Die Mediceische Venus

[104] Die Mediceische Venus, eins der größten Meisterstücke der alten Bildnerei, das auf uns gekommen, ist gewiß jedem Liebhaber der schönen Künste aus Zeichnungen und Gypsabgüssen bekannt. Die Frage ist: in welchem Moment (in welcher Situation) mag sich wohl der Künstler dieselbe gedacht haben? Heyne glaubt, in dem Moment, wie sie aus dem Bade steigend jemand gewahr wird; v. Ramdohr, wie sie aus dem Meere hervorgeht, auf welche Art die Fabel ihre Geburt schildert; der Verfasser der »Blicke in das Gebiet der Künste und der practischen Philosophie,« wie sie vor dem kunstrichterlichen Paris steht. Der Verfasser dieses Artikels wagt diesen drei Meinungen, welche in ihren Gründen zu beurtheilen hier zu weitläuftig sein würde, noch eine vierte beizufügen: wie, wenn man sich unter dem Paris (welcher übrigens, so viel ihm bekannt, die drei Göttinnen nicht einzeln, sondern zusammen musterte) überhaupt den Zuschauer dächte? wenn der Künstler sich die Göttin in gar keinem besondern Moment gedacht, sondern sie ohne weitere Rücksicht in ihrer Schönheit hätte darstellen wollen? Die vorgehaltenen Hände sind kein Grund dagegen, das Gefühl der Sittlichkeit machte sie in jeder Rücksicht nothwendig.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809, S. 104.
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