Wesen, das

[1508] Das Wêsen, des -s, plur. der doch nur in der einzigen concreten Bedeutung gebraucht wird, ut nom. sing. Da dieses Wort in seinen heutigen Bedeutungen eines der abstractesten ist, abstracte Begriffe aber erst durch die Länge der Zeit und Aufklärung aus concreten entstanden sind, so halte ich es der Natur der Sache gemäß, auch hier, so wie in andern ähnlichen Fällen, die anschaulichste Bedeutung, so fern sie sich noch auffinden lässet, zum Grunde zu legen, und von ihr stufenweise zu der abstractesten fortzuschreiten. Nach diesem Gesetze müssen die bekanntesten Bedeutungen dieses Wortes folgender Gestalt geordnet werden. 1. Geräusch, ohne Plural; eine noch im gemeinen Leben, besonders Oberdeutschlandes, übliche Bedeutung. Was ist das für ein Wesen? für ein Lärm. Das böse Wesen, die Epilepsie. In weiterer Bedeutung sagt man, jedoch auch nur im gemeinen Leben, viel Wesens von etwas machen, viel Geräusch, viel Aufhebens, viel Geschwätz. In noch weiterer Bedeutung ist Wesen Weitläufigkeit, besonders, unangenehme, lästige Weitläufigkeit. Es wir nicht viel Wesens brauchen, nicht viel Umstände. Wenn du mir des Wesens zu viel machst, so schreibe ich alles an, Weisse. Es scheinet, daß in Leidwesen, Wehklage, eben dieselbe Bedeutung der lauten Klage zum Grunde lieget. 2. Der Inbegriff mehrerer zusammen gehöriger Dinge Einer Art, doch für sich allein nur in dem Ausdrucke, das gemeine Wesen, die Verbindung einzelner Gesellschaften zur gemeinschaftlichen Beförderung der äußern Wohlfahrt, nach dem Lateinischen res publica. Am häufigsten ist diese Bedeutung in den Zusammensetzungen, das Hauswesen, Kriegeswesen, Forstwesen, Münzwesen, Jagdwesen, Fuhrwesen, Postwesen u.s.f. welche doch nicht nach Willkühr vermehret werden dürfen, indem diese Bedeutung schon zu den veralteten gehöret. Es scheinet, daß auch hier das mit der Mehrheit verbundene Geräusch der Grund der Benennung ist. 3. * Der Aufenthalt an einem Orte, besonders so fern er mit Handlungen verbunden ist, oder um des Gewerbes Willen geschiehet; eine veraltete Bedeutung, welche aber noch in der Deutschen Bibel häufig ist. Sein Wesen an einem Orte haben, sich daselbst aufhalten, sein Gewerbe daselbst treiben. 4. Das äußere Betragen eines Menschen, dessen Sitten; auch als ein Collectivum, und am häufigsten im gemeinen Leben und der vertraulichen Sprechart. Ein Mensch von einem stillen Wesen. Sein Wesen gefällt mir nicht, seine Sitten. Das traurige und eingeschränkte Wesen, das man in der Liebe annimmt. Er ist von einem wilden, ungestümen Wesen. 5. Die Art und Weise des Daseyns, der Zustand; auch ohne Plural, wie alle vorige, und nur mit einigen Verbis und in einigen Fällen. Etwas in baulichem Wesen, in seinem Wesen erhalten. 6. Das Daseyn, die Existenz; ohne Plural, und am häufigsten im Oberdeutschen. Das Schloß war schon in seinem Wesen, als der Krieg anging, war schon vorhanden.


Mein Wesen wird nicht bald gerathen

Auf seines Bleibens letzten Tag,

Opitz.


d.i. ich werde so bald noch nicht sterben. Doch sagt man auch im Hochdeutschen, einem Dinge das Wesen geben, das Daseyn. 7. Die wahre, wirkliche Beschaffenheit eines Dinges, im Gegensatze des Scheines. Den Schein, aber nicht das Wesen der Tugend haben. 8. Das Wesen eines Dinges, das, was es von allen andern unterscheidet, was es zu dem macht, was es[1508] eigentlich ist, was in allen Fällen, und unter allen Veränderungen bey demselben angetroffen wird, im Gegensatze des Zufälligen; eine sehr abstracte Bedeutung, welche nach dem Lateinischen essentia gebildet worden. Man muß auf das Wesen sehen, nicht auf das Zufällige. Das Wesen Gottes, der Umfang aller seiner Vollkommenheiten. 9. Ein selbstständiges Ding, an welchem man weiter nichts, als diese Selbstständigkeit, bezeichnen will, ohne Rücksicht, ob es körperlich ist, oder nicht, eine gleichfalls sehr abstracte Bedeutung, und zugleich die einzige, in welcher es einen Plural leidet. Alle Wesen in der Welt. Gott ist ein unendliches Wesen, die Seele ist ein geistiges Wesen. Alle Körper sind vergängliche Wesen.

Anm. Es ist eigentlich der sehr alte Infinitiv von dem Verbo seyn, der schon bey dem Ulphilas wisan, im Isidor und Kero wesan, im Angels. wesan, und noch jetzt im Nieders. wesen lautet, und wovon unser gewesen noch ein Überbleibsel ist. S. Seyn. Das Griech. εσεσθάι, ουσιά, und das Lateinische esse sind in ihren Quellen unstreitig auch damit verwandt.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1508-1509.
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