Muthmaßen

[339] Muthmaßen, verb. reg. act. aus wahrscheinlichen Gründen dafür halten, die Wahrscheinlichkeit in einzelnen Fällen bestimmen; vermuthen. Ich weiß es nicht gewiß, ich muthmaße es nur. Weil man ihn noch nicht gesehen hat, so muthmaßet man daraus, daß er noch nicht hier ist.

Anm. Dieses Wort kommt bey den ältern Schriftstellern nicht vor, so wie es auch den Niederdeutschen und den mit ihnen verwandten Sprachen unbekannt ist. Die Niedersachsen gebrauchen dafür gissen, von Geist, die Engelländer to guess, die Angelsachsen gaetan, S. Vergessen. Frisch führet eine Stelle aus Hedions Kirchenhist. an, voraus erhellet, daß es auch für schätzen, taxiren gebraucht worden. Die letzte Hälfte stammet mit dem Oberdeutschen ermäßigen, dafür halten, und dem Hochdeutschen ermessen, schätzen, dafür halten, begreifen, u.s.f. und vielleicht auch mit beymessen und anmaßen, aus Einer Quelle her, welche, wenigstens in Ansehung der beyden erstern, das Zeitwort messen ist. Muthmaßen wäre also mit dem Gemüthe, mit dem Verstande messen, d.i. nach dem Augenmaß, ungefähr, nach wahrscheinlichen Gründen. Muth hat in dieser Zusammensetzung die Gestalt eines untrennbaren Vorwortes, ich muthmaße. Doch verdrängt es das Augment nicht ganz, sondern läßt dasselbe vor sich treten, gemuthmaßet. Im Oberdeutschen setzt man es auch in die Mitte, muthgemaßet. Muthmaßen und vermuthen können mit Stosch immer so unterschieden werden, daß sich ersteres auf eine stärkere Wahrscheinlichkeit beziehet als letzteres, wozu die Zusammensetzung mit messen Anleitung gibt. Im Jüdisch-Deutschen bedeutet muthmaßen gewiß wissen.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 339.
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