Gewerkvereine

[678] Die große Ausdehnung des Gewerkvereinswesens in neuester Zeit zeigt nachstehende Tabelle, die dem für 1903 vom internationalen Sekretär der gewerkschaftlichen Landeszentralen erstatteten Bericht entnommen ist. Ermittelt wurden hiernach:

Gewerkvereine. Ausdehnung des Gewerkvereinswesens.
Gewerkvereine. Ausdehnung des Gewerkvereinswesens.

Die Angaben dieser Tabelle, die sich nicht durchweg auf den gleichen Zeitpunkt beziehen, lassen sich durch weitere und zum Teil noch neuere Daten ergänzen. Das Wachstum des Gewerkvereinswesens, welches sie erkennen lassen, beruht zum Teil auf der Erstarkung der bereits seit längerm bestehenden Verbände, zum Teil aber auch darauf, daß in steigendem Maße Arbeiterkreise in die Gewerkvereinsbewegung eintreten, welche früher der Organisierung wenig zugänglich waren, wie landw. und namentlich auch ungelernte Arbeiter.

Was insbes. das Deutsche Reich anbelangt, so ist auch nach Abschluß der bezeichneten Tabelle ein weiteres Anwachsen der G. zu beobachten. Nach wie vor ist dort bei der Gewerkvereinsbewegung zwischen mehrern Richtungen zu unterscheiden, von welchen die stärkste jene der sozialdem. Gewerkschaften ist. Der Hauptanteil dieser Gruppe, als deren Zentralausschuß seit 1890 die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands tätig ist, entfällt auf die ganze Berufe oder Berufsgruppen umfassenden Zentralorganisationen, neben welchen die nicht auf der Sonderung der Berufe aufgebauten sog. Ortsvereine an Bedeutung ganz zurücktreten. Das Wachstum der Gewerkschaften geht aus nachfolgender Übersicht hervor:


Gewerkvereine. Wachstum der Gewerkschaften.
Gewerkvereine. Wachstum der Gewerkschaften.

Unter den Mitgliedern der Zentralverbände befanden sich 1094: 48.604 weibliche.

Die Zentralverbände hatten 1904 eine Jahreseinnahme von 20,19, eine Jahresausgabe von 17,73 einen Kassenbestand (am Ende des Jahres) von 16,10 Mill. M. Von den Ausgaben der Verbände entfielen 1904 auf: Verbandsorgan 1,09, Streiks im Beruf 5,71, Arbeitslosenunterstützung 1,59, Krankenunterstützung 1,41 Mill. M etc.

Reiseunterstützung gewährten 46, Arbeitslosenunterstützung 38, Krankenunterstützung 31, Invalidenunterstützung 5, Unterstützung in Sterbefällen 39 Verbände. Der größte der Verbände ist der der Metallarbeiter (1904: 176.221 Mitglieder), es folgen jene der Maurer (128.850), der Holzarbeiter (97.105), der Bergarbeiter (75.364) etc.

Für das Zusammenwirken der Gewerkschaften kommt neben der Verbandsbildung auch die auf 1889 zurückgehende Gründung von Gewerkschaftskartellen zur Verbindung der Vereine einer Stadt in Betracht. Ende 1903 bestanden 413 Kartelle, an welche (26 ausgenommen, die keine Angaben machten) 5207 Organisationen mit rund 750.000 Mitgliedern angeschlossen waren; sie unterhalten Bibliotheken, Lesezimmer, Gewerkschaftshäuser, besorgen statist. Angelegenheiten, wie jetzt namentlich Arbeitslosenzählungen, und organisieren die Streikunterstützung, für die sie bes. im Wege von Sammlungen Fonds aufbringen (1903: 778.438 M Streikauslagen). Nachdem solche Kartelle bereits Beschwerde- und Aufsichtskommissionen geschaffen hatten, entstanden (seit 1894) sog. Arbeitersekretariate zur kostenlosen Erteilung von Auskünften in Angelegenheiten der Arbeiterversicherung und bei gewerblichen Streitigkeiten, zur Vornahme von Erhebungen, Organisation der Arbeiter u. a. Unter werktätiger Mitwirkung der Gewerkschaften breitete sich die Einrichtung rasch aus, 1904 bestanden bereits 50. 1903 wurde in Berlin als Zentralinstanz ein Zentralarbeitersekretariat geschaffen, welches durch die Generalkommission der Gewerkschaften unterhalten und überwacht wird und namentlich zur Vertretung der von Arbeitern beim Reichsversicherungsamt anhängig gemachten Klagen dient.

Der Verbindung der Gewerkschaften untereinander dienen die Gewerkschaftskongresse, auf welchen insbesondere die Behandlung der auf die gewerkschaftliche Politik bezughabenden allgemeinen Fragen erfolgt (5. Kongreß in Köln 1905).

Eine stete Entwicklung nehmen auch die sog. christl. Gewerkschaften, für deren Verbindung untereinander teils Kongresse, teils ein Gesamtverband und ein gemeinsames Generalsekretariat sorgen. Sie dienen zur Verbesserung der Lage der Arbeiter, unter Festhaltung religiöser und nationaler Grundsätze; in jüngster Zeit wird namentlich auch ein stärkerer Anschluß evang. Arbeiter beobachtet. Im Durchschnitt des Jahres 1904 betrug der Mitgliederstand 207.484. Am 1. April 1905 war dieser bereits auf 274.860 gestiegen, wovon auf die dem Gesamtverband angeschlossenen Verbände 195.401 entfielen; der größte dieser Verbände ist jener der Bergarbeiter mit 80.080, der größte der dem Gesamtverband nicht angeschlossenen Organisationen der deutsche Eisenbahnarbeiterverband mit 45.569 Mitgliedern. Es erschienen 1904: 24 christl. Gewerkschaftsblätter in einer Auflage von 312.000 Exemplaren.

Die Hirsch-Dunckerschen G. hatten 1904: 111.889 Mitglieder aufzuweisen; ihr stärkster Verein ist der der Maschinenbau- und Metallarbeiter (43.627). Sie widmen der Entwicklung ihrer Hilfskassen große Aufmerksamkeit.

Die Mitgliederzahl der sog. unabhängigen G. endlich wird für 1904 auf 74.458 berechnet.

Alle Gruppen zusammengerechnet, ergibt sich somit 1904 ein Mitgliederstand von 1.406.625 (d. i. ein Zuwachs von 189.794 im Vergleiche mit dem Stande im J. 1903).

In Österreich wurden bei einer durch das arbeitsstatist. Amt für 1900 durchgeführten Erhebung 6931 Arbeitervereine (die mit polit. Zwecken ausgenommen) ermittelt. Von diesen entfielen auf die mehr oder weniger mit ge- werkschaftlichen Aufgaben befaßten Gruppen der Fachvereiene 2343, der allgemeinen Arbeitervereine 1490, Bildungsvereine 1278; der Rest verteilt sich auf Vereine zu wirtschaftlichen, Geselligkeits- oder Unterstützungszwecken. Der gewerkschaftlichen Organisation, welche sozialdem. Charakter und in den Gewerkschaftskommissionen in Wien und Prag eine zentrale Zusammenfassung besitzt, gehören insgesamt 2692 Vereine mit 144.358 Mitgliedern an. Die Vereine kath. oder christl.-sozialer Richtung zählten 87.694, die der deutsch-nationalen 15.503, die der böhm.-nationalen Richtung 16.141 Mitglieder. Der Rest der Vereinsmitglieder entfällt auf Vereinigungen, die keiner der genannten Organisationen angehören. Was insbes. die Fachvereine anbelangt, so gehört der größte Teil (nämlich 1688 Vereine mit 98.682 Mitgliedern) der gewerkschaftlichen Organisation an; insgesamt zählten sie 147.804 Mitglieder, wovon 45,6 Proz. auf die Arbeiter der graphischen Gewerbe, 11,5 auf die des Verkehrswesens, 11,3 der Papier-, Lederindustrie etc., 7,7 der Industrie der Steine, Erden und des Glases etc. entfielen. 20. Proz. der Fachvereinsmitglieder waren weiblichen Geschlechts. 3827 Arbeitervereine lieferten Angaben über ihr Vermögen nach dem Stande von Ende 1903. Die Summe der Aktiven betrug 21,9 Mill. Kronen (davon 12,3 Mill. bei den Unterstützungsvereinen), denen Passiven im Werte von 3,6 Mill. Kronen gegenüberstanden. Eine annähernde Berechnung der 1900-4 vorgekommenen Veränderungen ergibt für Ende 1904 einen Mitgliederstand der Fachvereine von 300.186 Personen, davon 187.920 bei den sozialdem. Vereinen. In Ungarn sind die G. teils durch Landes-und teils durch Ortsorganisationen vertreten, namentlich erstere sind im Wachsen begriffen. 1902 betrug der Mitgliederstand aller dieser Organisationen erst etwa 10.000, er hatte sich bis Mitte 1904 auf 52.410 gesteigert, wovon 44.758 auf die 15 Landesorganisationen entfielen.

In Großbritannien wurden für Ende 1903: 1166 G. mit 1.902.308 Mitgliedern ermittelt, darunter 119.416 weibliche; gegenüber den vorhergehenden Jahren sind nur geringe Schwankungen zu verzeichnen. Auf 100 der bedeutendsten Vereine entfallen allein 1.133.640 Mitglieder. Von ihren Ausgaben kamen 9,1 Proz. auf Streikunterstützung, 68,4 auf Arbeitslosen-, Krankenunterstützung u. dgl., 22,5 auf Verwaltungskosten und Verschiedenes. Ihre Einnahmen betrugen 1903 im ganzen 2,07, die Ausgaben 1,89, der Vermögensstand am Schlusse de Jahres 4,55 Mill. Pfd. St. Von 1892-1903 hatten diese Vereine nicht weniger als 18,7 Mill. Pfd. ausgegeben, davon 4,2 Mill. oder 22,3 Proz. für Arbeitslosenunterstützung. Der Rest verteilt sich auf Streikunterstützung mit 3,4 Mill. Pfd. oder 18 Proz., auf die sonstigen Unterstützungen (Kranken-, Unfall-, Altersunterstützung und Beerdigungskosten mit 7,3 Mill. Pfd. oder 39,3 Proz.), endlich auf Verwaltungskosten und Verschiedenes mit 3,8 Mill. Pfd. oder 20,4 Proz.

Sogenannte Trade-councils, Ortsverbände von G., oft der verschiedensten Berufe, bestanden Ende 1903: 204, Föderationen waren 90 mit etwa 1.727.000 Mitgliedern vorhanden; die größten hiervon sind der Allgemeine Verband (General federation) mit 403.000 Mitgliedern, der Verband der Bergleute (Miners federation) mit 340.000 Mitgliedern, der Verband der Schiffs- und Maschinenbauer mit 240.000 Mitgliedern.

In Frankreich betrug 1. Jan. 1904 die Zahl der Arbeiterberufsvereine (Syndicats ouviers) 4227 mit 715.576 Mitgliedern (darunter 59.748 Frauen). Daneben gibt es noch eine größere Zahl, die nicht nach dem Syndikatsgesetz, wie die eben genannten, vereinigt sind. Für das Zusammenwirken der Syndikate kommen in Betracht die sog. Unionen (1904: 156 für die Arbeitervereine unter Teilnahme von 3418 Vereinen), dann die Arbeitsbörsen, in welchen Unionen ihren Sitz haben, Vorträge veranstaltet werden, Arbeit vermittelt wird. Ihre Zahl war 1904: 111, der ihnen angeschlossenen Syndikate 2121. Nach wie vor wurden die Arbeitsbörsen durch zahlreiche öffentliche Körperschaften mit Geld unterstützt.

Für Belgien wurde die Gesamtstärke der Arbeiterfachorganisationen Ende 1901 auf 132.000 Personen berechnet, seitdem soll eine Zunahme der Organisationen stattgefunden haben. Den größten Anteil an der Gesamtziffer wiesen die der Commission syndicale du parti ouvrier angeschlossenen sozialistischen Organisationen auf (etwa 76.400); daneben gab es Fachvereine christl. und liberaler Richtung, sowie neutrale Verbindungen.

Für die Organisation des Arbeiterstandes in Italien sind von besonderer Bedeutung die sog. Arbeitskammern (Camere del lavoro), welche die Arbeiterverbände, sowie unorganisierte Arbeiter ihres Bezirkes vereinigen und in mancher Beziehung die gewerkschaftliche Organisation fördern oder ersetzen. 1904 bestanden (nach einer Statistik des ital. Arbeitsamtes) 90 Kammern, bez. Filialen von solchen; die größte Kammer ist die Mailänder (1904 mit 111 Sektionen und 21.000 Mitgliedern). Daneben macht sich auch das Bestreben geltend, gewerkschaftliche Zentralverbände zu schaffen. 1904 bestanden 24 solche Verbände mit 205.362 Mitgliedern; außerdem gab es Landarbeiterorganisationen mit 101.200 Mitgliedern.

In Schweden begann die eigentliche Gewerkschaftsbewegung im Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrh. Mit der Zunahme der Fachvereine machte sich auch der Bedarf nach einer Verbindung der Vereine eines Faches geltend; 1898 wurde eine Landesorganisation gegründet; an ihrer Leitung ist der Vorstand der sozialdem. Arbeiterpartei beteiligt. 1903 waren ihr 27 Verbände mit zusammen 901 Vereinen und Abteilungen und 48.900 Mitgliedern angeschlossen. Mit Einschluß der der Landesorganisation nicht beigetretenen Fachvereine gab es 1903 insgesamt 1425 Vereine mit 68.500 Mitgliedern.

In Norwegen beginnt seit Mitte der achtziger Jahre eine stärkere Organisationsbewegung, insbes. bildet sich eine Reihe von Landesorganisationen, deren Zahl sich Ende 1903 auf 15 belief. Ihr Mitgliederstand war etwa 15.000. Daneben gibt es noch eine Reihe von Vereinen außerhalb der erwähnten Landesorganisationen.

In Dänemark betrug 1902 die Gesamtzahl der an der Zentralorganisation »Die Vereinigten Fachverbände« teilnehmenden Arbeiter 72.122, die der außerhalb dieser stehenden Vereine 24.352.

Der Mitgliederstand der Arbeiterorganisationen in den Ver. Staaten von Amerika wurde für die Mitte von 1901 auf 1.400.000 berechnet, seitdem soll er noch erheblich zugenommen haben, so daß er 1904 bereits auf etwa 21/2 Mill. geschätzt wird. Von hervorragender Bedeutung ist die American federation of labor, die eine Zentralisation einer großen Anzahl örtlicher, nationaler, ja durch Einbeziehung von Arbeitern in Mexiko und Kanada internationaler Vereinigungen darstellt; ein anderer Verband der Organisationen, »die Ritter der Arbeit«, früher von großem Einfluß, spielt gegenwärtig keine große Rolle mehr. 1902 wurde die American labor-union gegründet; sie unterscheidet sich von der früher erwähnten Föderation auch dadurch, daß sie für eine polit. Tätigkeit im Sinne der Sozialdemokraten eintritt.

Eine kräftige Entwicklung weisen auch die G. in verschiedenen Gebieten von Australien auf; in Neusüdwales z. B. bestanden 1903: 130 Arbeiterorganisationen mit über 70.000 Mitgliedern. Ihre Bedeutung liegt weniger in der Ausbildung von Kasseneinrichtungen, die vielmehr häufiger besondern Versicherungsvereinen überlassen werden, als in dem Einflusse, den sie auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen ausüben.[678]

Quelle:
Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 1. Leipzig 1911., S. 678-679.
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