Ai

[190] Ai, ein Doppellaut der Oberdeutschen, welcher von ihnen gemeiniglich in der Gurgel gebildet wird, und daher für einen Hoch- und Niederdeutschen unangenehm klinget. Da die südlichen Oberdeutschen diese Gurgellaute sehr lieben, so sprechen sie fast alle ei wie ai aus, Bain, Stain, ain, und in den gröbsten Mundarten gar wie oi, gleichfalls tief aus der Gurgel gehohlt. Daß diese Aussprache ein bloßer Provinzial-Fehler ist, sahe schon der berühmte Hieronymus Wolf in der 1556 ohne Beyfügung seines Nahmens heraus gegebenen Schrift, de orthographia Germanica ac potius Suevica ein, und rieth daher das ai ganz zu verbannen, welches denn auch nach und nach in der Hochdeutschen Mundart geschahe, und mit desto größerm Rechte geschehen konnte, da es in den meisten Fällen der Abstammung widerspricht. In einigen wenigen behielt man es, theils um des verjährten Gebrauches[190] willen, wie in Kaiser, theils aus etymologischen Gründen, wie in Hain und Rain, wovon das erstere aus Hagen zusammen gezogen, das letztere aber mit Rand eines Geschlechtes ist; theils zur Unterscheidung einiger gleich lautender Wörter, wie in Waise, orphanus, Saite, chorda. In andern legte man es nach und nach ab, und aichen, von dem Gemäße, laichen, Froschlaich, Aimer, maischen, Getraide, Haide für Wald, Waitzen, welche noch am längsten damit geschrieben wurden, sind jetzt mit einem ei am üblichsten. Laie, Waid, Isatis, Main, Mainz und andere sind theils fremde Wörter, theils eigene Nahmen, welche sich an keine Regel binden. Laib, ein ganzes Brot, und Fraiß sind ohnehin Oberdeutsche Wörter, welche im Hochdeutschen nicht üblich sind. Wenn nun aber dieser Doppellaut gleich in manchen Wörtern von den Hochdeutschen beybehalten worden, so haben sie doch dessen unangenehme Aussprache durch die Gurgel nicht mit aufgenommen, sondern sie sprechen ai fast so wie ei aus. S. Ay. Unverantwortlich ist es, wenn man diesen den Hochdeutschen fremden Doppellaut dazu mißbrauchen will, gewisse Unterschiede in der Bedeutung, auch bey einem unläugbar gemeinschaftlichen Ursprunge, damit zu bezeichnen, und solches gar zu einer grammatischen Regel zu machen, wie man mit Laib, baitzen, Waidwerk u.a. versucht hat. S. diese Wörter.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 1. Leipzig 1793, S. 190-191.
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