3. Die homerischen Hymnen

[96] Von den aus sehr verschiedener Zeit stammenden homerischen Hymnen sind die fünf größeren, nämlich der auf den delischen und der auf den pythischen Apoll, der auf Hermes, der auf Aphrodite und der auf Demeter104, Gedichte für sich, während die kleinern meist Proömien sind, dergleichen die Rhapsoden ihren Erzählungen aus der Heroenwelt voranzuschicken pflegten. Jene größern aber wurden zwar wohl an Festen vorgetragen, sind aber keine Kultusgedichte oder Tempelhymnen und durchaus verschieden von den lyrischen Hymnen der äolischen sowohl als der chorischen Dichter; vielmehr ist der Hymnus hier ein Zweig des Epos, eine Rhapsodie, so gut als eine Erzählung aus der Heldensage.

Die beiden auf Apoll und der auf Demeter sind offenbar im Interesse der Tradition des delischen, delphischen und eleusinischen Tempels gedichtet und bei den dortigen Festen vorgetragen worden; dagegen der auf Aphrodite ist wohl für den Hof eines kleinen Fürsten am Ida verfaßt, der auf Hermes aus einer eigentlichen Wonne des Sängers selber hervorgegangen105. Jedenfalls aber haben wir es hier mit lauter Laienpoesie zur Verherrlichung von Göttern zu tun106, und zwar enthielten vielleicht diese und ähnliche Gesänge neben den Götterschilderungen im Epos und der Theogonie weit die wichtigste Belehrung, welche der Grieche überhaupt über das Tun seiner Götter empfing; der Umstand aber, daß es Festpoesie war, bewirkte, daß diese Götter in allgültigem, panhellenischemA4 Sinn dargestellt wurden107. Es kann sehr viel dergleichen gegeben haben, so daß, was wir besitzen, trotzdem in der alten Literatur nur die noch vorhandenen Hymnen zitiert werden, nur ein geringer Rest des ehemaligen Bestandes wäre; denn es ist sehr denkbar, daß man später diese Gattung, deren Inhalt ein für allemal bekannt war, für weit entbehrlicher[96] hielt als die großen Heldengedichte, und daß daher, als die Lyrik und das Drama den Mythus auf ihre Weise darstellten, die Hymnen leicht in Vergessenheit gerieten.

Von Einzelheiten wollen wir hier nur an das liebliche Bild des Aöden und der hymnensingenden Jungfrauen im Hymnus auf den delischen Apoll (156 ff.) erinnern. Diese delischen Mädchen, Apolls Dienerinnen, haben das gleiche Thema mit dem Sänger: Apollon, Leto, Artemis und den Preis der Männer und Frauen aus alter Zeit, und das alles ist Hymnus! Ferner können sie die Stimmen (Sprechweisen? Tonweisen?) und Tanzrhythmen (?κρεμβαλιαστύς) aller Menschen nachahmen, und jeder, der sie hört, meint, er spreche selbst, »so schön ist ihr Gesang gefügt«. Und dann redet der Aöde die Mädchen an: »Denkt meiner auch noch später, wenn ein mühseliger fremder Erdenmensch euch fragt: Welcher ist der süßeste Sänger, der hier verkehrt und welcher erfreut euch am meisten? – Dann antwortet alle: ein blinder Mann, er wohnt im steilen Chios, und alle seine Lieder werden auch in Zukunft die schönsten sein. Wir aber werden euern Ruhm weitertragen, so weit wir auf Erden in wohlbewohnte Städte kommen, und man wird uns glauben, weil es wahr ist.« Vielleicht verdankten die Mädchen von Delos ihren Gesang dem Aöden selbst.

Von den Proömien hat der Hymnus auf Ares (VIII) durchaus invokatorischen Charakter, indem er am Anfange aus lauter Epithetis besteht, womit der Gott angerufen wird. Dies ist schwerlich Aödengesang; doch kann die an die spätern pseudo-orphischen Hymnen erinnernde Form alt sein und auf Tempelritualien zurückgehen; die Anrufungen sind zum Teil sehr schön und poetisch und besonders das Gebet am Schlusse108. Ein herrliches, altes Proömium ist dagegen der Hymnus auf Artemis (XXVII) und ebenso der auf Athene (XXVIII), und auch unter den übrigen sind gute und alte. Sehr bedeutend ist in diesen bloßen Proömien, wie das Auftreten der Götter durch das Mitempfinden von Erde und Meer, Wald und Gebirg auf das höchste verherrlicht wird; man wird dabei an die andächtigen Proömien italienischer Improvisatoren des XV. und XVI. Jahrhunderts erinnert. Merkwürdig ist besonders auch der XXX. Hymnus auf die Mutter aller Dinge, als Parallele zum Anfang des Lucretius. Die Allmutter Erde wird hier fast mit denselben Wendungen verherrlicht wie bei dem römischen Dichter Venus.[97]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1957, Band 7, S. XCVI96-XCVIII98.
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