Musen

[340] Musen (Gr. u. röm. M.), Töchter des Jupiter und der Mnemosyne (einer Tochter des Uranus und der Gäa), welche in Pierien neun Nächte in den Armen des Gottes zubrachte, und ihm neun Töchter gebar, die von jenem Lande nicht selten Pieriden heissen, wiewohl auch die neun Töchter des Königs Pierus diesen Namen führen. Mnemosyne, die Göttin des Gedächtnisses, musste mit dem Gott der Götter wohl Kinder von seltenen Gaben erzeugen; solche waren denn auch die M., welche sich den Künsten und dem heitern Wissen widmeten, und die Vorsteherinnen einzelner Zweige desselben wurden. Clio, die Muse der Geschichte, wird gewöhnlich sitzend mit geöffneter Bücherrolle in der Hand abgebildet. Melpomene, die Muse des Trauerspiels, hält in der einen Hand einen Dolch oder eine tragische Maske, und stützt sich mit der andern auf eine Keule. Thalia, die Muse des Schau- und Lustspiels, hält eine komische Maske. Calliope, die Muse des Epos (Heldengedichts), hält mit beiden Händen ein zusammengerolltes Pergament. Terpsichore, die Muse der Tanzkunst, spielt auf einer siebensaitigen Lyra. Euterpe, Muse der lyrischen Dichtkunst, besonders dem Flötenspiel gewogen, wird theils mit, theils ohne dieses Instrument abgebildet. Erato singt das Glück der Liebenden und ist die Muse der zärtlichen Gesänge; sie wird mit einer neunsaitigen Lyra dargestellt. Urania, die Muse der Astronomie, hält eine Weltkugel und einen Zirkel in der Hand, nicht selten ist auch ihr Haupt mit einem Sternenkranze umgeben. Polyhymnia, endlich, Muse der Hymnen-Poesie, wird sinnend und ernst, auch mit bedeutsam erhobener Rechten abgebildet. - Die M. sind die steten Begleiterinnen des Apollo; auf dem Pindus, dem Parnass, dem Helicon, an den Quellen Aganippe, Hippocrene, Castalia, sind sie um ihn versammelt; beinahe alle waren auch seine Geliebten und haben mehrere Kinder von ihm empfangen; aber auch andere Götter oder Sterbliche erfreuten sich ihrer Gunst: so gebar Clio dem Pierus den schönen Hyacinthus, den Liebling des Apoll; Melpomene empfing von dem Flussgott Achelous die Sirenen; von Calliope und Apollo stammen Linus und Orpheus (zwei berühmte Sänger), auch Hymenäus; Euterpe liebte den Flussgott Strymon, und gebar ihm den Rhesus; der Polyhymnia gibt man auch den Triptolemus zum Sohne. - Verschiedene Male sangen die M. in die Wette, einmal mit den neun Töchtern des Königs Pierus, welche sie in Vögel verwandelten; ein ander Mal mit dem Thamyris, dem sie die Augen und den Gesang nahmen; auch die Sirenen büssten bei einem ähnlichen Versuch ihre Federn ein. Sonst aber sind sie unter den Göttern Griechenlands und Roms die edelsten Gebilde, sie erwecken den Edelmuth, lenken die Herzen zum Guten, belehren und begeistern die Sterblichen, und stehen ihnen mit Rath und That bei, wenn sie sich dessen irgend werth zeigen, daher die alten Dichter häufig die M. um ihren Beistand anrufen, wenn sie etwas Schwieriges unternehmen wollen, eine Sitte, welche sich auch auf die neuere Zeit übertragen hat.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 340.
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