Gehren, der

[504] Der Gêhren, des -s, plur. ut nom. sing. oder die Gehre, plur. die -n, ein altes, nur noch in den gemeinen Mundarten in mancherley Bedeutungen übliches Wort.

1. Eigentlich, ein spitziges Werkzeug, ein Pfeil, Spieß, Gabel u.s.f. welcher bereits sehr alte Gebrauch noch in verschiedenen Gegenden Ober- und Niederdeutschlandes vorhanden ist. In dem alten Fragmente eines Gedichts auf den Krieg mit den Saracenen bey dem Schilter kommt der Ger und Gar mehrmahls für einen Wurfspieß vor. In der Schweiz ist die Geere eine Gabel, mit welcher die Fische gestochen werden. Ein rothes Geereneisen mit zwey Widerhaken, Bluntschli, welche Bedeutung auch das Holländ. Gheer hat. Im mittlern Lat. bedeutet Guarrus und Garrotus, und im Franz. Garrot, die Spitze eines stechenden Werkzeuges, und im Engl. ist to gore noch jetzt stechen. Nimmt man den Übergang des r in s, und der Hauchlaute in Blaselaute als bekannt an, so wird man die Verwandtschaft dieses Wortes mit dem alten Gallischen Gesum, ingleichen mit dem Deutschen Wehr, Gewehr, vielleicht auch mit dem Nordischen Jern, Eisen, (S. Eisen,) nicht verkennen können. S. auch Schere, Scheren und Kerben, welche gleichfalls von diesem Worte abstammen.

2. Figürlich, verschiedene schief oder spitzig zulaufende Arten von Flächen zu bezeichnen. 1) Bey den Tischern und Zimmerleuten, eine nach der Diagonal-Linie eines rechtwinkeligen Viereckes gehende Fläche oder Fuge, eine Fläche, welche mit der horizontalen Fläche einen Winkel von 45 Grad macht; wo es auch die Gehre, die Göhre, der Giern, die Göhrung lautet. S. Gehre, Gehrig, Gehrhobel, Gehrmaß und Gehrung. 2) In der Landwirthschaft einiger Gegenden, z.B. in Meißen, Thüringen und Niedersachsen, ist der Gehren ein Stück Landes, welches an einem oder beyden Enden spitzig zuläuft. Der Gehren gibt und nimmt, eine bekannte Bauerregel, welche so viel sagen will: wenn die regulären Stücke Ackers nicht die gewöhnliche und hergebrachte Breite haben (S. Strichel, Sottel, Gerte) so ist der Gehren zu breit geackert worden, und er muß das Fehlende abgeben, und so auch umgekehrt; weil man voraussetzt, daß bey der anfänglichen Vertheilung der Grundstücke lauter reguläre Antheile von bestimmter Größe gemacht worden, da denn der irreguläre Überrest unter dem Nahmen eines Gehrens übrig geblieben. In einer Halberstädtischen Urkunde von 1179 heißt ein solcher Gehren Geroris; im Nieders. eine Gere, im Hannöverischen aber ein Gard. S. Gehrenzehnte. 3) Bey den Nähterinnen, ein dreyeckiges oder keilförmiges Stück in den Hemden, besonders in den Weiberhemden, ein Keil, Zwickel. Im Niedersächsischen auch der Keil oder Zwickel in einem Strumpfe, welcher Engl. Goar oder Gore heißt. Ja im gemeinen Leben einiger Gegenden, eine jede spitzig zulaufende Fläche, ein jeder keilförmiger Streifen, wo es auch im weiblichen Geschlechte, die Gehre, üblich ist. Dahin gehöret auch dasjenige Stück Leinwand, welches unten an die Segel geheftet wird, um sie breiter zu machen, und gleichfalls ein Gehren heißt. 4) Die Falte in einem Kleide, wegen der äußern Ähnlichkeit mit einem Keile, und[504] nach einer noch weitern Figur auch der weite Theil eines Kleides, welcher die meisten Falten wirft, oder vielleicht auch durch die in den ehemaligen langen Kleidern angebrachten Falten verursacht wurde, da es denn bald von der Schleppe, bald aber auch von dem Schooße der langen Kleider gebraucht wird, und bald die Gehre bald der Gehren lautet. Er schürzte die Geren auf und fustet sin Messer, Königshov. Wenn du einem Kinde etwas geben willst, so sprichst du zu ihm: wolan heb den Geren uf, Kaisersb. Da breitete ich meinen Geren über dich, Ezech. 16, 8. Wenn jemand heilig Fleisch trüge in seines Kleides Geren, und rührete darnach mit seinem Geren Brot, Gemüse, Wein u.s.f. Hagg. 2, 13. In welchen Stellen Luther dieses Wort aus ältern Oberdeutschen Übersetzungen beybehalten hat, indem es in einigen Gegenden Oberdeutschlandes noch jetzt üblich ist. Bey den Schwäbischen Dichtern lautet es in diesem Verstande Gere, im. Ital. Gerone, Gherone, im Franz. Giron, im Holländ. Gheren, im Schwed. Gere, im mittlern Lat. Gyro und Giro. Du Fresne, Ihre und andere leiten es in diesem Verstande von Gyrus, ein Kreis, her; allein, da dieser Theil der ehemaligen weiten Kleider vermittelst der Falten so weit gemacht wurde, und diese alle Mahl spitzig zulaufen, so ist die hier angegebene Abstammung weit wahrscheinlicher. Sie wird auch dadurch bestätiget, daß im mittlern Lateine dieser Theil der Kleider mehrmahls Sagitta genannt wird, welches eine buchstäbliche Übersetzung des Deutschen Wortes Gehren ist. Subtus circa pedes tunica debet esse rotunda qualitate mensurata, sagittas vero vel gerones tantum habeat, vt iter gradientes vel superfluitate, vel parcitate non impediat, Guid. Farf. B. 2, bey dem Du Fresne. Sedens – – girones quoque, vel quos quidam sagittas vocant, colligit vtrimque, Udalric. B. 2, Consuet. Cluniac. eben daselbst.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1796, S. 504-505.
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