III. Die Musik

[126] Ehe wir vom Hexameter zum Distichon übergehen, wird es zweckmäßig sein, in möglichster Kürze von der griechischen Musik zu handeln. Und hier möge nun von vornherein zugegeben werden, daß es schwer, ja unmöglich ist, sie uns wahrhaft zu vergegenwärtigen. Aber von den Griechen selbst wurde ihr Betrieb als eine Lebensfrage ersten Ranges behandelt, durchweg an den Mythus angeknüpft und als etwas Gesetzliches betrachtet nicht nur im Sinne des Stils, sondern sogar im politischreligiösen Sinne. Dabei war uralt die Verbindung von Poesie, Musik und Tanz in den gottesdienstlichen Chören und sicher auch schon im alten Volksgesang.

Fragen wir nun, von welchen Anschauungen und Tatbeständen der heutigen Musik wir abstrahieren müssen, wenn wir eine Vorstellung von der griechischen gewinnen wollen, so ergibt sich folgende Antwort: Die Leute sangen zunächst nicht aus Heften, sondern frei, und waren daher imstande, sich im Singen zu bewegen. Ferner müssen wir auf die Meinung verzichten, daß unser Tonsystem selbstverständlich sei. Vielmehr ist alles, was mit der Distanz der Töne zusammenhängt, zeitlich wandelbar und verschieden, und wir müssen uns andere Skalen als die unsrigen197 und eine andere Messung der Tonintervalle vorstellen können. Daher haben wir auch zu abstrahieren von aller heutigen Harmonie, ja vielleicht von der Mehrstimmigkeit überhaupt. Was sodann das Materielle der Komposition betrifft, so müssen wir abstrahieren von der stetigen Neuerfindung von Melodien (womit es ja auch heute allgemach mager aussieht), und ebenso von all der umständlichen polyphonen Kunst, auch der der thematischen Verarbeitung. Endlich betreffs des äußern Effekts müssen wir uns hinwegdenken aus der Welt unserer modernen Blechinstrumente und uns andere Ohren vorstellen als unsere vergeigten, verblasenen, zertrommelten, von den Lokomotivpfiffen nicht zu reden. Das[126] griechische Ohr, für dessen Feinheit wir in der Metrik ein allgemeines Zeugnis haben, muß von einer für uns kaum vorstellbaren Empfindlichkeit gewesen sein, wenn Instrumente mit Darmsaiten, welche nicht gestrichen, sondern nur gegriffen oder mit dem Plektron gespielt wurden, in riesigen, völlig besetzten Theatern hörbar sein sollten, wie dies das Auftreten des Kitharöden daselbst voraussetzt, oder wenn, wie bei den Spartanern, außer dem Flötenspiel auch das Spiel der Lyra als Marschmusik dienen sollte.


Vor allem lebte nun im Volke eine größere Anzahl von alten, konstanten Melodien-Typen, sogenannten Nomoi, die wir uns etwa zu denken haben wie die Irish melodies, welche ja alle einen Typus variieren, aus denen sich aber einzelne durch besondern Rhythmus emporheben. Noch aus dem spätern Altertum werden uns dreizehn Benennungen von einzelnen volkstümlichen Flötenmelodien198 namhaft gemacht, die zum Tanze gespielt wurden, dieselbe Quelle199 gibt aber auch eine Liste von Liedern, und zwar führen dieselben teils ihren Namen nach Verrichtungen oder Beschäftigungen, wie der Gesang beim Mahlen (ἱμαῖος oder ᾠδὴ μυλωϑρῶν), der Weberinnen (ἔλινος)200, der beim Wollespinnen (ἴουλος), die der Säugenden (καταβαυκαλήσεις), der Schnitter (Λιτυέρσης), der Feldtagelöhner, der Bader, der Kornstampferinnen und der der Sage nach von dem sizilischen Hirten Diomos201 erfundene Rinderhirtengesang (βουκολιασμός). Auf besondere Anlässe bezog sich das Hochzeitslied (ὑμέναιος) und der Trauergesang (ἱάλεμος oder ὀλοφυρμός), andere paßten für die Andacht zu bestimmten Gottheiten wie Demeter und Persephone, Apoll und Artemis; wieder andere hatten ihren Namen nach einem liebenden oder geliebten Wesen: den ohne Erwiderung liebenden Mädchen Eriphanis, Kalyke202 und Harpalyke und dem mariandynischen Bormos, der in der Quelle verschwunden war, als er den Schnittern wollte zu trinken holen, einer Parallelgestalt des Hylas. Hieher gehört auch das Ailinon, d.h. die Klage der Sänger um Linos; doch wurde dieser Name auch für den musikalischen Ausdruck beglückter Stimmung gebraucht.[127]

Vielleicht repräsentierten jene nach Beschäftigung und Anlässen benannten Weisen des Gesangs bald mehr einzelne, feststehende Melodien oder Lieder, bald mehr ganze Gattungen, so daß etwa die Melodie feststand, die Worte aber neu dazu improvisiert wurden, während die nach Namen bezeichneten mehr feststehende Worte und Melodien hatten. Hiemit ist nicht ausgeschlossen, daß oft auch hier zu der bestimmten Melodie ein wechselnder Text gesungen wurde, wie denn das Harpalykelied von den Mädchen im Agon, d.h. im Wettstreit der Improvisation, vorgetragen wurde. Auch wurden wohl sehr oft zu den gewohnten Weisen Gelegenheitsworte gemacht203. Leider sind das alles bloße Namen für uns, und deshalb wüßten wir gerne, wieweit die Serenaden bei Aristophanes (Ekkl. 952 ff.) einen Begriff vom wirklichen griechischen Volksgesang geben. Ist uns am Ende hier ein Rest von Improvisation im Sinn der italienischen Ritornelle erhalten?

So war die Musik gewiß samt einer damit eng verbundenen Lyrik – vielleicht in einer relativ hohen landschaftlichen Ausbildung – so alt als das Griechentum überhaupt und jedenfalls so alt als sein Kultus. Auch die Instrumente sind uralt und haben ihre mythische Ursprungssage204, und ebenso war der Tanz von Anfang an dabei. Allein jene Angelegenheit auf Leben und Tod, jenes ernsthafte Interesse ersten Ranges wurde die Verbindung von Lyrik, Musik und Tanz erst infolge einer sehr besondern Entwicklung; erst längere Zeit nach dem Epos hat sie sich als ein höchstes künstlerisches Element ausgebildet.

Schon im Hexameter war zwar der Rhythmus merkwürdig klar und schön auf die Quantität gegründet, und bei Homer stellt sich dieser Vers in allen möglichen Arten von Schönheit und Lebendigkeit dar. Aber das griechische Wort in Verbindung mit dem Ton gestattete noch unermeßlich viele andere Gestaltungen, die freilich unser Ohr kaum noch nachfühlen kann, eine Welt von Metren und Strophen.

Das Allverbindende für beide Künste unter sich und mit dem Tanz war nun freilich die Metrik, die wir aus den Texten noch so gut als möglich erraten. Allein erst ausgemessene Tonleitern und artikulierte Intervalle machen eine Tonsprache möglich, und nur in Verbindung mit einem allgültigen Tonsystem konnte dieser Welt von Formen zum panhellenischen Dasein verholfen werden; dazu aber bedurfte es eines großen Musikers.

[128] Dies war Terpander von Lesbos, der »Menschenerfreuende«, wie sein Name sagt, »welcher die verschiedenen Sangweisen, wie sie sich in verschiedenen Landschaften nach dem Antriebe musikalischer Stimmungen auf ganz natürlichem Wege gebildet hatten, nach Kunstregeln ordnete und ein zusammenhängendes System daraus bildete, an dem dann die griechische Musik bei aller Erweiterung und überkünstlichen Ausbildung, die ihr später zuteil wurde, immer festgehalten hat«205. »Er erfand die siebentönigen Leitern, welche gesetzlich sich auseinander entwickeln und einen geschlossenen Kreislauf bilden«, eine Tatasche, die ihren Ausdruck darin findet, daß er aus der bisher viersaitigen Lyra eine siebensaitige machte206.

Terpander als Lesbier wurde in der Musik der Vermittler zwischen Kleinasien und Hellas; er ist der Anfänger der großen Entwicklung, welche sich außer an seinen Namen hauptsächlich an den des Olympos, Thaletas und Sakadas und in der jüngern Generation an den des Philoxenos und Timotheos knüpft. Dabei ist für die Griechen bezeichnend, daß sich sofort auch hier die Form des Agons einstellt. Terpander siegte in Sparta sogleich bei der Einführung der musischen Agone am Feste des Apollon Karneios (676 v. Chr.)207, ein Sieg, welcher ein sehr entscheidendes Faktum gewesen sein dürfte, denn wir finden Terpander später (von 645 an an) als Gesetzgeber der Musik in Sparta208, und die Nachricht, daß er später noch viermal in Delphi gesiegt habe, wo diese musikalischen Agone anfänglich die einzigen waren209, beweist, obschon sie auf Erfindung beruht, welche Bedeutung man seinem agonistischen Auftreten beimaß; auch Olympos und Sakadas werden mit den pythischen Spielen in Verbindung gebracht. Und neben diesem agonistischen Betrieb ist die frühe und ernste Spezialisierung zu beachten, indem die Genossen des einen nur Päane, die des andern nur Orthien, die des dritten nur Elegien schufen210.

Auch die Melodien dieser Meister hießen nun Nomoi. Ihren Namen führten dieselben nach den Verfassern, indem man vom terpandrischen, polymnestischen usw. Nomos sprach, und dann speziell nach Stämmen[129] (der böotische, äolische Nomos Terpanders) oder nach Metren und musikalischem. Charakter (der trochäische, orthische usw.) Daneben ist von drei Tongeschlechtern (γένη), dem diatonischen, dem chromatischen und dem enharmonischen die Rede, in welchem letztern Viertelstöne (διέσεις)211 vorkommen. Die Unterabteilungen der Geschlechter sind die Tonarten, welche Tropoi, Harmoniai, bei Plutarch auch Tonoi heißen, die ernste dorische, die rauschende phrygische und die weiche lydische. Erst nach Terpander entstanden dann noch die ionische und die äolische – noch Anakreon brauchte nur die drei alten – und allmählich kamen zu diesen fünfen noch zehn Nebentonarten, welche verschiedenen Erfindern beigelegt wurden. Um uns vorzustellen, wie dies alles nebeneinander Platz gehabt, müssen wir eben annehmen, daß das griechische Ton- und Gehörsystem ein anderes gewesen sei als das unsere. Auch dieses letztere kann einem künftigen Jahrtausend vielleicht unverständlich sein, so daß Komponisten wie Mozart und Beethoven, wie Terpander nur noch auf Kredit hin genannt werden.

Jedenfalls war bei dieser Musik eine Harmonie in unserm Sinne nicht vorhanden, denn wegen der »unrichtig« oder vielleicht besser gesagt, wegen der nach einem andern System gemessenen Terzen fehlte jeder Dreiklang; die einzige Begleitung war die Oktave und der Einklang; und die Instrumente folgten vielleicht nur der Melodie212. Vielleicht dürfen wir sagen, daß das Rhythmische mehr ausgebildet gewesen sei als das Melodische; doch könnten wir uns auch hierin wie in so vielen andern Fragen irren, welche diese still gewordene Musik stellt.

Terpander komponierte Hexameter. Er richtete Stücke aus Homer für Gesang mit Kithara (Kitharödien) ein und dichtete auch Proömien in dieser Art213; aber erweislich hat er auch schon sehr verschiedene Metren behandelt. Ob er selber schon eine Notenschrift erfunden hat, oder ob seine Nomoi erst nach langer mündlicher Überlieferung, etwa im IV. Jahrhundert, aufgezeichnet worden sind, lassen wir dahingestellt; die spätere Zeit kannte nach der Überlieferung des Alypios (im IV. Jahrhundert n.A6 Chr.) eine aus Haken und wenigen Buchstaben bestehende ältere Notenschrift[130] für das Instrumentale und eine jüngere aus lauter Buchstaben bestehende für den Gesang214; aber noch im IV. Jahrhundert v. Chr. war die Notenschrift nur fähig, die Tonhöhe anzugeben; für die Zeitdauer scheint man sich auf die Quantität der Wortsilben verlassen zu haben.

Der Kithara wurde die Flöte215 durch den Phrygier Olympos ebenbürtig, den Erfinder des enharmonischen Tongeschlechts und derjenigen schwungvollen und feurig bewegten Rhythmen, bei denen Arsis und Thesis im Verhältnis von 3 zu 2 stehen (γένος ἡμιόλιον). »Durch die Flöte gewann die Musik eine größere Freiheit. Es war viel leichter, ihre Töne zu vervielfältigen als die der Kithar, zumal da die alten Flötenspieler gewohnt waren, auf zwei Flöten zu spielen«216. Olympos, den wir mit O. Müller etwa in die Zeit zwischen 660 und 620 setzen möchten, war der Schöpfer auletischer Nomoi, d.h. reiner Flötenmelodien (meist zu Ehren von Göttern). Es waren meist »heftige und leidenschaftliche Trauerweisen«, wie z.B. die, welche er in Delphi auf den getöteten Python in lydischer Tonart blies; doch gab es von ihm auch Ruhig-Heiteres und Schwärmerisch-Begeistertes. Bei alledem war er selbst vielleicht gar nicht Dichter, sondern kann alles ohne Gesang, durch Flötenspiel dargestellt haben. Die Flöte galt dann wesentlich als das dionysische Instrument, während die Lyra und die Kithara apollinisch waren217. Doch gab es auch außer jenem Nomos des Olympos eine pythische Flötenmusik ohne Gesang, welche Sakadas in Delphi vortrug218, ja an der ersten Pythiade wurde auch die Aulodie, d.h. die Verbindung von Gesang und Flötenmusik zugelassen. Daß man sie, nachdem der arkadische Musiker Echembrotos dafür bekränzt worden war, wieder abschaffte, hatte seinen Grund darin,[131] daß sie für das Fest einen zu melancholischen Eindruck machte219; doch blieb sie beliebt, zumal für den Vortrag der Hexameter und der elegischen Disticha, für die sie zuerst Klonas, ihr Erfinder, angewandt hatte220. Eine andere Erfindung dieser Zeit war der dreiteilige Nomos des Sakadas, von dem die erste Strophe dorisch, die zweite phrygisch, die dritte lydisch gesetzt war221. Der Eindruck dieses Meisters auf die Nation war so stark, daß seine Melodien mit denen des spätern Pronomos von Theben noch wetteiferten, als Neu-Messene unter böotischem und argivischem Flötenspiel erbaut wurde222; die alte Melodie lebte damals so lange wie heute Kirchenchoräle.

Wir übergehen die übrigen Instrumente, die Syrinx, die von Ibykos erfundene Sambyke, die Magadis, das Krembalon usw.223. Wenn auch in der spätern Zeit die Blasinstrumente so stark vertreten gewesen sein mögen wie heute, so war doch im ganzen beim Fehlen aller Streichinstrumente der Reichtum an Instrumenten, d.h. an einzelnen Klangfarben ein höchst mäßiger. Nur mit einem Worte möge auch der Verbindung von Flöte und Lyra (ἔναυλος κιϑάρισις), deren Erfindung der Schule eines gewissen Epigonos (in unbestimmter Zeit) zugeschrieben wird224, sowie der Wirkung gedacht sein, die man in späterer Zeit durch massenhafte Verwendung desselben Instruments erzielte; Athenäos berichtet, daß bei dem Festzuge des Philadelphos ein Chor von 600 Mann aufgetreten sei, worunter 300 Kitharisten mit vergoldeten Kitharn und goldenen Kränzen waren225. Immerhin genoß die Verbindung der Menschenstimme mit dem Instrument einen gewissen Vorzug vor der bloßen Instrumentalmusik;[132] der Kitharöde wenigstens stand über dem Kitharisten226, und noch in später Zeit schien nur der Gesang des Kranzes fähig227.

Ihre stärkste Betätigung fand aber die Menschenstimme in der Masse von Chorliedern, wozu der Kultus den Anlaß bot. Hier muß das griechische Wort mit dem Ton eine metrisch melodische Verbindung eingegangen sein, wovon wir jetzt kaum mehr etwas ahnen können; es wird uns unbegreiflich bleiben, wie das Metrische bei seiner enormen Ausbildung doch völlig populär sein konnte.

Auch die Hebung des Chorgesangs knüpft an einen Musiker an, der, wie Terpander, von auswärts nach Sparta kam, nämlich an den Kreter Thaletas, der um die zweite Hälfte des VII. Jahrhunderts dahin geladen worden war, um in der unruhigen Stadt den Frieden zwischen den Bürgern herzustellen, nach einer anachronistischen Sage aber schon Lykurgs Lehrer gewesen sein sollte. Seine kretischen Präzedentien können ebenso der feierliche, ruhige Apollsdienst wie der orgiastische Zeusdienst mit seinen wilden, rauschenden Tanzweisen und dem Waffenlärm der Kureten gewesen sein; jedenfalls hatten die alten kretischen Kulte etwas Kathartisches an sich. In Sparta vervollkommnete er die von Terpander eingerichtete Musikordnung; er schuf besonders Päane (Preislieder auf Apollon) und Hyporcheme, d.h. Nachbildungen mythischer Handlungen durch Rhythmus und Gesten des Tanzes. Hiefür benutzte er außer seiner kretischen Tradition auch Musik und Rhythmik des Olympos. Schon der Päan wurde dadurch stärker belebt; noch munterer und lebhafter aber muß man sich die Hyporcheme denken. Sparta wurde ein Hauptort des Tanzes, und zwar für beide Geschlechter; an den Gymnopädien ahmten die Knaben die Bewegungen des Ringkampfes und Pankrations nach, gingen dann aber in die wilderen bacchischen Tanzweisen über; auch die Pyrrhiche, der Waffentanz, ein Lieblingsreigen der Kreter und Lakedämonier, wurde von den Musikern dieser Schule, besonders von Thaletas, ausgebildet; dieser dichtete hyporchematische Kompositionen zur Pyrrhiche in schnellen, flüchtigen Rhythmen228, und ebenso erfand Hierax von Argos, der Komponist berühmter Weisen für die argivischen Anthesphorien, die Melodie für einen Tanz, der das Pentathlon darstellte,[133] während von einem andern Meister jener Zeit, dem epizephyrischen Lokrer Xenokritos berichtet wird, daß er eine besondere lokrische oder italische Tonart erfunden und Dithryamben mit Stoffen aus der heroischen Mythologie komponiert habe229.

Von der Massenhaftigkeit dieser Chorgesänge machen wir uns nun kaum eine Vorstellung. Sowie eine Polis einem namhaften Gotte irgend etwas zu senden, zu sagen oder ihn zu fragen hat, schickt sie außer ihren Theoren, wenn sie es vermag, auch noch einen Chor mit einem eigens gedichteten und komponierten Liede hin, das er, beim Altar anlangend, zu singen hat, dem sogenannten Prosodion. Schon von den Messeniern erfahren wir, daß, als sie unter ihrem siebenten Könige zum ersten Mal dem Apoll nach Delos ein Opfer schickten, ein Chor von Männern mitging, dem Eumelos, der angebliche Urheber auch der Inschrift des Kypseloskastens, das Prosodion gedichtet und eingeübt hatte230, und im V. Jahrhundert komponiert Pronomos, der Lehrer des Alkibiades, für die Chalkidier am Euripos u.a. wiederum einen Gesang als Prosodion für Delos231. Namentlich wurden zu großen Festagonen und zu berühmten Tempeln auch Knabenchöre gerne mit Opfern gesandt. In der Folge bestand dann der Kultluxus großer Städte noch immer nicht darin, daß ein Chor Verschiedenes gesungen, für mehr als eine Melodie existiert hätte, sondern eine Menge von Chören trat nacheinander auf, und die panhellenische Ausgleichung, d.h. das Nachsingen des Trefflichen anderswo als am Ort der Entstehung oder des betreffenden Festes, erfolgte wohl erst spät232. Das Einüben der Chöre mag Jahrhunderte lang ohne Notenschrift, durch bloßes Einsingen und Einmusizieren, etwa mit der Flöte vorgegangen sein. Jedenfalls aber ergab sich so ein ganz großer populärer Betrieb der Musik; Polyb, der allen Ernstes die verbrecherische Verwilderung der arkadischen Kynäthier davon herleitet, daß sie ausnahmsweise die Musik aufgegeben hätten, und ihnen nachträgliche Besserung wünscht, gibt uns davon (IV, 20 f.) für das übrige Arkadien seiner Zeit folgende Vorstellung: Die Musik wurde gesetzlich von jedermann[134] bis in das dreißigste Jahr betrieben; die Kinder lernten von klein auf die Hymnen und Päane an die Heroen und Götter des Landes, dann die (modernen) Melodien des Philoxenos und Timotheos, nach welchen Knaben und Jünglinge jährlich im Theater unter dionysischem Flötenspiele die Reigentänze aufführten. Ferner herrschte bei den geselligen Vereinigungen lauter Wechselgesang; denn, da jedermann singen lernte, durfte sich niemand weigern zu singen. Außerdem wurden Embaterien (Marschgesänge) mit Flötenspiel und in Marschbewegung, sowie jährlich (offenbar besonders kunstreiche) Tänze der jungen Leute in den Theatern eingeübt. Auch Chöre von Jungfrauen gab es, und das alles, weil in dem rauhern Himmelsstriche die Musik zur Milderung des ganzen Lebens unentbehrlich schien. Übrigens lernte auch in Sparta und Theben jedermann das Flötenspiel233, und ebenso in Athen, wenigstens bis Alkibiades es durch seinen Widerwillen aus der Mode brachte234.

Bei dieser Masse von Chören und der sonstigen Beschäftigung mit der Musik mußte das ganze Volk, wie schon früher235 gesagt, von Jugend auf musikalisch sein und den einzelnen Kitharöden, Kitharisten, Aulöden usw. eine gewisse Kennerschaft entgegenbringen. Dabei hielt sich im Opferdienst neben dem hoch Entwickelten das Primitive vielleicht sehr lange, und z.B. in den Tempelritualien konnte sich das Uralte behaupten zu einer Zeit, da die Festchöre sonst dem Zeitgeschmack folgten236. Sicher ist, daß bei allen Schranken, in welche diese Kunst durch den Mangel eines Dreiklangs, das späte Aufkommen und die Unvollkommenheit der Notenschrift, die verhältnismäßige Armut an Instrumenten usw. gebannt war, eine hohe Vollendung erreicht wurde, indem sonst die Musik nicht in Parallele mit dem Allerwichtigsten aus dem ganzen übrigen Leben aufträte.


Hier ist nun auch über den Tanz zu sprechen, der wiederum ein äußerst reiches Phänomen der griechischen Kunst darstellt. Sein Ursprung wird übereinstimmend im Mimischen gesucht, wo ihn auch unser Tanzwesen hat. Aber von diesem letztern ist hier gänzlich zu abstrahieren. Die Zusammenbewegung vieler ist bei den Griechen viel individueller durch die Gesten, welche sich bei südlichen Völkern von selbst ergeben, und die hier in kunstreichen Pantomimen ihren Gipfel erreichen. Zusammen mit dieser Mimik aber, die in der mimetischen Bewegung des ganzen Leibes[135] ihren Ausdruck findet, und wobei auf ein großes pantomimisches Verständnis der Zuschauer gerechnet werden darf, ist dem Griechen das rhythmische Gefühl in hervorragendem Maße angeboren, und so bildet sich aus Rhythmik und Mimik stets von neuem der Tanz.

Über seine Geschichte gibt Athenäos237 ein buntes Vielerlei von Notizen, offenbar schon fast ganz ohne eigenes Verständnis und Anschauung, mit falschen Ideen, wie z.B. der (26), die alten bildenden Künstler hätten sehr die Gestikulation (offenbar der Menschen überhaupt) studiert und die schönen und edeln Bewegungen gesucht; diese habe man dann (also von Statuen und Gemälden her) in die Tanzchöre und von diesen in die Palästren übertragen. Wichtig ist vor allem, daß auch diese Kunst hie und da aus der mythischen Zeit hergeleitet wird, wie dies beim Geranostanz238 der Fall ist und bei der Art von Tanz, die nach dem lakedämonischen Karyä ihren Namen (καρυατίζειν) hatte und auf die Dioskuren zurückgeführt wurde239.

Wir haben es nun zuerst mit einigen weit verbreiteten Tänzen zu tun. Diese haben ihren Namen teils nach einzelnen Gegenden, denen sie ursprünglich angehören, teils nach speziellen Kulten; einzelne Namen sind auch mimetisch, wie das »Kornausschütten«, die »Schuldaufhebung«, die »Eule« usw. Allgemein üblich war der Waffentanz, die Pyrrhiche, die man als Vorübung des Krieges betrachtete, und die in Sparta, wo sie sich am längsten behauptete, schon von den fünfjährigen Kindern geübt wurde240, ferner die von den Knaben nackt getanzte Gymnopädike, welche wie eine Darstellung der Palästraübungen und des Pankrations erschien241 und die Hyporchematike, wobei der ganze Chor, und zwar bald ein männlicher, bald ein weiblicher, singend tanzte242. Zum Hymnus und zum Päan wurde bald getanzt und bald nicht. Jedenfalls ist das spezifisch Griechische hier der ungemeine Reichtum an einzelnen volkstümlichen Tänzen, wobei sich Stämme, Städte und Gegenden ausglichen[136] und auch Fremdes entlehnt wurde. Bald ließen sich Männer und Knaben, bald Frauen und Mädchen sehen, und durch den Wechsel von ernsten und heitern, ländlichen und Waffentänzen usw. muß dieses Wesen die größte Mannigfaltigkeit gewonnen haben243.

Hiezu kamen die Tänze der für einen bestimmten Anlaß eingeübten gottesdienstlichen Reigen; gehörte doch die ganze chorische Poesie und Musik mit einem chorischen Tanze zusammen, und mit welchem Aufwand und welchen Kosten die Ausstattung solcher Chöre in einer Stadt wie Athen verbunden war, haben wir früher gesehen244. Keine Mysterienweihe ging ohne Tanz vor sich; so hatten es Orpheus und Musäus, selbst treffliche Tänzer, eingeführt, und selbst der Verrat der Mysterien bestand demgemäß in einem »Austanzen«245. Und nun kam gar noch vom dionysischen Chortanze her das Drama, woran dann später offenbar die Entwicklung alles kunstreichern Tanzes hing, mit der Emmeleia, dem Tanz der Tragödie, der Sikinnis, dem des Satyrdramas, und dem komischen Kordax. Besonders von Äschylos wird berichtet246, daß er viele Tanzschemata erfunden und sie den Choreuten übergeben habe. Auch sein Tanzmeister (ὀρχηστοδιδάσκαλος oder ὀρχηστής) habe viele Schemata erfunden, wobei die Hände das gesprochene Wort begleiteten; er habe durch bloßen Tanz die Sieben gegen Theben darzustellen vermocht (dies offenbar außerhalb der tragischen Aufführung durch bloße Einzelpantomime). Man sage, daß die alten Dichter: Thespis, Pratinas, Karkinos, Phrynichos Tänzer hießen, weil sie nicht bloß in ihren Dramen den Chortanz als Hauptsache hatten, sondern auch außerhalb der eigenen Poesie als Tanzlehrer für jedermann auftraten. Von Phrynichos aber ist ein Epigramm erhalten247, worin er sich rühmt, daß ihm der Tanz so viele Schemata gewährt habe, als eine winterliche Sturmnacht Wellen im Meere errege.

Neben diesem allem treffen wir den Tanz frühe als künstlerische Exhibition einzelner. Vor allem findet er sich mit dem Ballspiele verbunden, das in seinen Bewegungen beinahe ein Tanz war, und zwar dies schon bei den Phäaken248. Vor Zuschauern tanzte wohl schon in sehr früher Zeit[137] der, welcher ein Instrument spielte, ja vielleicht auch der, welcher sang. Wir hören, daß die alten Kitharöden wenige Bewegungen mit dem Gesicht, viele aber mit den Füßen machten, und von dem Flötenspieler Andron aus Katana sagte Theophrast, er habe zuerst Bewegungen und Rhythmen hervorgebracht, indem er zum Spiele den Leib brauchte249. Beim Symposion finden wir, abgesehen von den gemieteten Tänzerinnen, z.B. das in Xenophons Convivium auftretende Kinderpaar, und wenn die Gäste getrunken hatten, ging hier oft ein ganz ordinäres Tanzen, auch der Häßlichen und Alten, an250. Aber ganz im Gegensatze zu Rom, wo Cicero251 bekanntlich sagen konnte: »memo fere saltat sobrius, nisi forte insanit, neque in solitudine neque in convivio moderato atque honesto«, kam das Tanzen auch in nüchternem Zustande bei Männern wie Pythagoras und Sokrates vor. Jener suchte dadurch Gesundheit und Beweglichkeit zu gewinnen252, dieser, den man öfter beim Tanz überraschte, pflegte zu sagen, das Tanzen sei eine Übung für alle Glieder253. Übrigens hielten es nicht alle Barbaren wie die Römer; Xenophon fand bei den Paphlagoniern eigentümliche, zum Teil dramatische Nationaltänze254 vor, denen seine Griechen die ihrigen entgegenstellten.

Durch alle diese Produktionen war ein und derselbe Geist der Musik verteilt, auf eine Weise, die uns nicht mehr schaubar ist; denn, wenn die bildende Kunst die Tanzbewegung darstellt, kann sie ja immer nur einen bestimmten Moment, nicht die ungeheure Reihenfolge festbannen. Zuletzt kam dann noch in der Kaiserzeit die Pantomimik, welche das spätere Altertum mit dem größten Vergnügen erfüllt hat; das große Hauptzeugnis für sie ist Lukians Schrift de saltatione.


Nachdem wir bis dahin den Tatbestand der musikalisch orchestischen Kunst in Kürze und soweit es unser unvollkommenes Wissen zuläßt, betrachtet haben, fragen wir nunmehr nach der Bedeutung, welche diese Künste für die Griechen hatten, nach ihrer Macht in der griechischen Anschauung.

Die Größe dieser Macht geht vor allem schon daraus hervor, daß die Musik durchweg auf göttliche und urzeitliche Stiftung zurückgeführt wird, wie wir dies schon früher gesehen haben255. In jeder Hinsicht, sagt[138] Plutarch von der alten Musik256, war sie feierlich, weil sie eine Erfindung der Götter war, und Apoll gilt ihm als Urheber der Musik überhaupt. Ganz eigentümlich aber war die ethische Bedeutung, die dieser Kunst zugeschrieben wurde und von der alle Autoren erfüllt sind. Wir finden sie als Reinigungs- und Heilmittel bei Orphikern und Pythagoreern, und von Pythagoras selbst wird berichtet, daß er mit seinen Rhythmen, Liedern und Heilgesängen (ἐπῳδαῖς) sowohl seelische als körperliche Schäden geheilt habe257; die Musik ist bei ihm mit Willen eigentlich noch gar nicht von der religiös medizinischen Kraftformel, d.h. von der Magie ausgeschieden. Aber auch noch Theophrast soll gesagt haben, sie heile viele Gebrechen von Seele und Leib, wobei durcheinander Ohnmacht, Beängstigungen, länger andauernder Irrsinn, Hüftweh und Epilepsie genannt werden, und zwar wird dies durch Vorspielen auf der Flöte zustande gebracht, und nach derselben Quelle258 heilte der Aristotelesschüler Aristoxenos, der große Musiker und Musiktheoretiker, durch die Flöte einen Irrsinnigen, nachdem dieser durch die Trompete nur in ärgere Tobsucht versetzt worden war259. Um aber auf Pythagoras zurückzukommen, was sollen wir dazu sagen, daß er für seine Person auch die Harmonie der Himmelskörper vernahm? Denn selbst die Bewegung der Sphären geschah nach seiner Lehre »nicht ohne Musik«.

Und bedenken wir nunA7, wie die Kriegsmusik dem Kriege und die heilige Musik dem Kultus auf Schritt und Tritt folgte, wie berühmte Tanzweisen in festlichem Götterdienst die Jugend einer ganzen Stadt vereinigten, wie keine Sendung eines Opfers oder eines Anathems ohne Begleitung durch ganze Chöre denkbar war, und welche mächtige Repräsentation endlich die Musik im Drama fand, so werden wir eine Vorstellung von dem ungeheuern Umfang dieses Betriebes erhalten. Früh wird auch das Erscheinen großer Meister bei musischen Agonen eine Lebensfrage für das betreffende Fest geworden sein. Ihr prächtig feierliches Auftreten daselbst schildert Herodot, der dergleichen noch erlebt haben muß, bei Anlaß Arions260: wie er noch von den Schiffern (welche Griechen, also erstens Mörder von Mitgriechen und zweitens kunstsinnig[139] sind) die Erlaubnis erbittet, in seinem ganzen Schmucke zu singen, und diese es gern gestatten, um den Gesang des besten Sängers von der Welt zu hören, und vom Hinterteil des Schiffes gegen dessen Mitte hintreten (offenbar, damit er völlig freistehe), und wie er dann zur Kithara den Nomos orthios singt, ehe er den Sprung in das Meer tut. Welche Aufregung aber ein solcher Virtuose in eine Stadt bringen konnte, beweist die offenbar noch in das VI. Jahrhundert gehörende Geschichte von dem Kitharöden, über dem sich am Herafeste zu Sybaris ein solcher Streit erhob, daß er im vollen Kostüm am Altar der Göttin ermordet wurde261. Bei den Musikaufführungen, zumal der Kitharöden, deren Kunst die anerkannteste gewesen zu sein scheint, strömte dergestalt alles ins Theater262, daß von feindlicher Seite hierauf so gut wie etwa auch auf die Teilnahme an Volksversammlungen263 ein Plan gebaut werden konnte. Den Kitharöden Aristonikos von Olynth (um 350 v. Chr.) benützte der bekannte persische Feldherr Memnon wenigstens dazu, um während seines Spieles die Bevölkerungszahl der bosporanischen Städte berechnen zu lassen, und ein gewisser Alexandros, Phrurarch von Äolis, mietete die besten Virtuosen aus Ionien, die Flötenspieler Thersandros und Philoxenos und die Schauspieler Kallippides und Nikostratos, und sagte eine große Aufführung an. Und als aus den Nachbarstädten alles herbeikam und das Theater voll war, umstellte er es mit seinen Soldaten und Barbaren und fing die zuhörenden Männer, Weiber und Kinder und ließ sie nur gegen hohe Lösegelder wieder los264. Wer eben überhaupt hörbar werden wollte, hatte es gleich mit ganzen Stadtbevölkerungen zu tun, welche irgendwo, und zwar meist im Theater der betreffenden Stadt, das von den Griechen so sehr geschätzte Vergnügen, massenweise versammelt zu sein, genossen. Dieses Publikum muß aber an das stillste Zuhören gewöhnt gewesen sein; denn, wie oben (S. 127) gesagt, bleibt es uns selbst so noch ein völliges Rätsel, wie ein gegriffenes oder nur mit dem Plektron angeschlagenes Saiteninstrument mit seiner geringen Resonanz in den weiten Räumen hörbar blieb265.

Daß sich in der Musik auch die Parodie bald meldete266, ist bei dieser allgemeinen Verbreitung der musikalischen Bestrebungen ebenso selbstverständlich,[140] wie daß es Musikdulder gab; den Ehemann z.B., der die Kymbeln und Pauken seiner Frau nicht ertragen kann, führt uns Plutarch vor267. Ein überaus wichtiges Zeichen aber für die Bedeutung der Musik im griechischen Leben ist, daß sich die Literatur frühe mit ihr beschäftigte, während sie die bildende Kunst noch so lange auf der Seite liegen ließ. Plutarch268 bezeugt, daß die meisten Platoniker und die besten PeripatetikerA8, auch Grammatiker und Harmoniker sich über die alte Musik und deren Verfall ausgesprochen hätten; in Sikyon kannte er ein Verzeichnis, das Dichter und Musiker anA9 einem chronologischen Faden aufzählte und den Aristotelesschüler Herakleides zum Verfasser hatte, und eine ähnliche chronologische Aufzählung bietet die erhaltene parische Marmortafel. Eine ganz vielseitige schriftstellerische Tätigkeit über die Musik entfaltete aber der große Peripatetiker Aristoxenos aus Tarent, dessen erhaltene Schrift von den »Elementen der Harmonik« (ἁρμονικὰ στοιχεῖα) in drei Büchern eine eigentliche Theorie der Musik gibt, während seine verlorenen und nur aus Titeln und Fragmenten bekannten Werke sich mit der Rhythmik, den Instrumenten, der Geschichte der Musik und ähnlichen Themen beschäftigten.

Diese Beschäftigung der Philosophen mit dem Gegenstand wird uns aber leicht begreiflich, wenn wir bedenken, daß die Griechen von der Musik, und zwar von ihrer uns so unvollkommen bemittelt erscheinenden Musik, auf eine ganz rätselhafte, magische Weise affiziert wurden. Und hier handelt es sich nun um ein ganz einziges Verhältnis, das sonst, wie uns scheint, in der ganzen Kulturgeschichte nicht mehr so dagewesen ist269, nämlich um die innige Relation der Musik zur Erziehung und zum Staatswesen. Wir haben früher270 die besorgliche Art betrachtet, womit Sparta sich der Musik offiziell versicherte. Es bestand aber überhaupt eine starke Überzeugung von der politischen Seite der Kunst, und diese findet hauptsächlich bei Plato an der wichtigen Stelle de republica III, 10 ff. ihren Ausdruck. Derselbe hält strenges Gericht über die Tonarten und die Rhythmen, welche in seinem Erziehungsstaat erlaubt sein sollen271,[141] und schreitet dann zu einem allgemeinen Satz über die ganze Umgebung des Daseins fort, wobei er die Identität von Schön gleich Gut und Häßlich gleich Schlecht als selbstverständlich festhält. Auch die Malerei sei nämlich erfüllt von denselben Gesetzen wie die musikalische Rhythmik und ebenso alle Arbeit, die mit dem Zeichnen und Malen zusammengehöre: Weberei, Stickerei, Baukunst, Bereitung aller Geräte, ja dasselbe gelte von Leibern und Pflanzen; denn überall finde sich hier Schönheit und Häßlichkeit, und die Häßlichkeit und der Mangel an Rhythmus und Harmonie seien mit übeln Reden und schlechter Sitte verwandt, ihre Gegenteile aber mit tugendhafter und guter Sitte; und dann kommt das Spezielle über die Kunstpolizei, die er in seinem Staate für die Nahrung der Jugend nötig fände; die Hauptnahrung liege freilich immer in der Musik, weil Rhythmus und Harmonie am meisten in das Innere der Seele drängen und am festesten darin hafteten272. Änderungen in der Musik aber ziehen, wie es an einer andern Stelle273 heißt, die größten Änderungen im Staate nach sich, und darum sollen die Wächter seines Idealstaates ihre Festung auf dem Grunde der Musik errichten.

Solche Aussagen wären wichtig, selbst wenn Plato hundertmal übertrieben hätte. Sie lassen auf eine enorme Erregbarkeit auf einem Gebiete schließen, worin jetzt der ganze Okzident, und selbst der Süden, stumpf erscheint, und von hier aus begreifen wir dann nicht nur die allgemeine Empfindlichkeit für alle Kunst, sondern speziell auch die Möglichkeit der großen dionysischen Erregung, welche bei den Griechen periodisch wiederkehrte. Wir erinnern hier auch nochmals an das schon zitierte Kapitel Strabos über den Kultus274 als Gelegenheit zu festlicher Erholung; hier wird aus dem göttlichen Ursprung der Musik der Satz abgeleitet, daß sie den Menschen vermöge des Vergnügens und der Kunstschönheit an das Göttliche knüpfe, und auch die Ordnung der Sitten wird ihr nach der Lehre der Philosophen beigelegt, indem alles, was den Sinn aufrichtet, den Göttern nahe sei. Wie daher von der Musik Heilung von Krankheiten erwartet wird, so hält man sie auch für fähig, bei bürgerlichen Zwistigkeiten den Frieden herzustellen, und ist auf der Hut vor musikalischen Neuerungen. Die Amphiktyonen z.B. üben ängstliche[142] Aufsicht über die agonale Musik in Delphi und schaffen u.a., wie oben275 gesagt, die Verbindung von Flöte und Gesang wegen ihres melancholischen Eindrucks wieder ab, und im allgemeinen vollends sind Dichter, Denker und Staatsmänner in tiefer Sorge vor allem zügellosen Spiel im Reich der Töne, besonders vor allem Luxuri ieren der Instrumentalmusik; dieselben wünschen die Musik an die eine Aufgabe zu binden, daß sie als begeistigte Melodie Stimmung und Empfindung ergreifend wiedergebe.

Vor allem sollten daher, wie wiederum Plato276 ausführt, die Gattungen nicht vermischt werden. Hymnen, Klagegesänge (ϑρῆνοι), Päane, Dithyramben, kitharodische Melodien sollten ihren besonderen Charakter wahren, und man sollte den der einen Melodie nicht für einen Anlaß brauchen, wo ein andererA10 am Platze war. Der Entscheid, ob darnach gehandelt werde, und auch das Recht zu strafen sollte, wie in der guten alten Zeit, nicht bei dem unmusischen Geschrei der Menge, sondern bei den Gebildeten stehen, welche unter völliger Stille das Aufgeführte bis ans Ende durchhörten. Auch Plutarch277 bemerkt, indem er von diesem Beharren auf dem einmal Gewonnen spricht, welches keine beliebigen Wechsel der Melodien und Rhythmen gestattete, die musikalischen Weisen hätten nicht umsonst Nomoi (Gesetze) geheißen. So konnte sich die alte Musik in ihrer Beschränkung auf wenige Saiten in ihrer Einfachheit und Feierlichkeit behaupten, und zwar in geflissentlicher Abstinenz, da den Künstlern reichere Mittel wohl bekannt gewesen wären, und die frühern (sehr mäßigen) Neuerer hielten sich alle innerhalb des Schönen (καλὸς τύπος)278. Auch die Poleis, welche ihre Gesetze am besten bewahrten, – Plutarch nennt Sparta, Mantinea, Pellene, Plato Sparta und Kreta – hielten lange streng an der alten Musik fest279, und was das Instrumentale betrifft, so ruft Pratinas, der Zeitgenosse des Äschylos, im Zorne darüber, daß der singende Chor sich dem Flötenspieler fügen wollte, statt umgekehrt: »Dem Gesang hat die Muse die Herrschaft gegeben! Später soll die Flöte im Reigen kommen, denn sie ist die Dienerin ... Aufhören soll der Phryger (Flötenspieler), der sich laut machen will vor dem vielseitigen Sänger! Wirf das speichelvergeudende Rohr ins Feuer usw.«280.

Das Widerstreben gegen musikalische Neuerungen findet seinen deutlichsten Ausdruck in der Geschichte von dem Kitharöden Timotheos[143] von Milet, dem sein Instrument, weil er die Zahl der Saiten von sieben auf elf vermehrt hatte, von den Spartanern weggenommen und in der Halle Skias aufgehängt worden war281. Aber dieser Konservatismus war damals (Timotheos starb alt 357 v. Chr.) vielleicht selbst für die Spartaner zu spät, wenn ihnen schon, wie gesagt, auch sonst Pietät für die alten Formen nachgerühmt wird. Überall sonst war die große Ausartung des griechischen Lebens und mit ihr, nach griechischer Anschauung als eine ihrer Ursachen, die Ausartung der Musik schon längst eingetreten, und vom Ende des Peloponnesischen Krieges an herrschte das, was Plato als Theokratie bezeichnet, zum Schaden der Poesie und des ganzen geistigen Zustandes von Griechenland. Die Theatermusik war nämlich Herrin über die Musik überhaupt geworden, und innerhalb des Theaters walteten nicht mehr die weisen Kampfrichter, sondern die Masse, die sich nicht mehr durch Ordnung regieren ließ, begehrte durch ihren Lärm zu entscheiden; die Zuschauerschaft war aus einer lautlosen eine laute geworden, als verstände sie, was in musikalischen Dingen schön sei und was nicht. Und wäre es nur wenigstens eine Demokratie freier Männer gewesen! Meister aber wurde der Dünkel aller, alles zu verstehen, der die Frechheit des Urteils im Gefolge hatte. Schuld waren die Dichter selbst, welche in wilder Begeisterung (βακχεύοντες) und der Sinnenlust (ἡδονή) über Gebühr folgend Threnen mit Hymnen, Päane mit Dithyramben mischten, den Kitharliedern Flötenlieder nachbildeten, kurz alles mit allem vermengten und aus Unwissenheit über die Musik behaupteten, dieselbe habe überhaupt kein System (ὀρϑότης) und werde am richtigsten nach dem Genusse des Hörers beurteilt, möge dieser etwas taugen oder nicht. Mit solcher Art des Produzierens und Räsonierens brachten sie der der Menge jene gesetzlose Stimmung und jene Keckheit bei, als wäre sie imstande zu richten282. Da der Ohrenschmaus das Allentscheidende war, kam natürlich jeder Gedanke an einen pädagogischen Zweck der Musik abhanden283; die Konzession aber, daß die Musik nach dem Lustgefühle (ἡδονή), das sie erregt, zu beurteilen sei, muß doch aber selbst Plato284 seinen AthenerA11 machen lassen, indem er fühlt, daß man nicht gänzlich gegen den Strom schwimmen könne; er möchte die gute Sache nur noch dadurch retten, daß es wenigstens das Lustgefühl der Gebildeten und nicht das des ersten besten sein sollte.

[144] In welchem Maße die Verantwortlichkeit für den Verfall die einzelnen Musiker treffe, darüber wird verschieden geurteilt. Es gab strenge Richter, welchen schon die Neuerungen von Pindars Lehrer Lasos von Hermione scheinen Bedenken erweckt zu haben285; doch scheint dieser Kühnheit und Reichtum noch mit Gesetzlichkeit verbunden zu haben. Richtiger war es wohl, wenn der Komiker Pherekrates die Dithyrambiker anklagt, welche vom Peloponnesischen Kriege an und in der ersten Hälfte des IV. Jahrhunderts die Gunst des Publikums genossen. In einem von Plutarch angeführten längern Fragmente286 ließ dieser die Musik mit entstellter Figur auftreten und der sie deshalb befragenden Gerechtigkeit folgende Auskunft erteilen: »Urheber meines Übels war Melanippides, der mich gehen ließ und mich schlaffer machte mit zwölf Saiten ... Dann brachte mich Kinesias, der verwünschte Attiker, mit seinen exharmonischen Ausweichungen in den Strophen so herunter, daß Rechts und Links sozusagen durcheinander geriet ... Phrynis brachte einen eigenen Wirbel hinein, bog und wendete mich und verderbte mich ganz, indem er auf fünf Saiten zwölf Harmonien hatte. Doch wären diese alle noch angegangen, wenn nicht Timotheos mich unter den Boden gestoßen und zerschlagen hätte ... und alle übertroffen hätte; durch die seltsamen Ameisenwege, die er mich führte usw.« Von den hier Genannten wird schon bei Aristophanes Kinesias wegen pomphafter und hohler Redeweise und rhythmischer Neuerungen, Phrynis wegen seiner Schnörkeleien verhöhnt, Kinesias wird auch von Plato getadelt, Plutarch sagt von Krexos, Timotheos, Philoxenos und ihren Zeitgenossen, daß sie plumpere Mittel angewandt hätten und neuerungssüchtig und auf momentanen Reiz und Erfolg erpicht gewesen seien287. Der 380 verstorbene Philoxenos, den Aristophanes im Plutos verspottet, galt dann in späterer Zeit, bei Antiphanes, wieder für klassisch; aber Aristoxenos führte doch ihn nebst Timotheos als die Vorbilder an, denen sich der in der trefflichen klassischen Musik erzogene Thebaner Telesias zuwandte, als er sich von der szenischen und bunten Musik völlig hatte betören lassen288. Endlich Dionys von Halikarnaß289 sagt, die Dithyrambendichter hätten entgegen der frühern Art auch in den Tropen (hier:[145] Tonarten) abgewechselt und hätten in einem und demselben Gesang dorische, phrygische und lydische vorgebracht, und dann hätten sie auch in den Melodien gewechselt, indem sie bald enharmonische, bald chromatische, bald diatonische anwandten; in den Rhythmen vollends seien sie ungestraft und nach Belieben verfahren, nämlich die Schule des Philoxenos, Timotheos und Telestes; denn bei den Alten sei der Dithyrambus noch geordnet gewesen.

Jedenfalls hatte in dieser Musik, welche nicht männlich, göttlich und den Göttern wohlgefällig war, sondern als eine entkräftete (κατεαγυῖα) und geschwätzige vor die Zuschauermassen gebracht wurde, nicht mehr die Poesie den Vorrang290; dafür wurde das Instrumentale sehr mächtig, wie denn berichtet wird, daß von dem genannten Melanippides an die Flötenspieler nicht mehr vom Dichter ihren Sold empfingen und also nicht mehr unmittelbar von diesem und dem Dirigenten abhängig waren291. Auch daß für Instrumente enorme Summen gezahlt wurden, z.B. von dem Flötenspieler Ismenias sieben Talente für eine Flöte292, gehört dahin. Ein besonders kritisches Phänomen war wohl auch das Zunehmen des Virtuosentums, welches von dem Ruhm früherer Sänger wohl zu unterscheiden ist, als Riß in den großen frühern Betrieb der Musik. So wie der einzelne Schauspieler jetzt als Pantomimiker oder als Einzeldarsteller von Rollen einen isolierten Ruhm und großen Gewinn erwartet, so war dies jetzt auch beim einzelnen Musiker der Fall; von einem athenischen Kitharöden heißt es, daß er jedesmal, wenn er auftrat, für den Tag ein Talent als Honorar empfing293. Für den Dithyrambus aber war abgesehen davon, daß er vom Kultus völlig abgelöst wurde, verhängnisvoll, daß er auf jede strophische Wiederkehr und Regelmäßigkeit verzichtete und sich in Rhythmen und Tonarten bewegte, die nur noch von Affekt und Laune des Dichters abhingen und beständig wechselten294.

Diese Entwicklung war eine unaufhaltsame. Wenn auch ein Künstler[146] anfänglich seiner Neuerungen wegen verspottet wurde, so mochte er sich daran erinnern, wie prophetisch Euripides dem Timotheos in einem solchen Falle einst Mut eingesprochen hatte, indem er ihm sagte, das Publikum werde ihm bald zu Füßen liegen295. Im Grunde wollte man die Neuerungen, und so konnte Anaxilas, ein Komiker der mittlern Komödie, die Musik mit Libyen vergleichen, das alljährlich ein neues Ungetüm erzeuge296. Plato läßt seinen Athener den Verderb, den er notwendig tadeln muß, als unheilbar und weit vorgeschritten bezeichnen297; Aristoxenos aber, der erste Musikhistoriker, in der zweiten Hälfte des IV. Jahrhunderts ist schon ganz laudator temporis acti. Er sagt: »Da die Zuschauermassen zu Barbaren heruntergekommen sind, und diese vulgäre Musik in große Verderbnis geraten ist, erinnern wir uns nur noch zu wenigen unter uns, wie die Musik einst war«, und diese wenigen vergleicht er mit den letzten Hellenen von Poseidonia, die auch, wenn sie unter sich zusammenkommen, nur ihre Nationalität bejammern können298.[147]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1957, Band 7, S. CXXVI126-CXLVIII148.
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