Cassandra

[189] Cassandra, auch Alexandra genannt (Geschichte und Mythol.), Tochter des Priamus und der Hecuba, wurde mit ihrem Zwillingsbruder, Helenus, als Kind in den Tempel des Thymbräischen Apoll, unweit Ilium, gebracht, und da man sie zu lange hier gelassen hatte, so blieben sie die Nacht schlafend im Tempel, indem mau ihnen ein Lager von Lorbeerzweigen machte. Den andern Morgen fanden die Ammen zwei Schlangen bei den Kindern, welche ihnen die Ohren leckten; jene erschraken, fanden aber bald, daß die Kleinen unbeschädigt waren; ja sie bemerkten in der Folge, daß ihr Gehör von der Zeit an weit schärfer geworden, so daß sie die Stimme der Götter vernehmen und wahrsagen konnten. So hielt sich nun Cassandra häufig im Tempel des Apollo auf, und da sie endlich zu einer aufblühenden Schönheit ward, so fand Apollo – oder vielmehr sein Oberpriester – so viel Geschmack an ihr, daß er ihr gegen das Versprechen, seine Liebe zu begünstigen, alle Geheimnisse der prophetischen Kunst offenbarte. Als nun aber in der Folge des Gottes Wünsche von der Cassandra nicht befriedigt wurden, wurde dieser so erzürnt, daß er nun den Fluch auf alle ihre Wahrsagungen legte, so daß ihre Unglücksprophezeihungen niemals bei Jemand Glauben fanden, und da sie von nun an nichts als Unglück weissagte, so wurde sie von ihren Eltern eingesperrt. Den Paris warnte sie; bei Trojas Belagerung (s. d. Art.) verkündigte sie beim Hereinziehen des Pferdes Unglück – umsonst! Man glaubte ihr nicht. Als nun Troja erobert wurde, und Cassandra mit den übrigen Jungfrauen sich zum Tempel der Minerva flüchtete, riß Ajax in seiner wilden Raserei die Cassandra vom Altar weg, schändete sie auf der Stelle, und schleppte sie dann mit auf den Rücken gebundenen Händen zu den übrigen Sklavinnen hin, wo sie dann am Ende bei Vertheilung der Bente dem Agamemnon zu Theil ward, der sie als Sklavin und Geliebte mit nach Hause nahm, wo sie von der Clytemnästra ermordet [189] wurde. Vom Agamemnon soll sie die Zwillingssöhne, Teledamus und Pelops, geboren haben. – Uebrigens ist dieser Raub der Cassandra als eine der verruchtesten Thaten bei den Alten sehr berüchtigt gewesen, und hat den Dichtern sowohl, als den bildenden Künstlern reichen Stoff an die Hand gegeben. Auch mußten die Lokrer, die Landsleute des Ajax, durch Sturm und Ungewitter, und durch eine nachher in ihrem Lande entstandene Pest viele Jahre dafür büßen.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 7. Amsterdam 1809, S. 189-190.
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