weise werden, da sie nun einmal nicht nur den psychischen Ablauf – dessen Erforschung von manchen Historikern (Ed. Meyer) geradezu als indifferent behandelt wird –, sondern auch und gerade die äußeren Bedingungen des Handelns in den Umkreis ihrer Betrachtungen ziehen. – Wenn die Geschichte »ein System von Absichten und Zwecken« ist, so bleibt das Entscheidende lediglich: ob es eine Art des »Verstehens« gibt, welche in dem Sinne »objektiv« ist, daß sie nicht im Sinne des Bewertens ihres Stoffes (also jener »Absichten« und »Zwecke«) »Stellung nimmt«, sondern lediglich »gültige« Urteile über den faktischen Ablauf und den Zusammenhang von »Tatsachen« erstrebt. Bei Münsterberg fehlt der entscheidende Begriff des theoretischen Beziehens auf Werte, den er vielmehr mit dem Begriff des »Wertens« ineinander schiebt. – Gegen die Theorie von der Scheidung objektivierender und nicht objektivierender empirischer Disziplinen (in Natorps Fassung) vgl. auch Husserl, Logische Untersuchungen II, S. 340 f.


127 Wir werden gleich sehen, inwiefern Münsterberg trotzdem für die Geschichte Recht behält. Allein für andere Disziplinen gilt der Gegensatz des »Noëtischen« zum »Gesetzlichen« keineswegs in gleicher Art wie dort. Die Münsterbergsche Schilderung der Aufgaben der »Sozialpsychologie« als »Psychophysik der Gesellschaft« ist ganz willkürlich. Für sozialpsychologische Untersuchungen ist der psychophysische Parallelismus ebenso gleichgültig wie etwa »energistische« Hypothesen. Wir werden ferner sehen, daß die »Deutung« weit davon entfernt ist, nur Interpretation individueller Vorgänge sein zu können. »Sozialpsychologische« Untersuchungen, soweit sie heute vorliegen, sind durchweg mit dem Mittel und Ziel der Deutung arbeitende, aber generalisierende, »nomothetische« Leistungen. Sie werden von den Ergebnissen experimentalpsychologischer, psychopathologischer und anderer naturwissenschaftlicher Disziplinen Notiz nehmen, wie sie dieselben verwerten können, selbst aber sich nicht im mindesten genötigt fühlen, als generelles Ziel ihrer Begriffsbildung das Zurückgehen auf »psychische Elemente« im strengen Sinn aufzustellen. Sie begnügen sich ebenfalls mit demjenigen Maß von »Bestimmtheit« ihrer Begriffe, welche ihrem Erkenntniszweck genügt.


128 Grundzüge der Psychologie, S. 193 unten.


129 Die so oft verwertete Gegenüberstellung der »wissenschaftlichen« Psychologie und der »Psychologie« des »Menschenkenners« ist in ihrer Bedeutung von Münsterberg – wie von so manchen anderen – m. E. unzutreffend aufgefaßt und mit Unrecht in den Dienst seines Dualismus gestellt worden. Wenn er (S. 181 unten) sagt: »Der Menschenkenner kennt den ganzen Menschen, oder er kennt ihn gar nicht«, so ist darauf zu antworten: er kennt das von ihm, was für bestimmte konkrete Zwecke relevant ist, und sonst nichts. Was an dem Menschen unter bestimmten konkret gegebenen Gesichtspunkten bedeutsam wird, das kann eine Gesetze suchende rein psychologische Theorie unmittelbar schon aus logischen Gründen nicht in sich enthalten. Faktisch aber hängt es von den jeweils in Betracht kommenden, natürlich nicht nur »Psychisches« enthaltenden Konstellationen des Lebens in ihrer unendlichen Variation ab, welche keine Theorie der Welt erschöpfend in ihre »Voraussetzungen« aufnehmen kann. – Wenn Münsterberg die Bedeutungslosigkeit psychologischer Kenntnisse für die Politik mit der Bedeutung physikalischer Kenntnisse für den Brückenbau vergleicht, um die Kluft zwischen der durch Objektivierung gewonnenen »Psyche« der Psychologie und dem »Subjekt« des praktischen Lebens zu verdeutlichen, so paßt dieser Vergleich nicht, weil – von dem Gegensatz abgesehen, den das Beharren der technischen Situation, welche umständlichen Rechnungen geduldig standhält, im Gegensatz zu der Flüchtigkeit der politischen Gelegenheit enthält – für den Brückentechniker bei den dem Schwerpunkt nach generell bestimmbaren Eigenschaften, welche die Brücke besitzen soll, generell bestimmbare Mittel eine absolut andere Rolle spielen als für den Politiker. Setzt man an Stelle des Brückenbauers etwa einen Billardvirtuosen, so tritt die Unzulänglichkeit der Kenntnis abstrakter Gesetze für die »Praxis« auch auf dem Gebiet des Physikalischen deutlich hervor. Irreführend ist auch Münsterbergs gegen die Bedeutung jeglicher »Objektivierung« des »nur« Psychischen für das praktische Leben gerichtete Formulierung (S. 185), daß die »psychischen Inhalte« eines Andern für uns »gar keine praktische Bedeutung« haben können, daß »unsere praktische Vorherbestimmung unseres Nachbars und seiner Handlungen« sich vielmehr nur »auf seinen Körper und dessen Bewegungen« bezögen. In unzähligen Fällen kann es uns: – der Mutter, dem Freunde, dem »Gentleman« überhaupt – nicht gleichgültig sein, was der andere »empfindet«, auch wenn davon keinerlei »Handlung« irgendeiner Art, am allerwenigsten eine »Körperbewegung« zu gewärtigen ist.


130 Grundzüge der Psychologie, S. 14 oben.


131 In der Psychological Review Monogr. Suppl. Vol. IV. Umgekehrt noch Grundzüge der Psychologie, S. 17. Münsterbergs Ansichten befinden sich im Fluß. Die Arbeit einer seiner Schülerinnen – Mary Whiton Calkins, Der doppelte Standpunkt in der Psychologie (Leipzig 1905) – zeigt schon in ihrem Titel, was aus der »subjektivierenden« Betrachtungsweise geworden ist.


132 Siehe dazu die wesentlich gegen Wechßlers Aufsatz in der Festgabe für Suchier, aber überhaupt gegen die ausschließlich psychophysische Behandlung dieser methodologischen crux philologorum gerichtete Schrift von K. Voßler, Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft (1904), auch die, freilich in der Identifikation von »Gesetzlichkeit« und »Kausalität« fehlerhaften Erwiderungen Wundts in seiner »Völkerpsychologie«, Bd. I.


133 a.a.O. S. 14, S. 17 unten. – Noch verwirrender ist es, wenn (S. 14 f.) der Satz »wer Zwecke setzt, ist frei« aufgestellt und dann das Zwecke-Setzen, also eine rationale Funktion, mit der »anschaulichen Mannigfaltigkeit« des »Erlebten« ineinandergeschoben wird. Ebenso wird S. 106 »Stellungnahme« und »Willensakt« identifiziert und die »erlebte« Wirklichkeit mit dem »Geltenden«.


134 Wir kommen auf das Thema der »teleologischen« Begriffsbildung in diesem Sinne eingehender zurück. – Aeußerst unklar ist die Bemerkung Bernheims, Hist. Methode, 3. Aufl. S. 118/119: »Die geschichtlichen Betätigungen der Menschen sind für unsere Erkenntnis nur teleologisch zu fassen, d.h. wesentlich als Willenshandlungen, die durch Zwecke bestimmt sind, und ihre begriffliche Erkenntnis unterscheidet sich dadurch wesentlich von der naturwissenschaftlichen, bei deren Begriffen die Zusammengehörigkeit und Einheit nicht von dem psychologischen Moment erreichter oder zu erreichender Zwecke bestimmt wird«. Der Versuch, den Unterschied näher zu präzisieren, wird gar nicht gemacht. Denn es kann doch wohl eine Begriffsbildung nicht als »teleologisch« qualifizieren, daß die von ihr zu erfassenden Vorgänge der »psychischen Kausalität« unterliegen, »welcher«, wie es in einem gleich darauf folgenden Satze heißt: »die Zwecke angehören«.


135 Mit Bezug auf die »teleologische Begriffsbildung« in diesem Sinne ist auch Konrad Schmidt (in seiner Besprechung des Adlerschen Buches im Archiv für Sozialwiss., Bd. XX, S. 397) insofern ein Irrtum unterlaufen, als er Rickert den »Teleologen« vom Gepräge Stammlers zuzählt und mich gegen ihn zitiert. – Allein selbstredend hat jene »teleologische Begriffsbildung« mit einem Ersatz der Kausalität als Kategorie der Erklärung durch irgendwelche Teleologie nichts zu tun.


136 Siehe über die prinzipielle logische Geschiedenheit der juristischen Gedankengebilde von denjenigen der rein empirisch-kausalen Disziplinen die anschaulichen Formulierungen von Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 23 ff.


137 Wenn man von den »handelspolitischen Interessen Deutschlands« redet, so ist der Begriff »Deutschland«, der hier verwendet wird, ganz offenbar ein anderer, als der juristische Begriff des »Deutschen Reichs«, welches, als Rechtspersönlichkeit, den Handelsvertrag abschließt. – Ob freilich nicht gerade in diesen Fällen die Verwendung der Kollektiva die Quelle arger Unklarheiten werden kann, ist eine Frage für sich. Ganz zu vermeiden sind sie nicht.


138 Grundzüge der Psychologie, S. 126.


139 Wir erörtern hier noch nicht, daß zwischen beiden Kategorien eine dritte liegt: die »Deutung« im Sinn einer nicht »kausalen«, und auch nicht wertenden, sondern einer die Wertung durch Analyse möglicher Wertbeziehungen eines Objektes (etwa des »Faust«) vorbereitenden »Interpretation«.


140 Grundzüge der Psychologie, S. 95, 96.


141 Münsterberg selbst sagt ja gelegentlich, daß wir auch das Tier als stellungnehmendes Subjekt »anerkennen«. Man fragt vergebens nach logischen Gründen, welche angesichts dessen die »subjektivierenden« Disziplinen auf den Menschen beschränken sollten.


142 Die Arbeiten von Schleiermacher und Boeckh über die »Hermeneutik« kommen hier nicht in Betracht, da sie nicht erkenntnistheoretische Ziele verfolgen. Die von den Psychologen (Ebbinghaus) scharf abgelehnten Erörterungen Diltheys in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie (1894) leiden unter dem Vorurteil, daß bestimmten formalen Kategorien unseres Erkennens auch eigene systematische Wissenschaften entsprechen müßten. (Dazu vgl. Rickert a.a.O. S. 188 Anm.) Eine spezielle Auseinandersetzung mit den Gedanken dieses Gelehrten unterbleibt im übrigen in diesem Zusammenhang besser, da alsdann für das Verständnis der Münsterbergschen ebenso wie der weiterhin zu besprechenden Gottlschen Ansichten auch Mach und Avenarius herangezogen werden müßten und wir ins Bodenlose gerieten. Zu manchen der folgenden Ausführungen sind jedoch Diltheys Aufsatz in der Festgabe für Sigwart (Zur Entstehung der Hermeneutik), seine »Beiträge zum Studium der Individualität« (Berliner Akademie 1896, XIII) und seine »Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften« (Berliner Akademie 1905, XIV) zu vergleichen; über Diltheys Stellung zur »Soziologie« vgl. O. Spann in der Zeitschr. f. Staatswissensch. 1903, S. 193 ff. – Der Vortrag von Elsenhans: »Die Aufgaben einer Psychologie der Deutung als Vorarbeit für die Geisteswissenschaften«, Gießen 1904, betrifft nur die psychologische, nicht aber die z. Z. wichtigere erkenntnistheoretische Seite des Problems. Auf jene kommen wir später kurz zurück.


143 In den hier entscheidenden erkenntnistheoretischen Punkten kommt Simmel jetzt (in manchen wichtigen Beziehungen im Gegensatz zu früher vertretenen Ansichten) im wesentlichen völlig mit dem Standpunkt Rickerts (a.a.O.) überein. Ich kann nicht finden, daß die Polemik S. 43 unten einen Punkt von Belang trifft: auch Simmel wird nicht verkennen können, daß nur die auch von ihm zugegebene Unendlichkeit und absolute Irrationalität jedes konkreten Mannigfaltigen die absolute Sinnlosigkeit des Gedankens einer »Abbildung« der Wirklichkeit durch irgendeine Art von Wissenschaft wirkling zwingend erkenntnistheoretisch erweist. Daß sie – als eine »negative« Instanz – nicht als historische Ursache oder überhaupt als Realgrund für die logische Konstitution unseres empirisch gegebenen Wissenschaftsbetriebes gelten kann, diese vielmehr aus der positiven Gestaltung unserer Erkenntniszwecke und Erkenntnismittel abzuleiten ist, würde anderseits Rickert nicht bestreiten wollen. – Durchaus zutreffend ist natürlich die Bemerkung (S. 121), daß die Bezeichnung der die historische Begriffsbildung formenden Quellen des historischen Interesses als »Werte« das Problem nur durch Verweisung auf einen Gattungsbegriff löst. Zweifellos ist die Aufgabe der psychologischen Analyse des historischen Interesses damit nur gestellt, nicht gelöst, und die Probleme der Wertinhalte bleiben bestehen. Allein für die Feststellung der logischen Grundlage der spezifisch historischen Begriffsbildung genügt eben jene Formulierung, die ja psychologische und metaphysische Probleme nicht lösen will, vollauf. – Von Simmels Formulierungen könnten m. E. überdies manche (S. 124, 126, 133 Anm. 1) unter logischen Gesichtspunkten Anlaß zu Bedenken geben. Nur ein Punkt, der Simmel mit Münsterberg gemeinsam ist, sei hier herausgehoben. Beide betonen gegenüber Rickerts Theorie von der Bedeutung der Wertbeziehung für die Erkenntnis des Individuellen, daß Wertgefühle keineswegs nur an die »Einzigartigkeit«, sondern auch an die Wiederholung als solche sich knüpfen können. Diese psychologische Betrachtung berührt aber jenes logische Problem schon deshalb nicht, weil Rickert für seine These gar nicht genötigt ist zu behaupten, daß nur das Einzigartige zu Werten in Beziehung stehe. Es genügt, daß – möge die Rolle der Werte außerhalb des Historischen welche immer sein – jedenfalls eine historische Erkenntnis individueller Zusammenhänge ohne Wertbeziehung nicht sinnvoll möglich ist.


144 Siehe über ihn die erste Abteilung dieses Aufsatzes (oben S. 4 Anm., S. 12 Anm. 1), ferner Eulenburg in der Deutschen Literaturzeitung 1903, Nr. 7. Seitdem ist Gottls auf dem Historikertag 1903 gehaltener Vortrag (Die Grenzen der Geschichte) im Druck erschienen, welcher (während Gottl zu seinen Grundansichten durchaus auf eigenen Wegen, nur etwa von Dilthey und Mach, daneben von Wundt, beeinflußt, gelangte) deutlich eine stärkere Beeinflussung durch Münsterberg zeigt. Uns interessiert in Gottls Ausführungen hier nur seine Interpretation der »Deutung«. Bemerkt sei nur nebenher, daß alles das, was von dem jetzt in Schwung befindlichen konfusen Gerede von der Bedeutung des »Telos« im Gegensatz zur Kausalität richtig oder auch nur diskussionsfähig ist, von Gottl bereits entwickelt war.


145 Gar nicht eingegangen wird an dieser Stelle auf Simmels in seinen verschiedenen Schriften verstreute Aeußerungen über den Gesellschaftsbegriff und die Aufgaben der Soziologie. Vgl. dazu O. Spann in der Zeitschr. f. Staatsw. 1905 (61) S. 311 ff.


146 Gottl verwendet beide termini gerade umgekehrt, – was gegenüber dem Sprachgebrauch des Lebens ebenso wie der Forschung (Dilthey, Münsterberg u.a.) m. E. ebenso unzweckmäßig ist wie seine Verwendung des Ausdrucks »Formeln« von Begriffen, die verständliches Handeln erfassen sollen (S. 80).


147 S. 28 a. a. O. Dilthey, Festgabe f. Sigwart (S. 109) schränkt den von der »Hermeneutik« zu behandelnden Vorgang des »Verstehens« auf die »Interpretation aus äußeren Zeichen« ein, was nicht einmal für das »Verständnis des Gesprochenen« (im Sinne Simmels) restlos zutrifft. Anderseits ist nach ihm (ebenda S. 187) die »Erhebung der Verständlichkeit des Singulären zur Allgemeingültigkeit« ein spezifisches Problem der Geisteswissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften – was zu weit geht.


148 Simmel exemplifiziert (S. 28) auf Aeußerungen, die durch »Voreingenommenheit, Aerger, Spottlust« usw. hervorgerufen seien. Allein das Entscheidende ist: ob auf diese Motive der Aeußerung aus irgendeinem Grund erkennend – wenn auch evtl. zu praktischen Zwecken – reflektiert wird. Dann erst tritt das, was wir hier »Deutung« nennen, in Funktion.


149 Daß gleichwohl noch andere Elemente in dieser Kategorie stecken können, wird uns später beschäftigen.


150 Eine in irgendeinem Sinne erschöpfende Auseinandersetzung mit Gottl kann hier nicht geliefert werden. Seine in hohem Maße geistvolle bisherige Hauptleistung: »Die Herrschaft des Wortes« ist infolge der gewählten Form platt zu Boden gefallen, obwohl ich mich bei nochmaligem Lesen wiederum überzeugt habe, wie viele vortreffliche Bemerkungen sie enthält. Ich sehe u.a., daß die Kritik, die ich an anderer Stelle an der Vorstellung von dem »systematischen« Charakter der Nationalökonomie übte, in den Ausführungen Gottls S. 147 u. 149 in nuce schon enthalten ist. Doch in unserem Zusammenhang ist zur »positiven« Kritik leider kein Raum, ich verspare sie mir für eine andere Gelegenheit. Hier seien vielmehr kurz die Punkte angedeutet, wo er mir logisch zu irren scheint:

1. Um die Kluft zwischen Naturerkenntnis und Erkenntnis des Handelns – so muß man den Gegensatz der Objekte bei ihm wohl formulieren – zu einem »ontologischen« zu deuten, wie er es tut, muß Gottl die bereits wissenschaftlich bearbeitete Welt der Naturwissenschaft (besonders deutlich »Herrschaft des Wortes«, S. 149 unten) dem logisch noch unbearbeiteten inneren »Erlebnis« gegenüberstellen. Denn die wirklich in der »erlebten« Wirklichkeit gegebene »äußere« Welt weist jenes »knatternde bloße Nach- und Nebeneinander« Gottls ganz und gar nicht auf. Gerade Mach, der ihn stark beeinflußt hat, steht nicht nur, wie bekannt, prinzipiell darin anders, sondern hat gelegentlich geradezu gemeint: wenn man von dem Erdbeben von Lissabon die volle anschauliche Kenntnis des in den Sinnen gegebenen Hergangs hätte und die potentiell den Sinnen zugänglichen, von der Wissenschaft zu ermittelnden subterrestrischen Vorgänge in gleicher Anschaulichkeit kenne, so sei es weder nötig noch prinzipiell möglich, mehr zu wissen. Auf dem Boden der »reinen«, stets individuellen Wirklichkeit ist es in der Tat so. Erst die generalisierende Bearbeitung schafft jenes abstrakte System von Gesetzen und von Objekten, an denen sich jene vollziehen, welches nichts Anschauliches mehr hat und daher dem anschaulich erfaßten Handeln natürlich logisch nicht gleichwertig ist. Der Glaube Gottls aber, daß wir – im Gegensatz zur »Natur« – das »erlebte« Geschehen auch so zu denken vermöchten, wie es »erlebt« werde, ist logisch unrichtig. Das trifft, in gewissem Sinne, nur bei der objektivierten und isoliert betrachteten streng teleologisch rationalen Erwägung zu, die eben selbst »Gedanke« ist. Im übrigen aber ist, auch auf dem Gebiet des Persönlichen, ein »Begriff« unter allen Umständen etwas anderes: ein, sei es durch generalisierende Abstraktion, sei es durch Isolierung und Synthese hergestelltes Gedankengebilde, als das »Erlebnis«, auf welches er sich bezieht. Nicht erst von den »zuständlichen Gebilden« – wie Gottl annimmt, sondern ganz ebenso von dem einzelnen »inneren« Vorgang gilt dies. Sein Irrtum hängt damit zusammen, daß

2. Gottls Vorstellungen über die Prinzipien der wissenschaftlichen Stoffauslese m. E. unklar sind. Er glaubt (S. 128, 131 a.a.O.), es gebe objektiv »dichtere« Zusammenhänge in der Wirklichkeit des Geschehens, welche als solche »erlebt« würden, so daß also die »Auffassung« des Stoffs diesem selbst (dem Erlebten: Mit- und Nach-Erlebten) entnommen werde. Tatsächlich handelt es sich aber doch überall um eine gedankliche Auslese des mit Bezug auf »Werte« Bedeutsamen, und danach entscheidet sich z.B. auch, was eine »Haupt- und Staatsaktion« und wer ein »ungekrönter König« ist.

3. Aehnlich zu beurteilen ist seine damit korrespondierende Vorstellung, daß das Objekt der »schildernden Wissenschaft« vom Handeln, die bei ihm das generalisierende Seitenstück zur historischen Erkenntnis desselben bildet, einfach mit der »Ungeschichte«, dem »Alltag«, ohne Stoffauslese zu identifizieren sei (S. 133 ff., 139 f., 171 ff.), und daß eine Sonderung bestimmter »Seiten« innerhalb dieses Inbegriffes kein logisches oder auch nur methodisches Prinzip, sondern allenfalls zu Lehrzwecken zulässig, im übrigen aber »Willkür« oder bloße »Bequemlichkeit« sei. Allein es ist nicht richtig, – und Gottl würde bei dem (aussichtslosen) Versuch einer genauen Verbuchung aller Alltagserlebnisse in allen ihren Bestandteilen auch nur eines einzigen seiner eigenen Tage sich davon leicht überzeugen –, daß in eine wissenschaftliche Behandlung, möge sie auch noch so umfassend gestaltet sein, schlechthin alles Tun, welcher Art immer, eingehe. Eine noch so weit ausgreifende Darstellung des »Kulturinhaltes« eines Zeitalters ist stets eine Beleuchtung seines »Erlebens« unter einer Mehrzahl qualitativ verschiedener »Gesichtspunkte«, welche ihrerseits an Werten orientiert sind, und als Objekte wissenschaftlicher Betrachtung werden auch diejenigen »Alltagserlebnisse«, welche überhaupt zu Gegenständen »kulturwissenschaftlicher« Betrachtung werden, in gedanklich gegliederte konkrete Zusammenhänge gefügt und dann unter den mannigfaltigsten, teilweise disparaten »Gesichtspunkten« Objekte »historischer« oder »nomothetischer« Begriffsbildung.

4. Der Kern der Irrtümer Gottls gruppiert sich m. E. um die, allem Psychologismus so naheliegende, Verwechselung des psychologischen Hergangs bei der Entstehung sachlicher Erkenntnis mit dem logischen Wesen der Begriffe, in denen sie geformt wird. Zugegeben einmal, daß wir in weitem Umfang zu unserer Erkenntnis der Zusammenhänge des »Handelns« auf psychologisch eigenartigem Wege gelangen, so wäre damit noch nicht das Geringste darüber ausgemacht, daß der logische Charakter der Begriffe, die man heuristisch sowohl wie als Mittel der Formulierung verwendet, prinzipiell von denen anderer Wissenschaften abweiche. »Elefant« und »Freund« könne man doch nicht gleichartig definieren, meint Gottl. Natürlich nicht, weil der eine ein Dingbegriff ist, der andere einen Relationsbegriff in sich schließt. »Elefant« und »kommunizierende Röhre« z.B. kann man aus diesem Grunde auch nicht in gleicher Art definieren. Dagegen ist die logische Form der Definition irgendeines spezifisch »sozialpsychologischen« von der irgendeines chemischen Relationsbegriffs nicht verschieden, so gänzlich disparat der Inhalt ist. Mit einigen Konsequenzen von Gottls dem Ausgangspunkt nach m. E. verfehlter Logik werden wir es im Text zu tun haben: Daß in der Welt des Handelns der Begriff vor dem Begriffenen da sei, ist eine ebenso schiefe Formulierung wie die Behauptung, daß die »gemeine Erfahrung«, der »Mutterwitz«, für die Nationalökonomie unbedingt ausreiche. Ersteres ist nicht nur in der »Welt des Handelns« so, letzteres kann nur besagen wollen: daß die verständliche Deutung der ökonomischen Erscheinungen Ziel der Nationalökonomie ist. Denn eine logische Bearbeitung der »gemeinen Erfahrung«, und zwar mit ganz entsprechenden Mitteln wie in der Naturwissenschaft, findet auch hier statt.


151 Eine systematische Kritik von Simmels Standpunkt ist hier nicht beabsichtigt. Auf manche seiner, wie immer, sachlich feinen und künstlerisch geformten Thesen komme ich demnächst wohl im Archiv für Sozialwissensch. zurück. Siehe zur logischen Kritik des zweiten Kapitels seines Buches (Gesetze der Geschichte) jetzt O. Spann in der Zeitschr. f. Staatsw. 1905, S. 302 ff.


152 Siehe die ungemein feinsinnige Kritik, welche Meinecke an dem Versuch, das Verhalten Friedrich Wilhelms IV. wesentlich aus rationalen Gesichtpunkten zu erklären, in der Histor. Zeitschr. 1902 geübt hat. (Ob sachlich im vorliegenden Fall sein Gegner – Rachfahl – mit seiner Interpretation vielleicht im Rechte ist, entzieht sich meinem Urteil und ist hier gleichgültig. Uns interessiert nur die Kritik des Erklärungsprinzips, nicht des in concreto ja möglicherweise dennoch richtigen sachlichen Ergebnisses).


153 Diesen Punkt – daß man »kein Cäsar zu sein braucht, um Cäsar zu verstehen« – hat Simmel (S. 57) speziell erörtert. Merkwürdigerweise gestaltet sich ihm die Frage nach der Möglichkeit des Hinauswachsens unseres deutenden Verstehens über den Umkreis des Selbsterlebten hinaus zu einem psychogenetischen, statt zu einem Problem der Genese der einzelnen konkreten Erkenntnis, und er glaubt zur Lösung des ersteren zu einer Art biologischer Umformung des platonischen Anamnesis-Gedankens greifen zu müssen, welche nur dann auch nur als Hypothese zulässig wäre, wenn jeder Mensch gerade einen Cäsar mit dessen individuellen »Erlebungen« unter seinen Vorfahren zählte, welch letztere dann in irgendeiner Weise vererbt worden wären. Allein wenn hier eine nur durch solche Mittel zu lösende Schwierigkeit vorliegt, dann weist ja jede Vermehrung der eigenen Erlebnisse, jeder eigen- oder einzigartige Zug jedes einzelnen individuellen inneren Vorganges bei jedem Individuum hinsichtlich seiner Möglichkeit ganz das gleiche Problem auf. Daß eine Konstellation der nach Qualität und Intensität äußerst variablen, durch unzählbare Komplikationen und Relationen untereinander und zu der stets individuell gearteten Wirksamkeitssphäre in ihrem Sinn in schlechthin unendlichen Kombinationen auftretenden psychischen »Elemente« – was immer wir unter diesem letzten Ausdruck verstehen – für uns etwas Einzigartiges und in dieser Einzigartigkeit von uns als »Genius« Gewertetes, dennoch aber keine schlechthin unbekannten »Elemente« in sich Enthaltendes darstellt, erscheint an sich keineswegs besonders schwer erklärlich, nicht schwerer jedenfalls, als daß jeder von uns sich stetig zum eigenen inneren »Erleben« von etwas qualitativ »Neuem« fähig zeigt. Die feine Beobachtung Simmels (a.a.O. S. 61), daß »scharf umrissene«, höchstgradig »individuelle« Persönlichkeiten tiefer und unzweideutiger »verstanden« zu werden pflegen – oder wir wenigstens im konkreten Fall glauben, es sei so – hängt mit der Struktur des historischen Erkennens zusammen: die »Einzigartigkeit« ist hier dasjenige, welches die Beziehung zum Wert herstellt und das spezifische Interesse am »Verstehen« des durch seine Eigenart Bedeutsamen auf sich zieht, welches mit jeder Annäherung zum »Durchschnitt« notwendig sinkt. Auch die Herstellung jener »Einheit« des historischen Individuums, auf welche Simmel zurückgreift, erfolgt ja durch Wertbeziehung, und es erklärt sich daraus auch dasjenige, was von den Ausführungen Simmels (S. 51 f.) über die Bedeutung einer ausgeprägten Individualität des Historikers für das Gelingen seiner »Deutungen« als unbedingt richtig zuzugestehen ist. (Wieviel dies ist, soll hier nicht untersucht werden. Der Begriff »ausgeprägte Individualität« ist ziemlich unbestimmt. Man würde doch wohl etwa an Ranke als Beispiel anknüpfen müssen und dann mit dieser Kategorie in arge Verlegenheit geraten.) Die Verankerung des ganzen Sinns einer Erkenntnis des Individuellen an Wertideen manifestiert sich eben auch in der »schöpferischen« Kraft, welche eigene starke Werturteile des Historikers bei der Entbindung historischer Erkenntnis entwickeln können. Wie die teleologische »Deutung« in den Dienst der biologischen Erkenntnis – und in der Zeit der ersten Entwickelung der modernen Naturforschung in den Dienst aller Naturerkenntnis – trat, obwohl doch ihre möglichste Eliminierung den Sinn des Naturerkennens ausmacht, so treten hier die Werturteile in den Dienst der Deutung. [Für die Spekulationen über den »Sinn« der Geschichte hat gerade Simmel (im letzten Kapitel) etwas ähnliches sehr fein ausgeführt.]


154 In recht bedenklicher Formulierung bei Bernheim, Histor. Methode, 3. Aufl. S. 170: »Analogie der Empfindungs-, Vorstellungs- und Willensweise der Menschen«, »Identität der Menschennatur«, »Identität der allgemeinen psychischen Prozesse«, der »Denkgesetze«, »immer gleiche seelische und geistige Anlagen« usw. seien die »Grundaxiome« jeder historischen Erkenntnis. Gemeint ist doch einfach: daß die Geschichte in ihrer Eigenart möglich ist, weil und soweit wir Menschen zu »verstehen« und ihr Handeln zu »deuten« vermögen. Inwieweit dies »Gleichheit« voraussetzt, wäre alsdann zu untersuchen. Andererseits ist es auch nicht zu billigen, wenn Bernheim (S. 104) »die qualitative Differenz der Individuen, diese Grundtatsache alles organischen Lebens« – die Unmöglichkeit historischer Gesetze begründen läßt. Denn jene Differenz gilt für die Gesamtheit aller, auch anorganischen, »Individuen«.


155 Denn auch die Psychopathologie verhält sich – z.B. auf dem Gebiet der Hysterie – nicht nur, aber doch auch: »deutend«. Auf das Verhältnis des »Einfühlens« zur »Erfahrung« auf diesem Gebiet werden wir weiterhin noch exemplifizieren.


156 Auch Münsterberg (S. 55) (wie sehr viele andere) ist dieser Meinung. Die »amechanische Bedeutung« des fremden »Subjektsaktes« sei »unmittelbar gegeben«. Das kann doch nur heißen: verstanden – oder mißverstanden. Oder endlich: unverstanden. In jedem der beiden ersten Fälle ist sie formal »evident«, aber ob sie empirisch »gültig« ist, ist eben Frage der »Erfahrung«. – Cf. gegen die spezifische »Gewißheit« und den höheren »Wirklichkeitsgehalt« der inneren Erfahrung auch Husserl, Logische Untersuchungen, Beilage zu Bd. II, S. 703.


157 Auch Münsterberg führt (S. 31) aus, daß die »erlebte Einheit« auch nicht einmal ein »Zusammenhang beschreibbarer Vorgänge« sei. Sofern sie »erlebt« wird, gewiß nicht, sofern sie aber »gedacht« wird, zweifelsohne. Wenn der Umstand, daß die »Beschaffenheit« von etwas »bestimmbar« ist, genügt, um es, schon im vorwissenschaftlichen Stadium, zum »Objekt« zu machen, und gegen eine solche Terminologie ist von dem hier festgehaltenen Standpunkte an sich nichts zu erinnern –, dann hat es die Geschichte als Wissenschaft eben mit »Objekten« zu tun. Es ist die Eigenart der dichterischen »Wiedergabe« der Wirklichkeit – obwohl auch sie natürlich nicht ein »Abbild«, sondern eine geistige Formung ihrer enthält –, sie so zu behandeln, daß »ein jeder fühlt, was er im Herzen trägt«. »Geschichte« sind aber auch einfache anschauliche Niederschriften von »Erlebnissen«, obwohl auch sie das Erlebnis bereits gedanklich formen, noch ebensowenig, wie etwa eine Zolasche Schilderung, und sei sie die getreueste Wiedergabe eines wirklich genau so »erlebten« Vorganges an der Börse oder in einem Warenhaus, schon eine wissenschaftliche Erkenntnis bedeutet. Wer darin, daß die Worte des Historikers, wie Münsterberg sagt, »lachen und weinen«, das logische Wesen der Geschichte findet, könnte es ebensogut in den etwa beigegebenen Illustrationen oder schließlich in dem nach moderner Manier unter Umständen vorhandenen stimmungserregenden »Buchschmuck« suchen. – Wir werden weiterhin noch sehen, daß jedenfalls die so vielbetonte »Unmittelbarkeit« des »Verstehens« in die Lehre von der psychologischen Genesis, aber nicht in diejenige vom logischen Sinn des historischen Urteils gehört. Die konfusen Vorstellungen, daß die Geschichte »keine« oder doch »eigentlich keine« Wissenschaft sei, fußen meist auf falschen Vorstellungen gerade hierüber.


158 Grundlegung der Aesthetik. Hamburg 1903 [2. unv. Aufl. 1914]. Es werden hier nur die wenigen Punkte herausgegriffen, die für unsere Betrachtungen wesentlich sind.


159 Lipps hebt deshalb hervor (S. 126 f.), daß die Bezeichnung als »innere Nachahmung« nur eine provisorische sei, denn in Wahrheit handele es sich nicht um Nachahmung, sondern um eigenes Erleben.


160 Auf diese Scheidung legt L. (S. 129) großen Nachdruck. Es gibt nach ihm drei psychologisch zu scheidende Arten des realen Tuns: 1. »phantastisches« inneres Tun, – 2. »intellektuelles« (nachdenkendes und urteilendes) Tun, – 3. jenes Tun, welches sich erst »befriedigt im realen Dasein, d.h. in Empfindungen und dem Bewußtsein, daß etwas wirklich sei«, also doch wohl reales äußeres Tun. Der psychologische Wert dieser Scheidung kann hier nicht kritisiert werden.


161 Ich zitiere zur Bequemlichkeit nach der deutschen Uebersetzung seiner Aesthetik von K. Federn. Leipzig 1905.


162 Es ist hier absichtlich B. Croces inzwischen erschienene Logica come scienza del concetto puro (Acc. Pont., Napoli 1905) beiseite gelassen, da es nicht auf eine Auseinandersetzung mit Croce, sondern auf ein typisches Beispiel weitverbreiteter Meinungen abgesehen ist, die hier besonders präzis formuliert sind. Auf jene Schrift hoffe ich anderwärts zurückzukommen.


163 Dem stehen natürlich die zunächst auf »Urteilsaussagen« bezüglichen Bemerkungen von Husserl, Log. Untersuchungen II, S. 607 (vgl. auch S. 333) nicht entgegen, da eben auch der Dingbegriff nicht nur auf der einen Seite »weniger«, sondern auch auf der anderen »mehr« enthält als bloße sinnliche Anschauung oder das bloße »Erlebnis«. Darüber siehe das hier im Text folgende.


164 Husserl a.a.O. II, S. 607, 637 ff.


165 In der Verkennung des künstlichen Charakters des Historischen liegen auch die verschiedenen Irrtümer Münsterbergs. Daß z.B. die spezifische Interessenrichtung, also Wertung, die Formung des Historischen bedingt, nimmt auch er an (S. 132, 119), aber auf die Frage, welche »Wollungen« denn in die Geschichte eingehen, antwortet er durch Hinweis auf die »Tragweite«, wonach die »zufälligen (!) Willenszuckungen, die von Gegenbewegungen sofort aufgehoben« werden (S. 127), nicht hineingehören. Es waltet die unklare Vorstellung ob, die auch Gottl beherrscht, als ob der »erlebte Stoff« von selbst aus sich die historischen Gebilde gebäre.


166 Vgl. auch Husserl a.a.O. II, S. 333, 607.


167 Dies gilt z.B. auch auf solchen Gebieten, wie der psychopathologischen Forschung. Die »einfühlende« »Psychoanalyse« einer kranken Psyche bleibt nicht nur inkommunikables Privateigentum des dafür spezifisch begabten Forschers, sondern überdies bleiben auch ihre Ergebnisse gänzlich undemonstrabel und deshalb von absolut problematischer »Geltung«, solange nicht die Verknüpfung des einfühlend nacherlebten seelischen Zusammenhangs mit den aus der allgemeinen psychiatrischen »Erfahrung« gewonnenen Begriffen gelingt. Sie sind »Intuitionen« des dafür begabten Forschers »über« das Objekt, aber inwieweit sie objektiv gelten, bleibt prinzipiell unkontrollierbar und daher ihr wissenschaftlicher Wert durchaus unsicher. Siehe darüber W. Hellpach, Zur Wissenschaftslehre der Psychopathologie. Wundtsche Studien, 1906.


168 Darüber s. meine Ausführungen im Archiv für Sozialwiss., Januarheft 1906 (s. unten S. 271 ff.).


169 Die von Gottl behauptete Verschiedenheit: daß die Erschließung des Historischen nicht über sich hinaus auf die »Erfahrung« weisen könnte, soll ihren Grund darin haben, daß die »logischen Denkgesetze« sich in der gleichen Lage befinden, und daß auf dem Gebiete des Geschichtlichen »die Logik gleichsam im Geschehen selbst stecke«. Daher seien jene »Denkgesetze« für das historische Erkennen die »letzte Instanz«, sie bestimmen es »zwingend«, dergestalt, daß eine gültige historische Erkenntnis stets eine »Annäherung an das absolut Gewisse« bedeute, im Gegensatz zu der von Gottl ihr als »Metahistorik« entgegengesetzten geologischen und biogenetischen Erkenntnis, welche auch bei idealster Erreichung ihrer Aufgabe dennoch, erkenntnistheoretisch betrachtet, lediglich eine durch »Interpolation« von Geschehen gewonnene zeitliche Anordnung räumlicher »Erscheinungen« darstelle und daher nie über die durch Analogieschluß gewonnene Aufstellung: daß die in der Erfahrung gegebenen Dinge so liegen, als ob ein kosmisches oder biogenetisches Geschehen bestimmter Art stattgefunden hätte, hinausgelangen könne. Allein die Erfahrung zeigt, und jeder Historiker wird bestätigen müssen, daß wir bei der kausalen »Deutung« von »Persönlichkeiten«, »Handlungen« und »geistigen Kulturentwickelungen« tagaus tagein uns mit dem Ergebnis bescheiden müssen, daß die unbezweifelt überlieferten »Tatsachen« so liegen, »als ob« der gedeutete Zusammenhang bestanden hätte, so daß man daraus sogar auf die spezifische »Unsicherheit« und – fälschlicherweise – aus dieser wieder auf eine spezifische »Subjektivität« nicht nur der erreichbaren, sondern auch der überhaupt zu erstrebenden historischen Erkenntnis geschlossen hat. Speziell Simmel legt das entscheidende Gewicht auf den hypothetischen Charakter der Deutung und belegt ihn mit anschaulichen Beispielen (S. 9 ff. a.a.O.). Ihm gegenüber muß nun aber wieder daran festgehalten werden, daß der Umstand, daß wir erst durch den faktischen Ausschlag des Entschlusses nach einer bestimmten Seite hin darüber belehrt werden, welche »psychische Disposition« vorhanden gewesen ist, keine Eigentümlichkeit der »psychischen« Kausalerklärung bildet. Unzählige Male ist es – wie wir sahen – bei »Natur«vorgängen genau so, ja, wo es auf die qualitativ-individuelle Seite konkreter »Naturereignisse« ankommt, belehrt uns im allgemeinen nur der Erfolg über die vorhanden gewesene Konstellation. Die Kausalerklärung läuft – was auch gegen Ed. Meyer zu betonen ist – bei individuell »aufgefaßten« Ereignissen regelmäßig rückwärts, von der Wirkung zur Ursache, und gelangt, wie wir früher selbst für rein quantitative Beziehungen zeigten, ganz normalerweise nur zu einem Urteil, welches die »Vereinbarkeit« des Hergangs mit unserem Erfahrungswissen besagt und nur für gewisse abstrahierte Einzelbestandteile derselben die »Notwendigkeit« auch in concreto durch Bezugnahme auf »Gesetze« zu belegen vermag.


170 Dieser Ausdruck wird hier statt »innere Anschaulichkeit der Bewußtseinsvorgänge« gebraucht, um die Vieldeutigkeit des Ausdrucks »anschaulich« zu vermeiden, welche sich ja auch auf das logisch unbearbeitete »Erlebnis« bezieht. Ich weiß sehr wohl, daß der Ausdruck sonst von den Logikern nicht in diesem Sinn, sondern im Sinn der Einsicht in die Gründe eines Urteils gebraucht wird.


171 Ueber den Sinn des Begriffes des »objektiv Möglichen« im Gebiet speziell des Historischen siehe meine Bemerkungen im Archiv für Sozialwiss., Januarheft 1906 (durchaus im Anschluß an die bekannte Theorie von v. Kries).

172 Der »pseudosphärische Raum« ist logisch durchaus widerspruchslos und völlig »evident« konstruierbar: nach Ansicht mancher Mathematiker, bekanntlich auch von Helmholtz, der dadurch Kant widerlegt glaubte, besäße er sogar kategoriale Anschaulichkeit, – seine zweifellose empirische »Nichtgeltung« aber steht jedenfalls mit der ersten Auffassung nicht im Widerspruch.


173 Es sollte eigentlich nicht nötig sein, besonders zu betonen, daß darunter in keinem Sinn irgendein »objektiv« auf die »Verwirklichung« eines »Absoluten« als empirischer Tatsache »hinstrebender« Weltprozeß oder überhaupt irgendetwas Metaphysisches gemeint ist, wie die Ausführungen Rickerts a.a.O., letztes Kapitel, trotz aller Unzweideutigkeit gelegentlich aufgefaßt worden sind.


174 Alles Erforderliche enthält auch hier schon der Rickertsche Begriff des »historischen Zentrums«.


175 Anschaulich hier natürlich im Sinn von kategorial-anschaulich einerseits, »innerlich« verständlich anderseits.


176 Ueber das Hindernis, welches der »evidente« Satz: »cessante causa cessat effectus« der Gewinnung des Energiegesetzes so lange bereitete, bis die »Denknotwendigkeit« des Satzes: »nil fit ex nihilo, nil fit ad nihilum« die Einschaltung des Begriffes der »potenziellen Energie« veranlaßte und wie nun, ungeachtet der »Unanschaulichkeit« des letzteren, das »Energiegesetz« seinerseits alsbald den Weg zur »Denknotwendigkeit« einzuschlagen begann, – darüber ist Wundts Jugendschrift über »Die physikalischen Axiome« noch heute sehr lesenswert.


177 Es ist nicht möglich, an dieser Stelle die von Gottl (in der »Herrschaft des Worts«) vorgeschlagenen Grundkategorien ökonomischen Denkens auf ihre anschauliche Evidenz einerseits, ihre »Denknotwendigkeit« und ihre logische Struktur andrerseits zu untersuchen. Nur beispielsweise sei gesagt: Als »Grundverhältnis« Nr. 1: »Not« gilt (S. 82 f.) ihm der Umstand, »daß sich nie ein Streben erfüllen läßt, ohne dem Erfolge anderer Streben in irgendeiner Weise Abbruch zu tun«, 2. das Grundverhältnis der »Macht« wurzelt darin, daß »es uns allezeit freisteht, durch vereintes Streben Erfolge zu erreichen, die dem einzelnen Streben versagt« sind. Zunächst fehlt nun diesen Tatbeständen die Ausnahmslosigkeit, welche für »Grundverhältnisse« des »Alltagslebens« schlechthin – die also durchaus alles, nicht etwa nur das daran für bestimmte Wissenschaften Wesentliche, umspannen sollen – zu verlangen wäre. Es ist weder wahr, daß die Kollision und also die Notwendigkeit der Wahl zwischen mehreren Zwecken ein unbedingt gültiger Tatbestand ist, noch, daß für alle denkbaren Zwecke die Vereinigung mehrerer ein geeignetes Mittel ist, die Chancen der Erreichung zu steigern. Nun betont zwar angesichts der Möglichkeit solcher Einwände Gottl, daß das aus jenem »Grundverhältnis« Nr. 1 (»Not«) hervorgehende »Werten« nur dahin verstanden werden solle, daß von mehreren kollidierenden Möglichkeiten jeweils nur eine faktisch Wirklichkeit wird, nicht aber als ein bewußtes Wählen zwischen »Zwecken«. Allein, so gefaßt, ist dieser »Tatbestand« in Wahrheit bereits ein unter Verwendung der Kategorie der »Möglichkeit« hergestelltes naturalistisches Gedankengebilde: den – nach Gottls Voraussetzung nicht seitens des »Handelnden«, sondern nur seitens der denkenden Analyse des »Handelns« vorgestellten – mehreren »Möglichkeiten« des Ablaufes des Handelns steht die »Tatsache« gegenüber, daß eben nur ein konkret bestimmter Ablauf faktisch erfolgt. Genau das gleiche gilt aber für jedes »Naturgeschehen« dann, wenn wir dasselbe an der Hand der Kategorie der »Möglichkeit« analysieren. Wann dies der Fall ist, ist hier nicht zu erörtern, – daß es geschieht, lehrt – unter anderem – jede Theorie der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Und was die »Formel« für »Haushalten« anlangt (S. 209 a.a.O.: Ausgleich von Dauerstreben im Handeln derart, daß dadurch für die Andauer dieses Handelns eine Gewähr gegeben ist), so enthält dieselbe offenbar gar nichts, was nicht schon in einem Begriff wie »Anpassung« steckte. Denn auf ihren Gehalt an Urteilen analysiert, besagt die Formel eben nur: daß es wiederkehrendes (d.h. in bestimmten, als erheblich allein in Betracht gezogenen Hinsichten gleiches) Handeln gibt, dessen Wiederkehr auf seiner »Angepaßtheit« an zwingende Situationen beruht. Eine kausale »Erklärung« enthält der »Begriff« (denn ein solcher, und zwar ein abstrakter, liegt vor) nicht, soll sie auch wohl nicht enthalten, wir »durchschauen« aber mit seiner Hilfe auch nichts, wie wir es doch nach Gottls Theorie sollten. Er ist darin den entsprechenden biologischen Begriffen durchaus gleichartig und gleichwertig. – Im übrigen liegt hier durchaus die Absicht fern, Gottls Fortbildung der rationalen Konstruktion der österreichischen Schule als wertlos hinzustellen. Davon ist gar keine Rede: es ist ein bedeutender Fortschritt, daß hier gänzlich klar von einer in der Wirklichkeit generell gegebenen (»objektiven«) Situation: – Begrenztheit des Könnens im Verhältnis zum Wollen – als letzter Grundlage jener Lehrsätze ausgegangen wird, statt von angeblich »psychologischen« Abstraktionen, und daß damit die »abstrakte« Theorie von der immer wieder gehörten absolut schiefen – aber freilich durch manche Aeußerungen von Bonar, John und Menger selbst mitverschuldeten – Charakterisierung als einer »psychologischen« Begründung der Werttheorie befreit wird. Mit irgendwelcher »Psychologie«, sei sie »Individual«-oder »Sozial«-Psychologie, hat die »Grenznutzlehre« auch nicht das allergeringste zu schaffen.


178 So Elsenhans in dem früher zitierten Aufsatz, S. 23. Die Totalitätsgefühle, mit denen wir die Vorstellung einer bestimmten »historischen Epoche« begleiten, könnten – meint der Verf. – »trotz aller scheinbaren Unbestimmtheit einen sicheren Kanon des Erkennens abgeben«, insbesondere werde »mit instinktiver Sicherheit entschieden«, ob ein Vorstellungskomplex in dieses Gefühlsganze »hineinpasse«, – nach Analogie des »Sprachgefühls«.


179 Also darin dem Wesen nach durchaus gleichartig dem in keiner Weise bewußt artikulierten »Gefühl«, nach welchem etwa ein Schiffskapitän im Moment der Kollisionsgefahr, wo von dem in Bruchteilen einer Sekunde zu fassenden Entschluß alles abhängt, handelt. Kondensierte »Erfahrung« ist hier wie dort das Ausschlaggebende, die Artikulierbarkeit hier wie dort im Prinzip gleich möglich.


180 Daran ändert natürlich auch die experimentalpsychologische »Meßbarkeit« bestimmter Aeußerungen psychischer Vorgänge nichts. Denn es ist zwar keineswegs richtig, daß das »Psychische« als solches überhaupt inkommunikabel sei (Münsterberg), – das ist vielmehr eine Eigenart derjenigen »Erlebungen«, welche wir, eben deshalb, als »mystische« bezeichnen, – aber es ist, wie alles Qualitative, nur in relativer Eindeutigkeit kommunikabel, und die Messung erfaßt hier, wie in der Statistik die Zählung, nur das zu einer bestimmten Art von äußerem Ausdruck gelangende Psychische oder vielmehr: nur diese Art seiner Aeußerung. Die psychometrische Messung bedeutet nicht Herstellung der Kommunikabilität überhaupt (Münsterberg), sondern Steigerung ihrer Bestimmtheit durch Quantifikation jeweils einer Aeußerungsform eines »psychisch bedingten« Vorgangs. Aber es stände übel um die Wissenschaft, wenn deshalb eine Klassifikation und eine, je nach dem konkreten Forschungszweck, ausreichende relative Bestimmtheit der begrifflichen Formung »psychischen« Stoffes nicht möglich wäre. Tatsächlich wird sie von allen nicht quantifizierenden Wissenschaften konstant vorgenommen und verwertet. Man hat oft, und richtig verstanden, mit Recht, es als die ungeheuere Bedeutung des Geldes bezeichnet, daß es das Ergebnis subjektiver »Wertungen« in materieller Form zum Ausdruck zu bringen gestatte, sie »meßbar« werden lasse. Zu vergessen ist dabei aber nicht, daß der »Preis« absolut keine dem psychometrischen Experiment parallele Erscheinung, vor allem kein Maßstab einer »sozialpsychischen« Wertung, eines sozialen »Gebrauchs wertes« ist, sondern ein unter sehr konkreten, historisch eigenartigen Bedingungen entstehendes Kompromißprodukt kämpfender Interessen. Aber er teilt allerdings mit dem psychometrischen Experiment den Umstand, daß eben nur die, nach Maßgabe der gegebenen sozialen Konstitution, (als »Kaufkraft« usw.) zu einer bestimmten Art von »Aeußerung« gelangenden Strebungen »meßbar« werden.


181 Wer die Eigenart solcher Provokationen von Gefühlsdeutungen im Gegensatz zu begrifflich artikulierter und deshalb empirischer Analyse sich an einem Beispiel vergegenwärtigen will, vergleiche in Carl Neumanns »Rembrandt« die Deutung der »Nachtwache« mit derjenigen von »Manoahs Opfer«, – beides gleich ungewöhnlich schöne Leistungen auf dem Gebiet der Interpretation von Kunstwerken, aber nur die erste, nicht die zweite, durchweg empirischen Charakters.


182 Archiv für Sozialwiss., Januarheft 1906 (s. unten S. 245 ff.). Im übrigen ist auch hier durchaus auf die Ausführungen Rickerts zu verweisen.


183 In dieser Hinsicht ist B. Croce vollkommen beizutreten.


184 Es ist der psychologische Einschlag in den antipsychologistischen Ausführungen Croces, daß er die Existenz von »Werturteilen« in diesem Sinne leugnet, obwohl seine eigene Konstruktion mit ihnen steht und fällt.


185 Simmels Formulierungen (S. 52, 54, 56) sind auch hier psychologisch-deskriptiv und deshalb trotz ihrer ungemeinen Freiheit logisch m. E. nicht durchweg einwandfrei. Richtig ist 1. daß starke »Subjektivität« des Historikers als »Persönlichkeit« der kausalen »Deutung« historischen Handelns und historischer Individualitäten, oft gerade ihm nicht konformer, ungemein zustatten kommen kann, – 2. daß unser historisches Verständnis »scharf umrissener«, hochgradig »subjektiver« Persönlichkeiten nicht selten besonders »evident« ist; – beide Erscheinungen hängen mit der Rolle zusammen, welche die Beziehung auf Werte in der erkennenden Formung des Individuellen spielt. Die intensiven »Wertungen« der »reichen« und »eigenartigen« Persönlichkeit des Historikers sind ferner heuristisches Mittel ersten Ranges für die Aufdeckung nicht an der Oberfläche liegender Wertbeziehungen historischer Vorgänge und Persönlichkeiten, – aber eben diese Fähigkeit des Historikers zur geistig klar entwickelten Wertung und die dadurch vermittelte zur Erkenntnis von Wertbeziehungen kommen in Betracht, nicht irgendein Irrationales seiner Individualität. Psychologisch beginnt das »Verstehen« als ungeschiedene Einheit von Wertung und kausaler Deutung, die logische Bearbeitung aber setzt an Stelle der Wertung die bloß theoretische »Beziehung« auf Werte bei Formung der »historischen Individuen«. – Es ist auch bedenklich, wenn Simmel (S. 55 unten, 56) meint, an den Stoff sei der Historiker gebunden, in der Formung zum Ganzen des historischen Verlaufs sei er »frei«. Die Sache liegt m. E. umgekehrt: in der Auswahl der leitenden Werte, die ihrerseits die Auslese und Formung des zu erklärenden »historischen Individuums« (auch hier natürlich, wie immer, in dem unpersönlichen rein logischen Sinn des Wortes) bestimmen, ist der Historiker »frei«. Auf seinem weiteren Wege ist er aber an die Prinzipien kausaler Zurechnung schlechthin gebunden und »frei« in gewissem Sinn nur in der Ausgestaltung des logisch »Zufälligen«: d.h. der Gestaltung des rein ästhetischen »Veranschaulichungsmaterials«.


186 Auch in den Fällen, wo eine »teleologische« Wertung an der Hand der Kategorien »Zweck« und »Mittel« angenommen wird – das übliche Schulbeispiel der Historiker ist die Kriegsgeschichte –, ist der logische Sachverhalt genau derselbe. Die auf Grund strategischer »Kunstlehren« gewonnene Erkenntnis, daß eine bestimmte Maßnahme Moltkes ein »Fehler« war, d.h. die geeigneten »Mittel« zu dem feststehenden »Zwecke« verfehlte, hat für eine geschichtliche Darstellung lediglich den Sinn, uns zur Erkenntnis der kausalen Bedeutung zu verhelfen, welche jener (teleologisch »fehlerhafte«) Entschluß auf den Verlauf der geschichtlich relevanten Ereignisse gehabt hat. Den Lehren der Strategie entnehmen wir lediglich die Erkenntnis der »objektiven« Möglichkeiten, welche für den Fall der verschiedenen denkbaren Entschlüsse als realisierbar zu denken sind. (Die Darstellung Bernheims ist auch in diesem Punkt logisch recht unklar.)


187 Jacob Burckhardt ist für beide Seiten dieses Vorganges ein hervorragendes Beispiel.


188 Darüber s. Rickert a.a.O. Gleichwohl hat natürlich seine Bezeichnung der »Gesetze« suchenden Arbeit als »naturwissenschaftlicher« Begriffsbildung in der Polemik der Gegner die stete Vermischung des »ressortmäßigen« mit dem logischen Begriff der »Naturwissenschaften« zur Folge gehabt.


189 Ueber das Verhältnis von »Telos« und »Causa« in der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis herrscht mehrfach, namentlich seit Stammlers geistvollen, aber manche Trugschlüsse enthaltenden Arbeiten eine erstaunliche Verwirrung. Den Gipfel der Konfusion in dieser Hinsicht möchte zur Zeit Dr. Biermann in seinen Aufsätzen: »W. Wundt und die Logik der Sozialwissenschaften«, Conrads Jahrb., Januar 1903, »Natur und Gesellschaft«, ebda. Juli 1903 und vollends: »Sozialwissenschaft, Geschichte und Naturwissenschaft« 1904, XXVIII, S. 552 f. erklommen haben. Dagegen, daß er die »gegensätzliche Formulierung von Theorie und Geschichte« seinerseits vertrete, »verwahrt« er sich »ausdrücklich«, da sie ihm »unklar und prinzipiell unberechtigt« erscheint. Die Unklarheit ist in der Tat vorhanden, aber wohl nur insofern, als jene Beziehungen eben leider dem Verfasser völlig unklar geblieben sind, da er sich andernfalls nicht auf Forscher wie Windelband und Rickert berufen könnte, welche über diese ihnen zugemutete Eideshelferschaft nicht wenig erstaunen würden. – Indessen, wenn es bei dieser Unklarheit sein Bewenden hätte, so ginge die Sache noch an: – auch sehr viel erheblichere Nationalökonomen äußern über die komplizierten Probleme, welche sich an jenen Gegensatz anschließen, gelegentlich handgreiflich irrtümliche Ansichten. Schlimmer ist, daß das allzu eifrige »Telos« des Verf. auch den allerlementarsten Gegensatz: den zwischen »Sein« und »Sollen«, verschluckt. Daß dann »Willensfreiheit«, »Gesamtkausalität«, »Gesetzlichkeit der Entwickelung« im bunten Durcheinander in die angeblich allein entscheidende Antithese: »Telos« und »Causa« hineinverflochten [werden] und schließlich die Meinung vertreten wird, man müsse ein bestimmtes »Forschungsprinzip« vertreten, um den »Individualismus« überwinden zu können, – während ja gerade die Verquickung der Frage nach der »Methode« und derjenigen nach dem »Programm« das (heute) Veraltete an den früheren Kontroversen ist, – dies alles läßt den Wunsch entstehen, es möge die heutige Mode, daß jede Anfängerarbeit mit erkenntnistheoretischen Untersuchungen geziert werden muß, recht bald wieder aussterben. Man kann die ziemlich einfachen und keineswegs neuen Gedanken, welche der Verf. in diesen und anderen Arbeiten über die Beziehungen zwischen »Staat und Wirtschaft« vorträgt, wirklich auch ohne solche darlegen. Es ist zu hoffen, daß uns der sicherlich vom ehrlichsten Eifer für seine Ideale beseelte Verf. künftig mit Arbeiten beschenken möge, bei deren Lektüre man nicht fortwährend über dilettantische logische Schnitzer stolpert und so die Geduld verliert. Dann erst wird eine fruchtbare Auseinandersetzung mit seinen praktischen Idealen überhaupt möglich sein. – Eine prinzipielle Auseinandersetzung mit Stammler selbst – der keineswegs etwa für alle Schiefheiten Biermanns verantwortlich gemacht werden kann – würde diesen Aufsatz abermals um einen Bogen anschwellen lassen und ist hier nicht geboten.


190 Erstaunlicherweise akzeptiert auch Wundt (Logik2 I, S. 642) diesen populären Irrtum. – Er sagt: »Lassen wir (a) in der Apperzeption die Vorstellung unserer Bewegung der äußeren Veränderung vorangehen, so erscheint uns die Bewegung als die Ursache dieser Veränderung. Lassen wir dagegen (b) die Vorstellung der äußeren Veränderung derjenigen der Bewegung vorangehen, durch die jene hervorgebracht werden soll, so erscheint die Veränderung als Zweck, die Bewegung als das Mittel, durch welches der Zweck erreicht wird. – In diesen Anfängen der psychologischen Begriffsentwicklung entspringen demnach Zweck und Kausalität aus verschiedenen Betrachtungsweisen eines und desselben (von Wundt gesperrt) Vorgangs.« – Hierzu ist zu sagen: Es ist klar, daß die oben (von mir) mit a und b bezeichneten Sätze gar nicht »denselben« Vorgang schildern, sondern jeder von beiden einen anderen Teil eines Vorgangs, welcher sich in Anlehnung an Wundt in grobem Schema so wiedergeben läßt: 1. »Vorstellung« einer erwünschten Veränderung (v) in der »Außenwelt«, verbunden mit 2. Vorstellung einer Bewegung (m), als geeignet, diese Veränderung zu bewirken, sodann 3. Bewegung m, und 4. eine Veränderung (v') in der Außenwelt, durch m herbeigeführt. Nur die Bestandteile ad 3 und 4: äußere Bewegung und äußere Folge der Bewegung sind offenbar durch den obigen Wundtschen Satz a umfaßt, – 1 und 2: die Vorstellung des Erfolges oder, für den konsequenten Materialisten, wenigstens der entsprechende Gehirnvorgang – fehlen dort, während es für den Wundtschen Satz b dahingestellt bleiben muß, ob er die Elemente ad 1 und 2 allein oder in unklarer Vermischung damit die Elemente ad 3 und 4 umfaßt. In keinem von beiden Fällen aber enthält Satz b eine andere »Auffassung« desselben Vorganges wie Satz a, und zwar schon aus dem Grunde nicht, weil ja doch vor allem natürlich ganz und gar nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf, daß die durch die Bewegung (m) als Ursache hervorgebrachte Veränderung (v') mit der durch die Bewegung (m) als Mittel »bezweckten« Veränderung (v) notwendig identisch sei. Sobald der »bezweckte« und der faktisch »erreichte« Erfolg auch nur teilweise auseinanderfallen, paßt ja das ganze Schema Wundts offenbar überhaupt nicht. Gerade ein solches Auseinanderfallen von Gewolltem und Erreichten – das Nicht-Erreichen des Zwecks – ist aber unzweifelhaft auch für die psychologische Genesis des Zweckbegriffs, deren Erörterung Wundt hier gänzlich mit derjenigen seines logischen Sinnes vermischt, konstitutiv. Es ist gar nicht abzusehen, wie wir des »Zwecks« als selbständiger Kategorie je inne werden sollten, wenn v und v' ein- für allemal zusammenfielen.


191 Ueber diesen Begriff s. meine Abhandlung: Archiv für Sozialwiss., Bd. XIX, 1 (s.u. S. 190 ff.). Ich hoffe, jene skizzenhaften und deshalb vielleicht teilweise mißverständlichen Erörterungen bald eingehender fortzusetzen.


192 Es ist deshalb so ziemlich der Gipfel des Mißverständnisses, wenn man in den Konstruktionen der abstrakten Theorie – z.B. im »Grenznutzgesetz« – Produkte »psychologischer« und vollends »individualpsychologischer« Deutungen oder den Versuch »psychologischer Begründung« des »ökonomischen Wertes« sieht. Die Eigenart dieser Konstruktionen, ihr heuristischer Wert ebenso wie die Schranken ihrer empirischen Geltung beruhen gerade darauf, daß sie kein Gran von »Psychologie« in irgendeinem Sinn dieses Wortes enthalten. Manche Vertreter der Schule, die mit diesen Schemata operieren, haben freilich jenen Irrtum mitverschuldet, indem sie zuweilen allerhand Analogien von »Reizschwellen« heranzogen, mit denen diese rein rationalen, nur auf dem Hintergrund geldwirtschaftlichen Denkens möglichen Konstruktionen ganz und gar nichts, außer gewissen äußeren Formen, gemein haben. Vgl. oben S. 120 Anm. 1.


193 Siehe über diese Probleme O. Ritschl, Die Kausalbetrachtung in den Geisteswissenschaften (Bonner Universitätsprogramm von 1901). Es ist R. jedoch keineswegs beizutreten, wenn er im Anschluß an Münsterbergs »Grundzüge der Psychologie« die Grenze der wissenschaftlichen Betrachtung und speziell der Anwendbarkeit des Kausalitätsgedankens überall da findet, wo »verständnisvolles Nacherleben« eines Vorganges erstrebt werde. Richtig ist nur, daß keine Kausalbetrachtung welcher Art immer dem »Erleben« äquivalent ist. Welche Bedeutung diesem Umstande etwa für metaphysische Aufstellungen zukommen könnte, kann hier nicht untersucht werden. Allein jene mangelnde Aequivalenz gilt für jedes artikulierte »Verstehen« von Motivationsverkettungen ebenfalls, und daß die Prinzipien der empirischen Kausalbetrachtung an der Grenze der »verständlichen« Motivation haltmachen sollten, dafür gibt es keinerlei ersichtlichen Grund. Die Zurechnung »verständlicher« Vorgänge erfolgt nach logisch ganz denselben Grundsätzen wie die Zurechnung von Naturereignissen. Es gibt innerhalb des Kausalitätsprinzips auf dem Boden des Empirischen nur einen Knick: er liegt da, wo die Kausalgleichung als mögliches oder doch als ideales Ziel der wissenschaftlichen Arbeit endet.


194 So z.B. auch bei Schmoller in seiner früher zitierten Rezension von Knies.


195 Denn wenn das »Material« eines konkreten historischen Zusammenhanges etwa allein aus hysterisch, hypnotisch oder paranoisch bedingten Vorgängen bestände, welche uns, weil undeutbar, als »Natur« gelten, – so würde das Prinzip der historischen Begriffsbildung dennoch das gleiche bleiben: auch dann wäre nur die durch Wertbeziehung hergestellte »Bedeutung«, welche einer individuellen Konstellation solcher Vorgänge im Zusammenhang mit der ebenfalls individuellen »Umwelt« beigelegt würde, Ausgangspunkt, Erkenntnis individueller Zusammenhänge Ziel, individuelle kausale Zurechnung Mittel der wissenschaftlichen Verarbeitung. Auch Taine, der solchen Aufstellungen gelegentlich Konzessionen macht, bleibt dabei durchaus »Historiker«.


196 Theoretisch – aber freilich recht unzulänglich – formuliert Knies seinen Ausgangspunkt dahin: »Personales Leben und Mangel eines einheitlichen Mittelpunktes ist ein kontradiktorischer Widerspruch; wo er bemerkt wird, ist er nur scheinbar« (S. 247).


197 Aehnlich und hinsichtlich des rationalen Charakters dieser Konstruktion noch deutlicher: »Die Selbstliebe des Menschen enthält in ihrem Begriff (!) keinen Widerspruch gegen die Liebe zur Familie, zum Nächsten, zum Vaterlande. Die Selbstsucht enthält diesen Widerspruch, sie hat ein privatives und negatives Element, das unvereinbar ist mit der Liebe zu allem, was nicht mit dem Ich des Einzelnen zusammenfällt« (S. 160/161).


198 »Der Chemiker mag den 'elementaren', 'reinen' Körper aus den Verbindungen, in denen derselbe vorkommt, ausscheiden und als für sich ausscheidbaren Körper auf alles weitere hin untersuchen. Dieser elementare Körper ist auch als solcher in der Verbindung real vorhanden und wirksam. Die Seele des Menschen dagegen ist ein Einheitliches, nicht in Teile Zerlegbares, und die Seele des 'von Natur sozialen Menschen' mit einem für sich verselbständigt scheidbaren Triebe des reinen Eigennutzes ist eine theoretisch unzulässige Annahme usw.« (2. Aufl. S. 505).


199 »Es gibt Gegenstände, für deren begriffliche Feststellung aus der allgemeinen Lebenserfahrung alle nötigen Elemente unwiderlegbar dargeboten werden, so daß sie immer gefunden werden, wenn auf sie verwiesen wird, und andere, deren Feststellung in gewisser Beziehung nur Sache des Uebereinkommens ist, so daß sie nur unter bestimmten Voraussetzungen allgemeingültig werden kann. Zu den ersteren gehört der Begriff des Volkes, zu den letzteren der der Wirtschaft« (S. 125).


200 Darüber vgl. 2. Aufl. S. 164: »Wir sind nicht etwa nur berechtigt, sondern in der Tat dazu gedrängt, die Volkswirtschaft mit ihrer gesellschaftlichen Gliederung und ihrer staatlichen Rechtsordnung als ein organisches Gebilde aufzufassen. Nur handelt es sich hier um einen Organismus einer höheren Ordnung, dessen besonderes Wesen dadurch bedingt ist, daß er nicht ein naturaler Individualorganismus ist, wie die pflanzlichen und die tierischen Organismen, sondern ein ›zusammengesetzter Körper‹, ein als Kulturprodukt erwachsener Kollektivorganismus, dessen zu gleichzeitigem Einzelleben ausgerüsteten und berufenen Elemente Individualorganismen mit ihrer für die Erhaltung der Gattung erforderlichen Geschlechtsverbindung sind.«


201 Folgende Stellen werden das hinlänglich illustrieren: »Möge auch im Fortgange der Zeit die Triebkraft der Entwicklung sich in einzelnen Gebieten zuerst weiteren Raum verschaffen ..., es wird immer die Fortbewegung über das Ganze sich erstrecken und alle Teile in Homogenität zu erhalten streben« (S. 114). Ganz entsprechend weiterhin S. 115: »Wie man die Einsicht in die volkswirtschaftlichen Zustände einer Zeit im allgemeinen erst dann erlangt haben wird, wenn man dieselben in ihrer Verbindung mit den Gesamterscheinungen des geschichtlichen Volkslebens erfaßt hat, so wird man auch innerhalb des ökonomischen Ringkreises insbesondere die geschichtliche Bedeutsamkeit einer einzelnen Entwicklungsform nur durch die Erfassung des Parallelismus, der aus der analogen Gestaltung aller übrigen hervorblickt, zu erkennen vermögen.« »Nicht bloß, daß alle speziellen Partien der Volkswirtschaft untereinander in einem auf die Haltung und den Charakter der Gesamtwirtschaft, als auf ihre Erklärung hinweisenden Zusammenhang stehen, sondern eben dieses Ganze steht auch seinerseits in unlöslicher Verbindung mit dem Gesamtleben des Volkes. Auf diese Verbindung wird man immer wieder hingewiesen, so oft man sich die Frage nach den Ursachen vorlegt, aus denen wirtschaftliche Zustände hervorgewachsen sind, und umgekehrt wird man, wenn man die Wirkungen der letzteren nachzuweisen sucht, auch auf die Erscheinungen der übrigen Lebenskreise eintreten müssen« (S. 111). »Daher bleibt immer die Gemeinsamkeit des allgemeinen Charakters erhalten, der in den verschiedenen Erscheinungsgebieten hervortritt; alle Formen des äußeren Lebens stellen sich als Gebilde einheitlicher Triebkräfte dar, die sich überall zur Geltung zu bringen suchen und deren Entwickelungen die Wandlungen dieser Formen vermitteln, dieselben nach einer Richtung hin zu bewegen suchen.« (Ebendort.) Und endlich: »Es können sich wohl Neugestaltungen als die Ergebnisse einer vorgeschrittenen Entwicklung im allgemeinen Volksleben auf einem einzelnen Gebiete zuerst in deutlicherer Gestaltung, mit scharf ausgeprägtem Charakter herausbilden, aber dieses partielle Dasein ist nur die Erscheinung des allmählichen Werdens, das sich in einer das Gesamtleben umfassenden Reihe nicht bloß gleichzeitiger, sondern auch aufeinanderfolgender Umbildungen vollzieht« (S. 110).


202 Ein weiterer Artikel sollte folgen.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 146.
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