Jodl, Friedrich

[299] Jodl, Friedrich, geb. 1849 in München, 1885 Prof. in Prag, 1896 in Wien.

J., der von J. St. Mill, Spencer, Feuerbach, Comte beeinflußt ist, vertritt den Positivismus in dem Sinne, daß wir nach ihm nur soweit erkennen können, als die Erfahrung reicht, also nicht das Transzendente, so daß Metaphysik als Wissenschaft nicht möglich ist. Mit diesem Positivismus, den J. auch in der Ethik festhält, verbindet sich ein praktisch-sittlicher Idealismus, der an eine Verwirklichung menschlicher Ideale glaubt (ähnlich Feuerbach, Comte). In erkenntnistheoretischer Beziehung steht J. zum Teil A. Riehl nahe; er ist kritischer Realist, hält unsere Anschauungs- und Denkformen für bedingt durch die Verhältnisse der Dinge selbst, welche uns im Physischen wie im Psychischen erscheinen.

Die Ethik muß nach Jodl unabhängig von Religion. Metaphysik und Politik begründet werden. Es ist dies im Sinne der »Gesellschaft für ethische Kultur« gesprochen, zu deren energischen Vorkämpfern J. gehört. Der begriff der Humanität, welcher eine Erweiterung des Ichs zum Selbst der Menschheit fordert, tritt hier in den Vordergrund und macht alle Appellationen an transzendente Mächte und an ein Jenseits unnötig, ohne daß jemandem der[299] Glaube, der ihn befriedigt, genommen werden soll. Die Ethik der Wissenschaft hat zwei Hauptaufgaben: erstens die Beantwortung der Frage, was ist sittlich, das Sittliche? zweitens, wie entsteht das Sittliche? Normen sind durch Idealisierung der sittlichen Erfahrung zu gewinnen. Das Sittliche ist einer beständigen Entwicklung unterworfen, das bleibende Wesen dieser aber ist die »Abhängigkeit von einem höheren überpersönlichen Willen« (der Gesellschaft, der Menschheit).

Die Psychologie J.s ist evolutionistisch, introspektiv mit Berücksichtigung des Physiologischen und besonders des Biologischen; sie steht zwischen Assoziations- und Apperzeptionspsychologie in der Mitte und ist nicht intellektualistisch, sieht vielmehr im Fühlen und Streben einen ursprünglichen Faktor alles Bewußtseins. Wichtig ist bei J. die Unterscheidung zwischen primären, sekundären und tertiären Bewußtseinszuständen (so z.B. betreffs des Ichs). Die Psychologie ist »die Wissenschaft von den Formen und Naturgesetzen des normalen Verlaufs der Bewußtseinserscheinungen, welche im menschlich-tierischen Organismus mit den Vorgängen des Lebens und der Anpassung des Organismus an die ihn umgebenden Medien verbunden sind, und deren Gesamtheit wir als seelische (psychische) Funktionen oder Prozesse bezeichnen«. Alle psychischen Vorgänge sind Bewußtseinsvorgänge, ein Unbewußtes gibt es nur als physiologisches, als »Zerebration«. Das Bewußtsein ist eine intermittierende Funktion des Lebens; sein allgemeinstes Merkmal ist »die Innerlichkeit eines lebenden Wesens, welches sich in der Entgegensetzung von Objekt und Subjekt oder eines Inhalts und des auffassenden Wesens oder seiner Tätigkeit kundgibt.« Träger des Bewußtseins ist nicht, eine immaterielle Seele, sondern der lebende Organismus.

J. ist ein Anhänger der Identitätstheorie und des psychophysischen Parallelismus. Das Psychische ist das innere subjektive Erleben, Selbstwahrnehmen eines neurologischen Prozesses, also nicht jedes physischen Geschehens; denn das Bewußtsein tritt nur da auf, wo die Organisation eines Weltkörpers die Bedingungen dazu geschaffen hat (doch ist J. nicht Materialist, sondern dürfte, da er das »Streben« als ein Letztes, Unableitbares ansieht, dem Voluntarismus nahe stehen, etwa wie Ribot). Die Theorie der psychophysischen Wechselwirkung widerspricht den Tatsachen wie den methodischen Grundforderungen des Naturerkennens. Psychisches und Physiologisches sind in Wahrheit nur Ausdrücke für denselben Vorgang in verschiedenen Sprachen. Im Bewußtsein, in der Selbstwahrnehmung haben wir unmittelbar das Psychische selbst; von außen gesehen, finden wir nur organische Materie mit Bewegung, an die sich immer wieder nur Bewegung schließt. Der Gesamtkomplex der durch das lieben und seine Reize ausgelösten zerebralen Vorgänge eines Individuums wird von diesem zugleich als Subjekt in innerer Wahrnehmung erlebt. Die Seele ist der einheitliche Zusammenhang des psychischen Erlebens selbst, die Lebensfunktion eines Organismus. – Die Einzelheiten der J.schen Psychologie, welche reich an Analysen und genetischen Erklärungen (z.B. des Gefühlslebens) ist, können hier nicht zur Darstellung gelangen.

SCHRIFTEN: Leben und Philosophie D. Humes, 1872. – Die Kulturgeschichtsschreibung,[300] 1878. – On the Origin and Import of the Idea of Causality, Monist VI. – Geschichte der Ethik in der neuem Philosophie, 1882 f.; 2. A. 1906 f. – Volkswirtschaftslehre und Ethik, 1886. – Religion, Moral und Schule, 1892. – Über das Wesen des Naturrechts, 1893. – Wesen und Ziele der ethischen Bewegung, 1893. – Was heißt ethische Kultur? 1894. – Lehrbach der Psychologie, 1896; 3. A. 1909. – Über das Wesen und die Aufgabe der ethischen Gesellschaft, 1903. – Ludwig Feuerbach. 1904 (Frommans Klassiker der Philos.). – Was heißt Bildung? 1909. – Aus der Werkstatt der Philosophie, 1911, u. a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 299-301.
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