Epikuros

[154] Epikuros, geb. 342 oder 341 v. Chr. in dem Athenischen Gaue Gargettos (oder in Samos?) als Sohn des Lehrers Neokies, wurde in Samos erzogen, war dort Schüler des Demokriteers Nausiphanes, lehrte in Mytilene und Lampsakos und begründete 306 eine eigene Schule in Athen, in einem Landbaus, dessen Garten die Stätte der Unterredungen der Epikureer bildete, die zu einer Art Freundschaftsbund sich vereinigten und eine heitere Geselligkeit pflegten, die von den Ausschweifungen, die spätere »Epikurerer« berüchtigt machten, nichts aufwies, trotzdem auch Frauen dazu gehörten. E. starb 271 (oder 270). Zu den Epikurern gehören: Metrodoros aus Lampsakus, Hermarchos, Polyainos, Timokrates, Kolotes, Polystratos, Apollodoros, Zenon von Sidon, Diogenes von Tarsos, Philodemos, T. Lucretius Carus u. a.

Von den vielen (angeblich 300) Schriften des E. sind nur Fragmente erhalten, außerdem eine Zusammenstellung der Hauptlehren in der Art, wie sie E. seinen Schülern zum Auswendiglernen gab (bei Diogenes Laërtius X). Fragmente aus den 37 Büchern peri physeôs sind seit Ende des 18. Jahrh. aus Papyrusrollen in Herkulanum veröffentlicht worden: Herculanensium voluminum quae supersunt, I, 1793-1855; II, 1861-1876. Epicuri Fragmenta, ed. Orellius, 1818; ed. Usener (Epicurea), 1887.

E. erneuert einerseits die mechanistisch-atomistische Weltanschauung Demokrits, anderseits die Ethik der Kyrenaiker. Bei ihm ist die Philosophie aufs Praktische gerichtet, sie soll uns eine gesicherte, von aller Unruhe und allem Drucke des Aberglaubens freie Lebensauffassung geben; sie ist vernunftvolles Streben nach Glückseligkeit (tên philosophian einai logois kai dialogismois ton eudaimona bion peripoiousan). Sie gliedert sich in Physik, Ethik und »Kanonik« (Logik und Erkenntnislehre), die Lehre von den Normen (kanônes) der Wahrheit und Wirklichkeit. In der Erkenntnislehre ist E. Empirist, ja Sensualist. Die Basis aller Erkenntnis ist die unmittelbare Gewißheit, Evidenz (enargeia) der Sinneswahrnehmung, aus der alle Begriffe entspringen (hai epinoai pasai apo tôn aisthêseôn gegonasi... pas gar logos apo tôn aisthêseôn êrtêtai). Die Wahrnehmung ist immer wahr, sie kann durch nichts widerlegt werden, denn auch die Vernunft muß, um etwas als wahr zu erweisen, auf die Wahrnehmung rekurrieren. Die Wahrnehmung und deren Evidenz ist das Kriterium der Wahrheit, das Gefühl das Kriterium des Handelns. Insofern auch Einbildungsvorstellungen uns erregen, haben sie ebenfalls eine Wirklichkeit. Die Vorstellung (prolêpsis) definiert E. als die Erinnerung an das wiederholt Wahrgenommene (katholikên noêsin enapokeimenên, toutesti mnêmên tou pollakis exôthen phanentos). Durch die Fortdauer der Eindrücke in uns[154] entsteht die Meinung (doxa) oder Annahme (hypolêpsis), welche (je nach dem Zeugnis der Wahrnehmung) richtig oder falsch ist. Über Induktion und Analogie findet sich bei Philodemos (Peri sêmeiôn kai sêmeiôseôn; vgl. Gomperz, Herkulanische Studien l, 1865) manches Richtige.

In der Physik betont E. (wie Demokrit), daß aus nichts nichts wird und daß nichts zu nichts wird. Alles Wirkliche ist, soweit es nicht der leere Raum ist, körperlich (Materialismus): to pan esti sôma. Ein Körper ist das dreidimensional Ausgedehnte, Widerstand Leistende (to trichê diastaton meta antitypias), die Existenz der Körper verbürgt uns die Wahrnehmung. Die Körper sind Komplexe (synkriseis) von Atomen (atoma kai ametablêta). Die Eigenschaften der Atome, deren Anzahl (aber nicht Formen) unendlich sind, sind Größe, Gestalt und Schwere (baros). Alles in der Welt geschieht streng kausal, rein mechanisch, ohne Eingreifen übernatürlicher Kräfte und ohne Zweckursachen. Anfangs bewegten sich die Atome mit gleicher Geschwindigkeit durch den leeren Raum vermöge ihrer Schwere in gerader Richtung, die ihnen natürlich ist (»ferri deorsum suo pondere ad lineam, hunc naturalem esse omnium corporum motum«, Cicero, De finib. I, 6). Die Mannigfaltigkeit des Geschehens und die Bildung von Atomkomplexen erklärt E. durch die Annahme einer willkürlichen (zufälligen) geringen Entfernung vom geraden Falle, wodurch die Atome zusammenstoßen, Wirbelbewegungen und Körper (bezw. Welten) entstehen (kineisthai ta atoma tote men kata stathmên tote de kata parenklisin. »Declinare dixit atomum perpaulum, quo nihil posset fieri minus; ita effici complexiones et copulationes et adhaesiones atomorum inter se«, Cicero, de finib. I, 18; »decellere paulum«, Lucrez, de rer. nat. II, 217 ff.; »declinando«: II, 253 ff.). Der Raum muß unendlich sein, unendlich ist auch die Anzahl der Welten (to pan apeiron esti; kosmoi apeiroi eisin). Irgend welche Vorsehung oder Zweckbestimmung gibt es nicht; auch das Zweckmäßige ist Produkt des Mechanismus, das Erhaltungsgemäße. Die Götter kümmern sich nicht um den Lauf der Welt und um die Schicksale der Menschen, erhaben über alles Leid führen sie ein seliges Leben in den »Intermundien« (Zwischenwelt); sie bestehen aus den feinsten Atomen. Wir haben sie nicht zu fürchten, sondern ehrfurchtsvoll zu bewundern.

Die Organismen sind durch Urzeugung entstanden (Lucrez, de rer. nat. II, 843 ff.). Die Seele ist materiell, eine, aus feinsten Atomen bestehende, den Leib durchdringende Substanz (sôma leptomeres par holon to athroisma paresparmenon... ex atomôn autên synkeisthai leiotatôn kai strongylôtatôn, pollô tini diapherousôn tôn tou pyros: also die Seelenatome sind von den Feueratomen verschieden; vgl. Demokrit). Die Seele enthält etwas Luftartiges (ek poiou aerôdous). Eine Unsterblichkeit gibt es nicht, sondern nach dem Tode zerstreuen sich die Seelenatome. Der Tod braucht uns nicht zu kümmern, denn wir sind dann nicht mehr da und solange wir leben, ist der Tod nicht da (ho thanatos ouden pros hêmas, vgl. Cicero, Tusc. disp. I u. Cato maior 18, 66). Die Empfindung erklärt E., ähnlich wie Demokrit, durch »Ausflüsse« und »Bilderchen« (eidôla, typoi, »rerum simulacra«), welche von den Körpern ausgehen und durch die Luft zur Seele dringen (vgl. Lucrez, de rer. nat. IV,[155] 26 ff.; 720 ff.). Von der (motorischen) Vorstellung geht der Wille aus (Lucrez, de rer. nat. IV, 878 ff.). Eine psychologisch-ethische Willensfreiheit besteht (to par hêmin adespoton), indem das vernünftige Handeln unser aktives Werk ist (»sua cuique voluntas principium dat«, »esse in pectore nostro quiddam quod contra pugnare obstareque possit«, Lucrez, de rer. nat. II, 266 ff.).

Die Ethik basiert E. auf das Prinzip der Lust, also auf den Hedonismus. Die Lust ist Prinzip und Ziel des glücklichen Lebens (hêdonên archên kai telos legomen einai tou makariôs zên); sie ist das erste, unserer Natur gemäße Gut (tautên gar agathon prôton kai syngenikon egnôken). An sich ist keine Lust schlecht (oudemia kath' heautên hêdonê kakon). Ein wahres Gut ist aber nur die Lust in der Ruhe (katastêmatikê hêdonê), jene Lust, der keine Schmerzen folgen, denn das Fehlen von Unlust, Schmerz u. dgl. ist das eigentliche Ziel (mête algein kata sôma, mête tarattesthai kata psychên. – toutou gar charin hapanta prattomen, hopôs mêt' algômen mête tarbômen). Die Abmessung (symmetrêsis) der Lust und deren Folgen ist Sache der rechten Einsicht (phronêsis), ohne welche, als die eigentliche Tugend (Maßhalten usw.;) ein glückliches Leben nicht möglich ist. Die höchste Lust ist die geistige (houtôs oun kai meizonas hêdonas einai tas tês psychês). Die Begierden zerfallen in natürliche (physikai) und nichtige (kenai), von den ersteren sind einige notwendig. Auf die Pflege der Freundschaft wird von E. großes Gewicht gelegt. Der Staat beruht auf Vertrag zum Schutz gegen Feindseligkeiten und Übergriffe, ebenso das Recht, welches nicht von Natur aus existiert (ouk ên ti kath' heauto dikaiosynê, all' hê en tais met' allêlôn symphorais – to gar tês physeôs dikaion esti symbolon tou sympherontos eis to mê blaptein allêlous mê de blaptesthai; vgl. Lucrez, de rer. nat. 947 ff.). Der Weise hält sich möglichst fern vom politischen Leben (lathe biôsas).

Vgl, GASSENDI, De vita, moribus et doctrina Epicuri, 1647 (Erneuerung der Atomistik, vgl. Gassendi). – KREIBIG, E.s Persönlichkeit u. s. Lehren, 1886. – USENER, Epicurea, 1887. – Verschiedene Abhandlungen von TH. GOMPERZ. – GUYAU, La morale d'Epicure, 2. éd. 1881. – A. v. GLEICHEN-RUSSWURM, E.'s. Lehre, 1909.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 154-156.
Lizenz:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Reigen

Reigen

Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.

62 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon