Ihr (2)

[1357] 2. Ihr, die erste Endung des vielfachen persönlichen Fürwortes der zweyten Person, welches in der zweyten Endung euer, in der dritten und vierten euch hat.

Eigentlich redet man mit diesem Fürworte mehrere Personen außer sich an. Habt ihr es nicht gehöret? Werdet ihr kommen? Man spottet euer. Nehmt es zu euch. Allein, seitdem die Höflichkeit der Mode ihre Gewalt auch über die Fürwörter erstrecket hat, so redet man mehrere Personen, denen man nur einiger Maßen Achtung schuldig zu seyn glaubt, mit dem vielfachen persönlichen Fürworte der dritten Person an. Werden sie kommen? Man spottet ihrer. Nehmen sie es zu sich. Und gebraucht das ihr mit seinen Endungen nur da, wo man durch Vertraulichkeit, Unterwerfung, oder Verachtung dazu berechtiget zu seyn glaubt, in welchem Falle man denn nicht nur mehrere, sondern auch eine einzelne Person mit ihr anredet. Der Kaiser nennt in Deutschen Schreiben noch die Generalstaaten, die Schweizer-Cantons, das Reichs-Kammergericht, die Stände von Ungarn, fürstliche Domkapitel, reichsgräfliche Collegia, die Magistrate der Reichsstädte u.s.f. ihr.

Ehedem spielete dieses Fürwort eine glänzende Rolle. Als man anfing es für ungesittet zu halten, einzelne Personen außer sich, denen man mit Achtung zu begegnen schuldig war, mit du anzureden, so wählete man dazu das vielfache ihr; ein Gebrauch welcher in die frühesten Zeiten des Deutschen Reiches fällt, und sich bey unsern meisten Nachbaren noch bis jetzt erhalten hat. Ungeachtet sich nun auch dieser Gebrauch wieder verloren hat, so ist doch noch ein Überrest davon in dem Possessivo Euer oder abgekürzt Ew. übrig geblieben, S. 2. Euer. Das ist ein Pferd, das ihr heißt, ein Kleid das ihr heißt, ein in den niedrigen Sprecharten üblicher Ausdruck, etwas vortreffliches in seiner Art zu bezeichnen, welcher noch auf diesen Gebrauch, vornehme Personen mit ihr anzureden, anspielet. Von einer ansehnlichen Person sagt man in Niedersachsen, den muß man ihr heißen. S. auch Euer und Euch.

Anm. Bey dem Ottfried ir, im Nieders. ji und ju, ihr, jik, jou und juk, euch, im Holländ, ghy, im Engl. you, your, im Angels. juh. eow, in der zweyten Endung eower, im Dän. i, in Baiern in den groben Mundarten es, ös, dös, in der Ober-Pfalz dötz, im Lettischen jus, welche dem Latein. vos nahe kommen. S. Es.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1796, S. 1357.
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