I. Die Urzeit

Für die Erfüllung unserer Aufgabe, die darin besteht, die Poesie als nationale Macht und Kraft, als Zeichen eines hohen Volksgeistes zu erkennen, sind wir insofern günstig gestellt, als wir aus dem Altertume selbst nicht nur große Meisterwerke, sondern auch umständliche Besprechungen und Analysen sowohl dieser als des Untergegangenen besitzen und so imstande sind, ein Urteil über die proportionale Bedeutung des Verschiedenen zu gewinnen.

Aber auch die Kunst kann uns die Poesie erklären helfen. Streng genommen sollte dies zwar nicht der Fall sein. Sie ist ja zeitlich das Spätere gewesen und eher unter der Einwirkung der Poesie entstanden, insofern diese, wie wir oben (S. 11 f.) gesehen, die Gestaltenwelt schon völlig ausgebildet hatte, ehe die lebendige Kunst begann. Allein nicht nur haben dann beide fortwährend dasselbe sachliche Thema, sondern die eine hilft an der andern dasjenige erläutern, was Stil ist, und wir brauchen uns, was diesen betrifft, nur an das zu erinnern, was wir von der Kunst gesagt haben.

Beide haben gemeinsam, was überhaupt Kennzeichen alles griechischen Geistesleben ist: die Verbindung von Freiheit und Maßhalten, die Sophrosyne, welche hier in dem gemeinsamen Respekt vor den einmal gewonnenen künstlerischen Gattungsformen ausgeprägt ist: weil beides durchweg Stil und Lehre wird, werden diese Formen bei den Griechen konstant. Bald wird dann auch die Theorie gefolgt sein; aber die Lehre gehört dem Meister selbst, die Theorie den Draußenstehenden.

Daher jener enorme Reichtum des Verschiedenen innerhalb des Feststehenden und Gesetzlichgewordenen, der es z.B. gestattet, das Festhalten und reiche Ausbilden der großen, an die Namen des Phidias und Polyklet geknüpften Götterauffassung des V. Jahrhunderts und die chorische Lyrik miteinander zu vergleichen. Beides ist durch die höchste Vielartigkeit auf streng homogener Grundlage gekennzeichnet.

Es mochte dann schon auch zu Auswüchsen kommen, wie z.B. in der Lyrik zum spätern, formlos ausartenden Dithyrambus; – aber im ganzen[57] blieb der Stil lange Herr. Trotzdem die Polis dem Dichter keinen gesetzlichen Zwang dazu auferlegte, hielt er an den einmal gewonnenen Formen und an den alten Stoffen fest; denn er war tatsächlich ein Mann der Polis (πολίτης) und dichtete für ein Volk, das für das Überlieferte in Form und Inhalt begeistert war. Dies bewahrte ihn so gut als den Künstler vor allem Willkürlichen und Wüst-Genialen, welches zu entstehen pflegt, wenn begabte Meister die innern Gesetze ihrer Fächer mit Füßen treten, um mit irgendeiner einseitigen Kraft zu glänzen.

Auch das Phantastische und Tolle ist nicht ausgeschlossen; aber es erhält hier in der alten Komödie seine eigene Gattung und wird dabei in die strengsten Bande eines unerbittlichen Stils eingefaßt. Seine Parallele in der bildenden Kunst mögen die aus tierischen und menschlichen oder auch bloß aus verschiedenen tierischen Teilen gemischten Wesen mit ihrer hohen gesetzlichen Schönheit sein. Selbst hier ist alles Stil, nichts Willkür.

Ein im Grunde für Kunst und Poesie gemeinsames Gesetz ist, daß man das Schaffen im großen dem Mythus überläßt, der dies einmal übernommen hat, und sich auf die Wiederholung der trefflichen Typen beschränkt; wir finden bei den Griechen den Verzicht auf materielles Neuschaffen bei stetem Neuempfinden und Neumotivieren des Vorhandenen1.

Vielleicht das Lehrreichste, was die Kunst uns überhaupt zu offenbaren hat in Betreff der allgemeinen Grundempfindung, sagt uns die Architektur mit ihrem strengen Festhalten an einem einzigen Typus, den sie zu unerhört feinem Leben ausbildet. Parallel den höchsten baulichen Finessen, welche Penrose nachgewiesen zu haben glaubt, möchten, wie schon gesagt, hier die höchsten metrischen Feinheiten gehen. Wie die Baukunst für uns unsichtbar Feines, so würde hier die Metrik unhörbar Feines geben, welches dennoch auf die Empfindung wirkt.

Die Indogermanen sind lauter große, mächtige Völker in der Poesie: Inder, Perser, Germanen, Kelten, selbst Finnen, wenn sie als eurpoäisches Volk in dieser Reihe mitgenannt werden dürfen, und die Slawen allermindestens um der Serben willen; in der Mitte aber, und zwar als das für Poesie am höchsten begabte Volk stehen die Hellenen; wenn wir sie mit ihren italischen Nachbarn vergleichen, könnten wir fast auf die Anschauung kommen, daß sie sich von diesen hauptsächlich gesondert hätten, weil dieselben prosaisch waren. Gerade in der ältesten Zeit, schon vor ihrer dauernden Niederlassung in Hellas, muß die Poesie bei ihnen eine nationale Kraft gewesen sein, und die großen Begleiter jeder, also[58] auch ihrer Wanderung, Mythus und Kultus2, müssen das Ihre zur Entwicklung dieser Kraft getan haben. Die abnorme poetische Anlage der Nation überhaupt aber erhellt schon aus der Gestalt, die einer dieser Begleiter bei ihnen gewonnen hat, nämlich aus dem Dasein eines innerlich (an bedeutungsvollen Geschichten und Individuen) so reichen Mythus, wie ihn keine andere Nation besitzt, und sodann aus dem Festhalten und Ausbilden dieses Mythus; denn das mythische Vermögen, das hier seinen Ausdruck findet, ist schon an sich ein hohes poetisches Vermögen.

Wenn die Sänger einem Volke nur von den frühern Helden erzählen, bildet sich wohl von selbst überall das Bild eines Heldenzeitalters mit Dazwischentreten der Götter und Anknüpfung der Leidenschaftsgeschichten und des Märchenhaften, und so haben mehrere Völker ihre Vorzeit ideal, d.h. als eine Zeit höheren Glanzes im weiteren Sinn, angeschaut und ihre Sänger darüber mit Begier und Entzücken angehört. Aber ein Consensus wie bei den Griechen wird sich anderswo nicht finden; nur hier scheint die ganze Nation mit einem selbstverständlichen Eifer auf den Mythus eingegangen zu sein und ihn homogen ausgebildet zu haben; ein so großes Gesamtbild, noch dazu auf einem geographisch so engen und übersichtlichen Raum, bietet nur ihr Mythus.

Die Poesie ist mit der Musik verbunden, sie ist Sache eines Sängers, und dieser wird, wie bei allen denjenigen Völkern, bei denen das Priestertum nicht zur Macht gekommen ist, der allgemeine Träger der Tradition. Daß in einer frühern Zeit Poesie, Heilkunde, Götterkunde und Mantik in einer Person vereinigt gewesen seien, ist nicht wahrscheinlich3. Wie hoch aber der bloße Gesang der Nation stand, davon zeugen die zahlreichen musischen Mythen. Wenn irgendwo, so mußte gerade hier alles von Göttern herstammen. Jedes Element der Poesie und Musik bekam seine ideale Stiftungs- oder Erfindungssage: Hermes muß die Lyra, Apoll die Phorminx-Kithara, Pan die Syrinx erfunden haben4; und die Musen repräsentieren allen Geist überhaupt. Auf dem Olymp selber ist Sang und Klang beständig zu Hause, und der Inhalt des Musengesanges sind u.a. die Leiden des Menschengeschlechtes5.

Auch in den Göttermythen ist das Musische vertreten. So wurde erzählt, daß Athene die Flöte von sich geworfen, als ein Satyr sie darauf[59] aufmerksam machte, daß deren Gebrauch ihre Züge entstellte6. Apollon hatte den die Flöte spielenden Marsyas im Wettkampfe mit der Kithar besiegt und dann geschunden, Marsyas selbst unterrichtet den jugendlichen Olympos (d.h. den mythischen) im Flötenspiel, er erfand diejenige Musik,7 welche der Großen Mutter heilig war, und verteidigte Kelänä noch beim Angriff der Gallier sowohl als Fluß, als auch durch sein Spiel. Auch die Musen haben Schicksale. Wenigstens solange sie noch Quellgottheiten sind, pflegen sie der Liebe, und Euterpe (oder Kalliope) hat vom Flußgotte Strymon als Sohn den Rhesos; erst später kann ihnen Eros nichts mehr anhaben8. Die wichtigste dieser Sagen aber ist die von dem Handel zwischen Apoll und Hermes. Jener hat die Lyra gehört, begehrt darnach und läßt Hermes dafür die gestohlenen Rinder; diese hütet nun Hermes und bläst dabei die Syrinx, aber auch nach dieser verlangt Apoll und gibt ihm dafür den goldenen Stab, den er als Hirte geführt hat, und erst noch die niedrigere Gattung der Mantik, nämlich die durch das Los9.

Und neben den Göttermythen stehen die Mythen von den Sängern, vor allem von Orpheus. Wenn auch dieser gewaltigen Gestalt, welche eine Herrschaft über die ganze stumme und tierische Naturwelt ausübt und selbst in der Unterwelt so siegreich auftritt, daß die Erinyen gerührt werden, nichts als ein Naturmythus zugrunde läge10, so würde die überaus hohe Umdeutung des Naturvorganges uns einen Maßstab für die Macht des Gesanges über diese Nation geben. Freilich sind dann auch die Götter sogleich neidisch auf die Sänger; Apoll tötet den Linos, weil dieser statt der Flachsfäden wirkliche Saiten aufspannte, und auch die Musen können gegen Konkurrenten sehr hart sein, wie sie denn dem Thamyris erstens die Augen, zweitens den Gesang und drittens das Saitenspiel rauben11.

Was die blinden Sänger betrifft, deren hier Erwähnung getan werden muß, so ist von der einfachen Tatsache auszugehen, daß bei den Serben[60] noch im XIX. Jahrhundert Blind gewordene12 von Begabung Sänger wurden. Dabei ist zu bedenken, welchen Vorschub die Ungestörtheit durch die Außenwelt der geistigen Konzentration leistet. Mit diesem Tatbestand wird sich die Anschauung verbunden haben, daß ein sehender Sänger gar zu glücklich und herrlich wäre, und dann entsteht die Sage, daß der Sänger sehend gewesen, aber, wie Thamyris, wegen dreister Herausforderung der Musen zum Wettkampfe von diesen oder auch wohl einfach, daß er durch Götterneid geblendet worden sei, sowie die Götter den Teiresias blendeten, weil er den Menschen zu viel von ihren Geheimnissen offenbarte13.

Wieweit die Sänger der Urzeit in solche des apollinischen, des demetrisch-dionysischen und des kybelischen Hymnengesanges einzuteilen sind, möge hier unerörtert bleiben14. Dagegen ist jedenfalls, so dunkel sie teilweise uns erscheint, eine sehr bedeutungsvolle Erinnerung die, wonach man die Entstehung des Gesanges speziell an einen Stamm, der am Ost- und Nordabhang des Götterberges Olympos ansässig war, nämlich an die ethnologisch so fraglichen ehemaligen Thraker und Pierier anknüpfte. Am Olymp ist das »Geburtsland der Musen«, die denn auch bei Homer immer die olympischen heißen, und Musäos und Orpheus, auch Eumolpos und Thamyris werden speziell Thraker genannt. Andere Thraker wohnten am böotischen Helikon um Thespiä und Askra, wieder andere am Fuß des Parnaß, im phokischen Daulis; aber selbst bei Hesiod, der die Musen die helikonischen nennt, sind sie doch auf dem Olymp geboren und wohnen dort, unterhalb des Gipfels; nur zu Zeiten gehen sie nach dem Helikon, baden in der Hippokrene und tanzen um den dortigen Altar des Zeus. Thrakisch-pierische Sänger dürften wohl den Zusammenhang der olympischen Götterwohnung mit der Musenheimat geschaffen und den Olymp zum gemeinsamen Götterberg gemacht haben. Hier ist vielleicht die frühste Heimat des Epos, und Götterwelt, Theogonie und älteste Götterkämpfe (mit Titanen usw.) mögen hier zuerst festgestellt worden sein15.

[61] Eine besondere Nuance des Verhältnisses zwischen Sänger und Musen stellt die Berufung des Hesiod dar, der vom Schafhirten zum Lehrer und Dichter wurde. Ihn lehrten die Musen, die ihm nächtlicherweile in seinem Askra erschienen, den herrlichen Gesang unter dem göttlichen Helikon, zu Handen der Hirten, die sie Taugenichtse und bloße Bauchdiener schalten. Sie verkündeten ihm, daß sie viele Lügen zu berichten wüßten, die der Wahrheit ähnlich wären, aber auch Wahres, wenn sie wollten. Und nach diesem Seitenblick auf das Epos, welches auch die Lügen mitnimmt16, reichten sie ihm vom herrlichen Lorbeer einen Stab und hauchten ihm göttlichen Gesang ein, auf daß er vernehme das Künftige und das ehedem Gewesene, und hießen ihn besingen das Geschlecht der seligen, ewigen Götter und zuerst und zuletzt auch immer ihren eigenen Ruhm im Liede preisen, lauter Dinge, von welchen der bisher rohe Hirte erst durch die plötzliche Wunderweihe Kunde und Fähigkeit erhält.17.

Mit Hesiod beginnt für uns die ganze Schönheit des Musenglaubens; die Musen, d.h. die Poesie bedeuten für ihn das Vergessen aller Übel und die Ruhe von allen Sorgen18; aber nun haben wir auch der Fördernisse Erwähnung zu tun, welche die Nation der Poesie entgegenbrachte.

Vor allem kommt hier die wunderbar reiche, biegsame und metrisch allseitige Sprache, eine Mutter und Vorbedingung der Poesie wie der Philosophie in Betracht, von der man nur immer wissen möchte, wann und wo sie diese Ausbildung erreicht hat, die für die Poesie Zeugnis und Vehikel zugleich war19. Ein Volk, das eine solche Sprache besitzt, hat unter allen Umständen einen völlig gelösten und beweglichen Geist, und zugleich wird die Sprache ein hohes Werkzeug der Poesie werden. Durch sie konnte der peische Ausdruck für Erzählung und Schilderung bei den Griechen jene große Überlegenheit über alles gewinnen, was wir von andern Völkern Episches haben; es ergab sich jene durchgehende Höhe von Anschauung und Darstellung, welche bei diesem Volke das Allverständliche und Selbstverständliche und höchst volkstümlich gewesen sein muß.

[62] Fördernd war ferner, so gut wie für die bildende Kunst, die Vielartigkeit des Lebens, die bei den vielen Stämmen und Staaten überall unabhängige Denkweisen aufkommen ließ und für die auch die Vielheit der urzeitlichen Sänger charakteristisch ist; auch hier ist bei den Griechen selbstverständlich, daß es einzelne bestimmte Individuen sein müssen. Und dazu kommt die wenige Knechtschaft in den alten Zeiten und die Einfachheit der Beschäftigungen, mit einem Worte: die Muße, welche jedem, der es vermochte, gestattete, die Welt bildlich zu empfinden und in Wort und Lied darzustellen. Es konnte sich Geist entbinden, wie jetzt nirgends auf der Welt.

Sodann rief der lokal vielgestaltige Kultus überall verschiedenartige Bemühungen zur Verherrlichung der Götter hervor, und dabei war er nicht in den Händen eines mächtigen Priestertums, welches allen Gesang gleichförmig und dabei vielleicht schwierig und kompliziert gemacht oder, wie Plato im Buche von den Gesetzen wünscht, durch Vorschriften geregelt hätte. So darf man sich schon das Älteste, wovon Meldung geschieht, lokal und individuell reich und verschieden denken, und gewiß war auch der Ruhm einzelner heiliger Weisen aus der Urzeit groß. Doch war alles immerhin relativ einfach und jedenfalls volkstümlich; es war etwa, was der einzige Priester eines Tempels leicht lernen und weiter lehren konnte, und was alles Volk, auch Kinder und Weiber leicht behielten20. So der Linosgesang (Αἲ Λίνε), womit in der Gestalt eines früh gestorbenen Königssohnes die hingegangene Blüte des Jahres beklagt wurde21, und ebenso die an Apoll gerichteten Päane, mit denen man sich vor der Gefahr, zumal im Kriege vor dem Angriff, ermutigte, nach bestandener Gefahr seinen Dank aussprach und im Frühling Hoffnung und Vertrauen auf ein gutes Jahr äußerte22. Auch der von der Kithara-Phorminx begleitete Reigen (χορός)23, das zum Flötenspiel gesungene[63] Lied des lustigen Umzuges (κῶμος), das Hochzeitslied (ὑμέναιος) und das auf dieses folgende »Krähenlied24« (κορώνη) waren dieser Art, und auch die durch bestellte Sänger vorgetragene, von dem klagenden Ächzen der Frauenbegleitete Totenklage, die vermutlich, wie auch der Hymenäus, Anlässe zu individuellen und verschieden lautenden Gesängen bot25.

Was nun die Sänger der heroischen Zeit betrifft, so ist im Mythus reichlich dafür gesorgt, daß man ihrer nicht vergißt. Der »göttliche Sänger, der durch sein Lied erfreut«, gehört neben dem Mantis, dem Arzt und dem Zimmermann26, denen wir etwa noch den Priester, Herold und Schmied beifügen könnten, zu denjenigen Berufsleuten (δημιοεργοί), die man von anderswoher herbeiruft (während Bettler ungerufen kommen). Ihr liebstes Unterkommen war gewiß das an den Fürstenhöfen, solange es welche gab, – besangen sie doch oft die Vorfahren der Fürsten; aber auch in der aristokratischen Republik wird man im ganzen froh gewesen sein, wenn nur einer von ihnen erschien. Nur wird allmählich in einer Zeit, da aus dem Heroenleben ein agonales Leben geworden war, und alles und jedes durch die Form des Wettkampfes zu Ehren zu kommen suchte, der Agon auch hier in vielen Fällen eine wichtige Triebkraft geworden sein. Er ist dies bekanntlich – um vom attischen Drama abzusehen – in der chorischen Lyrik in hohem Grade gewesen, indem diese bei Gottesdiensten und Festen durch wetteifernde Chöre vorgetragen wurde, wobei es Kampfrichter gegeben haben muß. Daß aber auch die Aöden – vielleicht schon in der fürstlichen Zeit – sich bei öffentlichen Festen und Spielen auf den Agon einließen, lehrt Hesiod in den Werken und Tagen (652 ff.), wo er von seiner einzigen Seefahrt, nach dem euböischen Chalkis, erzählt. Hier hatten die Söhne des (verstorbenen) Amphidamas (zu dessen Leichenfeier) zum voraus namhaft gemachte Kampfpreise ausgesetzt, und der Dichter hatte mit seinem »Hymnos« einen Dreifuß gewonnen, den er den helikonischen Musen weihte. Auch jener merkwürdige blinde Homeride von Chios27 war offenbar ein Wettsänger, der sich im Hymnos auf den delischen Apoll als den süßesten Sänger gepriesen wissen will, dessen Lieder auch künftig als die besten gelten[64] werden. Später herrscht dann der Wettgesang bei Aöden und Rhapsoden überall28.

Vom Vortrag ist es unsicher, ob er durchweg mit der Kithara begleitet oder nur durch sie eingeleitet wurde, wie man ja auch in Serbien die Gusle nicht immer zur Begleitung verwendet29. Auch der Begriff der Rhapsodie ist ein ziemlich umfassender. Es wird damit das Aneinanderreihen von Versen ohne erhebliche Pausen bezeichnet, und das Wort wird von sehr verschiedener Rezitation für Episches und Nichtepisches, Selbstgedichtetes und Fremdes gebraucht30. Aber nun hatte man ein Metrum, das, auch ohne Kithara, selber schon Gesang war, an dem wundervollen Hexameter. Seine Herkunft verliert sich ins Mythische: Phemonoë, die erste Promantis von Delphi, oder der Hyperboreer Olen, der erste dortige Prophet, hatten ihn erfunden31, und Delphi gab denn auch seine Bescheide meist in Hexametern. Jedenfalls waren diese lange auch für die Lyrik fast die ausschließliche Form, das einzige Gefäß für die Poesie überhaupt. Die Griechen wußten aber auch, was sie diesem Verse verdankten, der mit unerreichter Elastizität jedem Gedanken und jeder Empfindung gerecht wird und sich der Onomatopoesie so schön fügt; das stetigste und stattlichste aller Metren nennt ihn noch Aristoteles32.[65]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1957, Band 7, S. LV55-LXVI66.
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