Reitzen (2)

[1080] 2. Reitzen, verb. reg. act. welches ursprünglich theils körperlich bewegen, theils aber auch ritzen, stechen, u.s.f. bedeutet hat, in welchem Verstande es aber veraltet ist, so daß es nur noch einige figürliche Bedeutungen übrig gelassen hat.

1. Empfindungen, sinnliche Eindrücke hervor bringen. Die Nerven sind Fibern, welche gereitzet werden können, der Reitzung fähig sind, S. Reitzbar. Besonders, lebhafte sinnliche Empfindungen hervor bringen. Was ist der flüchtige Kitzel, womit alle gekünstelte Gerichte die Zunge reitzen?

2. Durch Bewegungsgründe zu einer Veränderung bestimmen, als das Intensivum von rathen; eine größten Theils veraltete Bedeutung, in welcher man ehedem auch sagte, jemanden zu einer guten Handlung reitzen, für bewegen, bereden. Lasset uns unter einander unserer selbst wahrnehmen, mit reitzen zur Liebe und guten Werken, Ebr. 10, 24.

3. In engerer und gewöhnlicherer Bedeutung, durch Erregung lebhafter sinnlicher Begierden zu etwas bewegen. 1) Überhaupt, mit dem Vorworte zu. Jemanden zum Zorne, zum Bösen reitzen. Sie reitzen durch Unzucht zur fleischlichen Lust, 2 Petr. 2, 18. Zur Liebe, zum Unwillen, zum Hasse reitzen. Ingleichen absolute. Ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen bösen Lust gereitzet und gelocket wird, Jac. 1, 14. Zuweilen, obgleich seltener, auch mit der vierten Endung der Begierde, welche erreget wird. Jemandes Zorn, jemandes Liebe reitzen. Wer den Zorn reitzet, zwinget Hader heraus, Sprichw. 30, 33. 2) In einigen engern Bedeutungen. (a) Zum Zorne, zum Unwillen reitzen. Ahas reitzete den Herrn, seiner Väter Gott, 2 Chron. 28, 25. In noch engerer Bedeutung ist jemanden reitzen, ihn ohne Noth, bloß zum Vergnügen, zum Unwillen bewegen, für die niedrigern, necken, foppen u.s.f. (b) Einen lebhaften Grad angenehmer Empfindungen erwecken. Wie sehr reitzet mich die grüne Einsamkeit des schattigen Waldes! Wo besonders das Mittelwort reitzend üblich ist, welches denn auch häufig passive gebraucht wird, in einem vorzüglichen Grade anmuthig. Sie that es mit einem reitzenden Anstande. Reitzende Schönheiten, eigentlich, welche Begierden zum Genusse erwecken, in weiterer Bedeutung aber auch ohne diesen Nebenbegriff, für sehr anmuthig. Wie reitzend wird die Freundschaft nicht, wenn sie sich zugleich auf Natur und auf Tugend gründet! Gell. Die Gruft wird mir ein reitzenderer Aufenthalt, als die goldnen Zimmer des Pallastes, Weiße. Ein reitzendes Vergnügen quillt aus dem Umgange unserer Mitgeschöpf, Zimmerm.

Daher die Reitzung, S. solches hernach besonders.

Anm. Bey dem Notker in der ersten engern Bedeutung reitzen, bey den Schwäbischen Dichtern reissen. In der zweyten engern Bedeutung von der Erweckung angenehmer Empfindungen scheinet es erst in den neuern Zeiten gangbar geworden zu seyn, da es denn zugleich die auffallende Bedeutung der sinnlichen Lust verlieret. Die Endsylbe -zen zeiget schon, daß dieses Wort ein Intensivum ist, dessen Stammwort reiten ist, theils so fern es ehedem stechen, anstechen ritzen, theils aber auch, so fern es bewegen, antreiben bedeutet hat, in welchem Verstande es noch in der niedrigen R.A. der Teufel reitet ihn, vorkommt. In einem alten Niederdeutschen Gedichte in Leibnitzens Scriptor. Brunsu. heißt es noch, nach dem Frisch: Hierunter öme der hilghe Geist reit, dat u.s.f. hierin bewog ihn der heilige Geist. Im Schwed. ist auch noch das einfache Zeitwort reta, zum Zorne reitzen, üblich, welches auch in dem Latein. irritare zum Grunde liegt. Die Griechen haben beyde, ερεθειν, und ερεθιζειν. Mit dem müßigen, höchstens intensiven Gaumenlaute gebraucht Notker auch gruozzen für reitzen, und die Niedersachsen sagten in eben dieser Bedeutung[1080] ehedem gretten. Das Latein. Gratiae, Grazien, gehöret gleichfalls zur engern Bedeutung der Anmuth, so wie schon im Arab. razy gefällig, Ryza, und im Hebr. Raza, Wohlgefallen ist.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 1080-1081.
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