Thier, das

[579] Das Thier, des -es, plur. die -e, Diminut. das Thierchen, Oberd. Thierlein. 1. Im weitesten Verstande, ein jedes lebendiges Geschöpf, ein Körper, welcher der Empfindung und freywilligen Bewegung fähig ist. Ein unvernünftiges Thier, zum Unterschiede von dem vernünftigen, welches doch unter dem Nahmen des Menschen am bekanntesten ist. Es wird hier nur als ein allgemeiner Ausdruck gebraucht, die Classe oder das Geschlecht zu bezeichnen. Wenn sich der Mensch zum Geschlecht der Thiere rechnen muß, so kann er doch auch in mancher andern Absicht seinen wahren Adel und Vorzug erweisen, die ihm auf einen höhern Rang ein gegründetes Recht geben. Wenn man im vertraulichen Scherze oder aus Verachtung einen Menschen ein Thierchen oder ein Thier nennet, so ist es ohne Zweiffel eine Figur einer der folgenden engern Bedeutungen. Sie ist ein häßliches Thier. Er ist ein freudenvolles und gramloses Thier. 2. In engerer und gewöhnlicher Bedeutung führen nur die unvernünftigen Thiere, oder mit bloßer Sinnlichkeit und freyen Bewegung versehenen Körper den Nahmen der Thiere. Und da hat man zahme und wilde Thiere, lasttragende Thiere, vierfüßige, gefiederte, kriechende, schwimmende Thiere, wovon die mehresten Arten wieder eigene Geschlechtsnahmen haben. 3. In noch engern Bedeutungen. (a) Oft verstehet man unter Thier schlechthin ein vierfüßiges auf der Erde lebendes Thier. Ein wildes Thier. So auch in den Zusammensetzungen Rennthier, Murmelthier,[579] Elendsthier, Panterthier, Tiegerthier, Maulthier u.s.f. (b) Mit einem andern Nebenbegriffe werden die schädlichen und großen vierfüßigen Raubthiere nur wilde Thiere schlechthin genannt. Den wilden Thieren vorgeworfen werden. Mit wilden Thieren kämpfen müssen. (c) Ein Maulthier heißt in der Deutschen Bibel nur schlechthin das Thier. Er hub ihn auf sein Thier, Luc. 10, 34. Wie man denn im gemeinen Leben diejenigen zahmen vierfüßigen Thiere, mit welchen man am meisten umgehet, in manchen Gegenden noch Thiere schlechthin zu nennen pflegt. (d) Im engsten Verstande ist bey den Jägern das Thier, das Weibchen des Roth- und Damwildes, welches von dem Hirschgeschlechte auch die Hirschkuh, das Wild, die Hindinn, von dem Rehbocke aber das Reh genannt wird. Im Engl. Deer. Das Schwed. Djur bedeutet auch den Hirsch.

Anm. Im Notker Tier, im Willeram Dier, im Niedersächs. Deert, im Angels. Deor, im Engl. Deer, im Dän. und Ißländ. Dyr, im Schwed. Djur, im Griech, θηρ, θηριον. Da das Wort in so mancherley Einschränkungen gebraucht wird, und sich jetzt nicht bestimmen läßt, in welcher Bedeutung es am ersten gebraucht worden, so läßt sich auch dessen Abstammung nicht mit Gewißheit bestimmen. Wenn nur große Thiere anfänglich mit diesem Nahmen belegt worden, so würde vielleicht das alte tor, tur, stor, groß, als das Stammwort angesehen werden können. S. Theuer 1. Wenn es aber ursprünglich schon eine allgemeine Benennung dessen, was lebt und sich bewegt, gewesen, so scheinet der Begriff der Bewegung der herrschende zu seyn, der denn eine Onomatopöie einer Art der Bewegung seyn, und zu dem Holländ. tieren, wachsen, gedeihen, dem alten Getier, Bewegung, Lärmen u.s.f. gehören würde.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 579-580.
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