Großbritannien

[410] * Großbritannien. Kein europäischer Staat hat, seit dem Ausbruche des französischen Revolutionskriegs, mit Frankreich hartnäckiger gekämpft, als Großbritannien; beide haben einander gegenseitig die Hauptquellen ihres inneren Wohlstandes, Frankreich diesem den europäischen, Großbritannien aber Frankreich den westindischen Handel, so wie den Seehandel überhaupt, völlig abzuschneiden gesucht; und noch immer ist der Riesenkampf zwischen beiden nicht ausgekämpft. Großbritannien steht beinahe ganz allein, da die meisten europäischen Nationen sich gegen dasselbe erklärt haben; aber noch immer behauptet es seine Verfassung und zu weit getriebenen egoistischen Grundsätze. Es hat empfindliche Schläge erlitten; allein es hat sie auch erwiedert, und noch sind seine wesentlichen Streitkräfte – seine Reichthümer und seine Seemacht – ungeschwächt. Die empfindlichsten Schläge, welche Großbritannien trafen, waren folgende: Im Jahr 1803 verlor es das Churfürstenthum Hannover (s. d. A.); 1805 litt es durch die französischen Seeunternehmungen, besonders durch die Unternehmung des Admirals Missiessi zu Anfange desselben Jahres gegen die Insel Dominica und mehrere andere westindische brittische Inseln, durch welche 250 Kauffarteischiffe verloren gingen und gegen 5 Millionen Livres von den Franzosen auf diesen Inseln erbeutet wurden. Eben so wurde im Juli desselben Jahres eine englische Kauffarteiflotte, die von der westindischen Insel Antigua zurückkehrte, von den Franzosen genommen und verbrannt; und eine andere französische Flotte, unter dem Admiral Lallemand im Juli aus Rochefort nach Westindien segelnd, kehrte erst am 24. December mit 1600 Gefangenen und vieler Beute nach Rochefort zurück, nachdem sie ein englisches Kriegsschiff, 3 Corvetten und 42 Kauffarteischiffe erobert hatte. Noch empfindlicher war für Großbritannien das französische Decret vom 21. November 1806, durch welches die brittischen Inseln für blokirt erklärt wurden und ein zweites vom 7. December 1807, durch [410] welches die brittischen Länder und alle ihre Colonien in den Blokadezustand zu Wasser und zu Lande, jedes Schiff, von welcher Nation es sei, das aus den englischen Häfen kommt, oder in dieselben bestimmt ist, für eine gute Prise erkläret, jedes Schiff, das sich einer Reise nach England, oder einer Untersuchung durch englische Schiffe unterwirft, oder an die englische Regierung irgend eine Abgabe bezahlet, als confiscationsfähig erkläret wurde. Allein nichtsdestoweniger hat Großbritannien seit dieser Zeit seine Eroberungen und Seemacht beträchtlich vermehret und im Gegentheile die Seemacht seiner Feinde zum Theil beträchtlich entkräftet. Ohne jene Eroberungen beträgt der Umfang oder Flächeninhalt seiner Colonien – die besonders durch Tippo Saibʼs (s. d. A.) Sturz und durch den Frieden zu Amiens vermehrt wurden – funfzehn Mal mehr, als Großbritannien, oder die drei vereinigten Königreiche zusammen genommen. Denn die Größe von diesen giebt man auf 5948, nach andern auf 6100 Quadratmeilen, die Größe seiner Colonien auf 96,000 Quadratmeilen an. Seine Seemacht ist die größte in der Welt und bis jetzt noch immer im Steigen. Im Jahr 1701 bestand sie aus 194 Schiffen – unter diesen 21 Linienschiffe – und 31 andern Fahrzeugen, die alle zusammen 10,078 Kanonen und 53,921 Matrosen führten; im Jahr 1797 aus 124 Linienschiffen von 64 – 110 Kanonen, zusammen aus 503 Kriegsfahrzeugen mit 30,000 Kanonen und 84,000 Matrosen; im Jahr 1803 aus 656 Kriegsfahrzeugen, nemlich: 192 Linienschiffen von 64 – 120 Kanonen, 25 sogenannten 50 Kanonenschiffen (von 56 bis 60 Kanonen), 200 Fregatten von 24 bis 44 Kanonen und 239 Sloops (spr. ßluhps), Briggs etc. Die Schiffe und Fregatten allein führten zusammen über 23,000 Kanonen. Im Jahr 1808 bestand dessen Seemacht zusammen aus 1108 Kriegsfahrzeugen, und zwar 225 Linienschiffen von 64 – 120 Kanonen, 38 Schiffen von 40 – 50 Kanonen, 258 Fregatten, 302 Sloops und 257 Briggs. Die Zahl der Matrosen beträgt gegen 180,000. In eben dem Grade, in welchem Großbrittanniens Handel und Seemacht stieg, – im J. 1789 [411] betrug die Einfuhr über 17, im J. 1801 auf 32 Mill. Pfund; die Ausfuhr hingegen 1789 über 19, und im J. 1801 – 42,242,000 Pfund – in eben demselben stiegen auch die jährlichen Abgaben und die Nationalschuld dieses Staates. Unter des jüngern Pittʼs Staatsverwaltung vermehrten sich die erstern von 12 bis auf 32 Millionen Pfund Sterling, die letztere von 232 bis auf 560 Millionen; im Jahr 1807 betrug sie über 586½ Million. Man muß staunen, wenn man erwägt, daß Großbritannien nur zur Bestreitung der Zinsen dieser ungeheuren Schuld jährlich fast 30 Millionen Pfund Sterling zu entrichten hat – eine Summe, die die Staatseinkünfte des ungeheuren russischen Reichs beinahe zwei Mal übersteigt und nur um sehr wenig geringer ist, als die ganzen Staatseinkünfte Frankreichs. Allein nichtsdestoweniger ist Großbritannien einer der reichsten und vielleicht der reichste Staat von Europa, und da seine Gläubiger auch seine Unterthanen sind, deren eignes Interesse die Erhaltung des Staatscredits fordert; so verliert schon deshalb diese Schuldenlast einen Theil ihrer Furchtbarkeit Da überdies Großbritannien der Handel, außer Europa, durch die übrigen Theile der Erde offenstehet, da es theils durch seinen unermüdeten Speculationsgeist, theils durch seine Seemacht in den Stand gesetzt wird, sich, nach den Zeitumständen, neue Hülfsquellen zu eröffnen; so scheint das Ende des Kampfs zwischen ihm und Frankreich, dafern ihn blos Krieg endigen soll, noch ziemlich entfernt zu sein.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 7. Amsterdam 1809, S. 410-412.
Lizenz:
Faksimiles:
410 | 411 | 412
Kategorien: