Verziehen

[1188] Verziehen, verb. irregul. S. Ziehen, welches in doppelter Gestalt üblich ist.

I. Als ein Activum, wo es nach Maßgebung sowohl der Partikel, als auch des Zeitwortes in verschiedenen Bedeutungen üblich ist. 1. Falsch ziehen, einen falschen Zug thun, als ein Reciprocum, besonders in gewissen Spielen. So verziehet man sich in dem Schachspiele, wenn man einen falschen Zug thut. 2. Ein Kind verziehen, es fehlerhaft erziehen, doch nur, in engerer Bedeutung, aus unzeitiger Nachsicht dessen Eigensinn überhand nehmen lassen, wodurch es sich von verzärteln unterscheidet. Ein verzogenes Kind. 3. Aus der gehörigen Lage ziehen, dessen höherer Grad durch das Intensivum verzerren ausgedruckt wird. Den Mund, das Gesicht, die Minen verziehen. Ein schöner Mund, der sich ein wenig spöttisch verziehet, ist nicht selten um so viel schöner; aber die Verziehung muß nicht bis zur Grimasse gehen, Less.


Mit stetem gezwungenen Lächeln

Und verzogenem Gesicht wird jede Sylbe begleitet,

Zach.


Die Gicht hat ihm alle Glieder verzogen. Ein Bret verziehet sich, wird von der Sonne verzogen, wenn es sich aus seiner Lage, aus seiner Gestalt ziehet, sich verwirft. 4. Wegziehen, in die Ferne ziehen; als ein Reciprocum, doch nur mit einigen Hauptwörtern. So sagt man von den Wolken, sie haben sich verzogen. Das Gewitter hat sich wieder verzogen. Ingleichen von einer Geschwulst. Die Geschwulst verziehet sich, auch wenn sie nach und nach völlig aufhöret, sich zertheilet. Die Schmerzen haben sich aus dem Rücken verzogen, haben sich zertheilt, verloren. 5. Verziehen machen, in der Bedeutung des folgenden Neutrius, die Gegenwart eines Dinges zurück halten, aufhalten; in welcher Bedeutung verzögern das Intensivum ist. Verzeuch (verziehe) nicht deinen Zorn, Jer. 15, 15. Verzeuch nicht die Gabe dem Dürftigen, Sir. 4, 3. Der Herr verzeucht nicht die Verheißung, 2 Petr. 3, 9.


Wenn ich nach verzognen (aufgeschobnen) Strafen

Seine Langmuth frech verwerfe.

Michael. der Dichter.


Indessen kommt diese Bedeutung im Hochdeutschen am seltensten vor.

II. Als ein Neutrum mit dem Hülfsworte haben, noch an einem Orte verharren, da man denselben verlassen wollte oder sollte; da es denn in der edlen Schreibart für die gemeinern warten, bleiben, sich aufhalten u.s.f. am üblichsten ist. Verziehen sie noch ein wenig warten sie noch ein wenig, bleiben sie noch ein wenig da. Ich kann unmöglich länger verziehen. Warum verzogst du hier? Hätte ich noch ein wenig verzogen, so hätte ich ihn angetroffen. Im Hochdeutschen ist es absolute, ohne Infinitiv am üblichsten. Die Intensiva davon sind zögern und zaudern, ungebührlich verziehen. In weiterer Bedeutung sagt man auch im Reciproco, die Sache verziehet sich, wenn sie langwierig wird. Ingleichen in gemeinem Leben unpersönlich. Es kann sich noch lange damit verziehen, es hat sich lange mit der Sache verzogen, welche Formen aber der edlern Schreibart fremd sind.[1188]

Daher das Verziehen, fast in allen Bedeutungen; die Verziehung ist nur in der dritten thätigen, der Verzug aber nur in der neutralen üblich, S. das letzte an seinem Orte.

In der Bedeutung des Neutrius scheint ver intensive, ziehen aber figürlich zu stehen.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1188-1189.
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