Vergessen

[1044] Vergêssen, verb. irreg. act. ich vergesse, du vergissest, zusammengezogen vergißt, er vergißt; Imperf. ich vergaß, Conj. vergäße; Mittelw. vergessen; Imperat. vergiß; die Erinnerung einer gewußten oder gedachten Sache verliehren, sich dieselbe nicht wieder vorstellen oder vorstellen können.

1. Eigentlich, wo die Sache im Hochdeutschen gewöhnlich die vierte Endung bekommt. Es ist vergessen worden. Ich habe es längst wieder vergessen. Ein Wort, eine Sprache vergessen haben. Ich will es gewiß nicht vergessen. Ich habe vergessen es zu thun, an dich zu schreiben, es dir zu sagen. Man vergißt eine Person, wenn man nicht an sie denkt, entweder überhaupt, oder auch in besondern Fällen und Umständen. Über dem Spielen das Essen vergessen. Es wird mir sehr leicht über ihrem Herzen das Glück zu vergessen, Gell. Das vergißt sich leicht, wird leicht vergessen.

Im Oberdeutschen wird es sehr häufig mit der zweyten Endung der Sache gebraucht. Ich vergisse meines Schadens, Stryck. Welche Wortfügung nicht nur in der Deutschen Bibel häufig angetroffen wird. Gott hat mich lassen vergessen alles meines Unglücks, 1 Mos. 41, 51. Ich will meiner Klage vergessen, Hiob 9, 27; und so in hundert Stellen mehr, dagegen auch in einigen die vierte Endung gebraucht wird. Ich will deine Befehle nimmermehr vergessen, Ps. 119, 93. Sondern es wird selbige auch in der höhern und dichterischen Schreibart gebraucht.


Das der Vernunft vergißt, wie aller Sprachgesetze,

Uz.


Der seiner Wechsel selbst vergaß,

Haged.


Vergaß mit Lust der Herden,

Gell.


Hingegen die Ausdrückung der Sache mit dem Vorworte auf, welche gleichfalls im Oberdeutschen üblich ist, ist im Hochdeutschen völlig ungangbar. Sie vergaßen dabey auf das Feuer. Ich habe auf ihn vergessen. In einigen Gegenden gebraucht man dafür das Vorwort an, an etwas vergessen.

Ungewöhnlich ist der Gebrauch des Mittelwortes der gegenwärtigen Zeit in folgendem Falle: sie sind allein im Stande, mir (mich) das Andenken dieses Verlustes vergessend zu machen. Besser, mich ihn vergessen zu machen, im Infinitiv.

Wohl aber wird das Mittelwort der vergangenen Zeit, nach dem Beyspiele so vieler anderer, thätig gebraucht, da es denn auch als ein eigenes Beywort üblich ist, wo es denn ohne Ausnahme die zweyte Endung der Sache erfordert. Seiner Pflicht, seiner Schuldigkeit vergessen seyn. Ein Pflicht vergessener Mann. Gottes vergessen seyn. Wo es gemeiniglich den Nebenbegriff des vorsetzlichen Mangels der Erinnerung bey sich führet.


Wer will nun aller Scham dermaßen seyn vergessen,

Opitz.


Sie (die Dichtkunst)

Lacht alte Thoren weise und Schamvergeßne roth,

Dusch.


Da es denn auch wohl mit dem Hauptworte in manchen Fällen zusammen gezogen wird. Das Mittelwort der gegenwärtigen Zeit, ein pflichtvergessender, gottesvergessender Mensch, ist hier nicht so nachdrücklich, weil es nur auf die gegenwärtige Zeit, auf einen einzelnen Fall, gehet, vergessen aber die ganze Fertigkeit ausdruckt. In noch weiterm Verstande nennet man jemanden, welcher leicht etwas vergißt, im gemeinen Leben einen vergessenen Menschen, wofür doch vergeßlich üblicher ist. S. auch Vergessenheit. Daß vergessen übrigens auch im passiven Verstande, wie eigentlich alle Mittelwörtern der vergangenen Zeit, üblich ist, verstehet sich von selbst. Eine vergeßne Sache, die man vergessen hat.

[1044] 2. In einigen engern, theils figürlichen Bedeutungen. (1) Elliptisch sagt man, etwas vergessen, es bey jemanden vergessen, es mit zu nehmen, abzuhohlen u.s.f. vergessen. Man vergißt jemanden, wenn man dasjenige vergißt, was man in Ansehung seiner thun wollte. (2) Eine Beleidigung vergessen, den Unwillen darüber und gegen den Beleidiger fahren lassen. Es soll vergeben und vergessen seyn. Ich will dir es mein Tage nicht vergessen. (3) Sich vergessen, aus Mangel des Bewußtseyns seiner selbst und seines Verhältnisses gegen andere einen Fehler begehen, wie sich vergehen, aus Übereilung. Ich habe mich schon wieder vergessen. Ein Gott vergißt sich selbst im Zorn, Weiße. Wer sollte sich so vergessen!

Daher das Vergessen, welches doch seltener vorkommt. Noch ungewöhnlicher ist das Hauptwort die Vergessung.

Anm. Bey dem Kero erkezzan, bey dem Ottfried irgezzan, bey dem Notker irgezen, ergezen, agezen, wo auch Ageze, das Vergessen ist, bey dem Willeram aber schon vergezzen, im Nieders. vergeten, im Angelsächs. forgytan, im Engl. forget, im Schwed. förgäta. Das Stammwort ist das Schwed. gäta, Ißländ. gata, Angels. gytan, sich erinnern, ingleichen denken, eingedenk seyn, wovon noch die Niedersachsen ihr gissen, muthmaßen, haben, und womit auch unser Geist verwandt ist, S. dasselbe in der Anmerk. Im Angels. ist daher ondgytan, verstehen, erkennen. Ver hat also hier ein aufhebende oder destruirende Bedeutung. Ehedem wurde es auch im factitiven Verstande gebraucht, für vergessen machen. Diu blindi irgezzet in Gotes, die Blindheit macht, daß er Gottes vergißt. S. auch Vergiß.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1044-1045.
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