Nieder

[491] Nieder, -er, -ste, adj. et adv. dem Mittelpuncte der Erde näher als ein anderes Ding, im Gegensatze des ober und hoch. Es wird auf doppelte Art gebraucht.

I. Als ein Beywort.

1. Eigentlich, wo im Hochdeutschen niedrig statt dessen üblicher ist; doch kommt es noch im Oberdeutschen, und zuweilen auch in der höhern Schreibart der Hochdeutschen vor. Eine niedere Bank, eine niedrige. Ein niedres Haus, ein niedres Land. Ein Hügel ist niedrer als ein Berg. Sich der Armuth rechtschaffener Verwandten, und der niedern Stufe schämen, auf der sie stehen, ist nicht bloß Stolz, es ist zugleich Grausamkeit, Gell. Ich wohne sicher in meiner niedern Hütte. Geßn. Eben so haben wir es noch in den Zusammensetzungen Niederland, Nieder-Deutschland, Nieder-Sachsen, Nieder-Ungarn, alle im Gegensatze der höher gelegenen Theile dieser Länder, welche alsdann das Ober- vor sich nehmen. S. auch Niederbort, Niederholder, Niederholz u.s.f. wo die erste Hälfte dieses Beywort ist.

Die Endsylbe -er hat viele Sprachlehrer verführet, dieses Wort für einen Comparativ zu halten, welchem die erste und dritte Staffel fehlet, dagegen andere es für die erste Staffel halten, und ihm die zweyte und dritte absprechen. Beyde irren. Daß es kein Comparativ ist, erhellet unter andern aus dem Superlativ, niederste, der alsdann kein r haben könnte, so wie man von größer nicht größerste, sondern größeste, größte sagt. Wir haben mehrere Beywörter auf -er, wie bitter, tapfer, sauer, sauber, finster, lauter u.s.f. ferner äußere, inner, hinter, vorder, ober u.s.f. welche letztern gleichfalls irrig für Comparative gehalten worden, vermuthlich, weil sie als Nebenwörter nicht üblich sind, indem sie, so wie nieder, eigene Nebenwörter auf -en haben. Daß aber nieder wirklich die zweyte und dritte Staffel habe, erhellet nicht nur aus der Natur der Sache, sondern auch aus dem Ober- und Niederdeutschen, wo beyde häufig genug vorkommen, und der Superlativ ist auch in der höhern Schreibart der Hochdeutschen nicht selten.

2. Figürlich, der Würde nach, geringe, im Gegensatze des hoch, wo es auch im Hochdeutschen üblicher ist. 1) Die niedere Jagd, wohin das geringe oder unedle Wildbret gerechnet wird, im Gegensatze der hohen Jagd. Die niedere Gerichtbarkeit, die niedern Gerichte oder Niedergerichte, Untergerichte, im Gegensatze der hohen Gerichtbarkeit. Die niedern Schulen, die hohe und niedere Geistlichkeit, die hohen und niedern Staatsbedienten, Kriegsbefehlshaber u.s.f. In welchen Fällen man das Wort niedrig wohl nicht leicht gebraucht. In Sachsen sind verschiedene Vasallen auf niedere Metalle, als Zinn, Eisen u.s.f. beliehen. Ingleichen als ein Hauptwort, ein Niedrer, die Niedern, dem Stande, der äußern Würde nach geringe Personen. Der Nidern nimt si keine war, sie achtet der Niedern nicht, die Winsbeckinn. Auf sich den Haß der Niedern laden, Gell. 2) Im moralischen Verstande, in Ansehung der sittlichen Würde, wo es in der höhern Schreibart, noch mehr als niedrig, ein glimpflicher Ausdruck für das härtere niederträchtig ist, seiner Vorzüge mit Vorsatz uneingedenk und darin gegründet. Niedere Verleumder. Ein niederer Eigennutz. Der niedere Stolz.


Der Feige sucht sich nur durch niedre Flucht zu retten,

Weiße.


[491] Als ein Nebenwort wird dieses ganze Beywort nicht gebraucht, weil im Hochdeutschen statt dessen niedrig, im Oberdeutschen aber in manchen Fällen auch nieden üblich ist. Ehedem kannte man es gar wohl. Vuas iro kraft zi nidiri, war ihre Kraft zu schwach, Ottfried.

II. Als ein Nebenwort, oder vielmehr als ein Vorwort, welches ehedem die vierte, bey den ältern Schriftstellern auch wohl die dritte Endung erforderte, aber jetzt außer der Zusammensetzung mit Zeitwörtern und den davon abstammenden Nennwörtern völlig veraltet ist. Ein Überbleibsel davon ist noch in der R.A. übrig, die Stube, den Garten u.s.f. auf und nieder laufen, wo es doch wohl nicht zunächst zu dem Zeitworte gehöret. Danieder und hernieder sind gleichfalls Überreste dieses ehemahligen Vorwortes. Nider imo, unter ihm, in den Monseeischen Glossen. Als ein Vorwort wird es daher auch mit den Zeitwörtern, welchen es beygefüget wird, zusammen gezogen, ob es gleich übrigens zu den trennbaren Partikeln gehöret. Es kann mit allen Zeitwörtern zusammen gesetzet werden, welche eine Bewegung oder eigentliche Handlung bezeichnen, und bedeutet alsdann, daß diese Bewegung nach unten zu, nach der Oberfläche der Erde zu gerichtet ist. Die Zusammensetzungen dieser Art, gehören mit zu den ältesten in der Deutschen Sprache, indem sie schon im Kero vorkommen. Die Niederdeutschen pflegen diejenigen Zeitwörter, welche die Hochdeutschen mit diesem Worte bilden, gern mit daal zu machen; daalfallen, niederfallen, daalslaan, niederschlagen. S. Thal.

Anm. Bey dem Ottfried nidar, bey dem Notker nider, im Nieders. nedder, zusammen gezogen neer, Comparat. nedderer, Superl. nedderste, im Angels. neothor, im Engl. nether, im Schwed. neder, im Isländ. nedar. Es stammet vermittelst der Ableitungssylbe -er von dem im Hochdeutschen völlig veralteten Bey- und Vorworte nied her, welches noch in der Schweiz gangbar ist, wo es unten und unter bedeutet. Ob sich und nied sich ist in der Schweiz über sich und unter sich, vorwärts und hinterwärts. Der Thurm soll nid sich so tief, als hoch seyn, Bluntschlí, d.i. unten in der Erde. Dieses einfache nied, welches ohne Zweifel zu neigen und nahen gehöret, ist auch noch in andern Sprachen vorhanden, wie in dem Dän. ned, in dem Schwed. ned, in dem Angels. neoth, und in dem Engl. beneath. Das hohe Alter dieser Partikel erhellet aus dem Griech. νειοθι, νειοθεν, νερθε und ενερθε, welche beyden letzten dem zusammen gezogenen Niedersächs. neer nahe kommen. S auch die Niedere und Niedrig.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 491-492.
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