Guyan, Jean Marie

[219] Guyan, Jean Marie. 1854-1888, Stiefsohn Fouillées und Schüler desselben. G. ist der begeisterte Verkünder einer evolutionistischen Weltanschauung, die (bei aller Entfernung vom bloßen Individualismus) durch ihre Betonung des Lebens und dessen Wertes an Nietzsche erinnert. Kraft ist Leben, der Lebenstrieb ist der Kern alles Seins, ein universaler Lebensdrang besteht. Je intensiver das Leben, desto expansiver ist es zugleich. Leben ist »eine Art auf sich selbst gelenkte Schwerkraft«. Es strebt nach möglichster Entfaltung, denn Leben »heißt ebensosehr ausgeben wie einnehmen«. Der Individualismus selbst fordert und bedingt also den Solidarismus, das Leben auch für andere, die Hingabe an das universale Leben aus Kraftüberschuß. Das Wachstum der Solidarität ist das gemeinsame Prinzip von Sittlichkeit, Religion und Kunst. Die Entwicklung geht auf immer umfassendere Sozialität und[219] Solidarität; im Raum und in der Zeit wird immer mehr alles Seiende zur solidarischen Einheit des Universums Verknüpft.

Die Ethik bedarf keiner kategorischen Imperative, keines Zwanges, keiner äußeren Verpflichtung. Die Sittlichkeit entspringt vielmehr dem Lebensdrange selbst. Pflicht leitet sich aus Kraft ab, die notwendig zur Tat drängt. Das lieben gibt sich selbst das Gesetz durch den Drang, sich unausgesetzt zu entfalten. »Ich soll, weil ich kann.« »So lebt in unserem Handeln, unserem Denken, unserem Fühlen ein Drang, der sich in altruistischem Sinne betätigt, eine Expansionskraft, die ebenso mächtig ist wie die Kraft, die den Sternen ihre Bahnen vorschreibt, und diese Expansionskraft gibt sich den Namen Pflicht, sobald sie ihrer selbst bewußt geworden ist.« Es besteht eine sittliche »Anomie«, welche Autonomie ist, ferner eine soziale »Synergie«.

In der Kunst erreicht das Leben sein Maximum an Intensität und Expansion. Durch die Kunst wird die Solidarität und Sympathie erweckt und gesteigert, ihr Ziel ist die Hervorbringung einer »émotion esthétique d'un caractère social«, und »d'agrandir la vie individuelle en la faisant se confondre avec une vie plus large et universelle«. Die Religion definiert G. als »Soziabilität, die den Menschen nicht nur mit allen ihm erfahrungsgemäß als lebend bekannten Wesen verbindet, sondern auch Geistesgebilde, mit denen der religiöse Sinn die Welt bevölkert hat, in diesen Kreis zieht«. Religion ist »universeller Soziomorphismus«, eine »soziologische Welterklärung in mythischer Form«. Die »Irreligion« (Areligion) ist nicht Antireligion, sondern nur Verneinung jedes Dogmas, aller Offenbarung, aller Wunder, alles Mythus und Ritus. Sie ist religiöse Unabhängigkeit oder Anomie, religiöser Individualismus. In ihr wird sich das Wertvolle der Religion erhalten: »der Zusammenschluß auf dem Gebiete intellektueller, ethischer und ästhetischer Bestrebungen, die Solidarität mit dem All-Leben.«

SCHRIFTEN: La morale d'Epicure, 1878; 3. éd. 1886. – La morale Anglaise contemporaine, 1879; 6. éd. 1902. – Vers d'un philosophe, 1888; deutsch 1910. – Les problèmes de l'esthétique contemporaine, 1884; 6. éd. 1901. – Esquisse d'une morale sans obligation ni sanction, 1885; 5. éd. 1903; deutsch: Sittlichkeit ohne »Pflicht«, 1909 (Philos.-soziolog. Bücherei, in der auch noch andere Werke G.s deutsch erscheinen sollen). – L'irréligion de l'avenir, 1887; 7. éd. 1904; deutsch 1910. – L'art au point de vue sociologique, 1889; 5. éd. 1901. – Education et hérédité, 1889; 5. éd. 1900. – La genèse de l'idée de temps, 1890; 2. éd. 1898. – Vgl. FOUILLÉE, La morale, l'art et la réligion d'après G., 1889. – E. CARLEBACH, G.s metaphysische Anschauungen, 1896. – WILLENBÜCHER, G.s soziolog. Ästhetik I, 1900.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 219-220.
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