Die Bevölkerungsbewegung


1. Die Bevölkerungsbewegung.

[233] Über den wirtschaftlich-sozialen Zustand im römischen Kaiserreich ist die herrschende Lehre einigermaßen zweispältig. Auf der einen Seite läßt sich nicht verkennen, daß eine hohe Blüte vorhanden war; die Trümmer der gewaltigen Bauwerke jener Zeit sind noch heute redende Zeugen. Auf der anderen Seite findet man in den alten Quellen so viel Klagen über[233] Verfall, daß man sich ihnen nicht glaubt entziehen zu können und von fortdauerndem Niedergang, namentlich stetem Rückgang der Bevölkerung spricht. Die erste Ordnung ist in diese Wirrnis durch J. JUNG in den »Wiener Studien« I, 185 (1879) und MAX WEBERS »Römische Agrargeschichte« (1891) gebracht worden, aber weder diese Forscher selbst, noch ED. MEYER in seinem sonst höchst verdienstlichen Aufsatz »Wirtschaftliche Entwicklung des Altertums« (Conrads Jahrbücher f. Nationalökonomie 1895) scheinen mir in der Korrektur der Überlieferung weit genug gegangen zu sein.

Sieht man die einzelnen Quellenstellen, die den Rückgang der Bevölkerung bezeugen sollen, genauer an, so erkennt man, daß es sich entweder um lokale oder um temporelle Erscheinungen handelt, die für das ganze Reich und die Jahrhunderte nichts beweisen.

Wenn Plinius (hist. nat. VII, 45) berichtet, wie Augustus einmal aus Mangel an junger Mannschaft habe zur Aushebung von Sklaven schreiten müssen, oder wenn im Leben Marc Aurels (Scr. Hist. Aug. cap. 11) einmal die Wendung »Hispanis exhaustis« vorkommt, so ist daraus nichts zu schließen. Es handelt sich um zufällige, augenblickliche Verlegenheiten; Spanien z.B. unter Marc Aurel war durch die Pest sehr mitgenommen131.

Wenn Domitian i. J. 92 verbot, Kornfelder in Weinberge zu verwandeln, und in den Provinzen sogar die Hälfte aller Weinberge eingehen zu lassen befahl (Sueton 7), so deutet das keineswegs auf eine ungünstige, sondern eher auf eine gar zu üppige Entwicklung der Volks- und Landwirtschaft. Eine augenblickliche Teuerung in den Kornpreisen gab den Anlaß; man glaubte den Grund in der zunehmenden Trunksucht zu sehen, der Bevorzugung der Weinkultur durch die Landwirte, der Gewohnheit, sich auf die Getreidezufuhr von außen zu verlassen: deshalb ein Luxusgesetz, das das Volk zu den einfacheren Anbau- und Verbrauchssitten der Väter zurückführen sollte.

Sizilien wird schon von Strabo (VI, Kap. 1) als zurückgekommen und arm an Menschen geschildert. Über Griechenland, im besonderen Euböa, und über die nächste Umgebung von Rom selbst, das einst so fruchtbare alte Latium, hören wir ähnliches. Aber das sind von dem ganzen großen römischen Reich nur sehr kleine Stücke, und es hatte bei ihnen besondere Ursachen. Daß der Ackerbau in der unmittelbaren Nähe einer sehr großen Stadt zurückgeht und durch Weidenwirtschaft ersetzt wird, ist auch anderswo beobachtet worden; Ed. Meyer a.a.O. führt als Analogen das heute Dublin an. Sizilien hatte durch die Sklavenkriege sehr gelitten, führte aber trotzdem noch immer erheblich nach Rom aus. Auch Italien war im letzten Jahrhundert der Republik durch die Großweidewirtschaft und den landwirtschaftlichen Betrieb mit Sklaven zurückgegangen, füllte sich aber im[234] ersten Jahrhundert n.Chr. von neuem mit Kolonnen-Familien132. Wenn man überlegt, daß von Mittel-Italien aus in 300 bis 400 Jahren das gewaltige Keltengebiet, Oberitalien, Frankreich, Britannien, die Rhein- und Donauländer, ferner Spanien und Nordafrika, endlich noch Dacien latinisiert worden sind, so ist das nicht anders denkbar, als vermöge einer sehr starken Auswanderung. An den Grenzen latinisierten die Legionen, aber im Binnenlande lagen sehr wenig oder gar keine Truppen; die wenigen von Rom aus in die Provinzen gesandten Beamten kommen kaum in Betracht; bäuerliche Kolonisation höchstens an einigen Stellen. In der Hauptsache muß die die Latinisierung getragen worden sein von einer Kaufmanns- und Handwerkeransiedlung in den Städten. Die Städte sind auf die Dauer das Maßgebende für den Sprachcharakter eines Landes, nicht die Bauernschaften. Die Änderung schreitet vor von oben nach unten; auch eine nicht sehr große Zahl von Einwanderern, die an Kapital und Technik die Überlegenheit hat, genügt, gestützt auf die politische Herrschaft, eine Landschaft zu entnationalisieren. So erklärt sich die reißend schnelle Inkorporierung des ganzen Okzidents durch den latinischen Stamm. Während ein Unterstrom fortwährend proletarische Elemente aus Italien und aus der ganzen Welt nach Rom zog, ging ein Oberstrom von ebenda in die Provinzen. Aus dem Konfluxus der Menschenmassen in Rom hoben sich fortwährend so viele tatkräftige und betriebsame Persönlichkeiten nach oben, daß sie fähig wurden, als Vertreter der hauptstädtischen Überlegenheit in die Provinzen zu gehen, dort prosperierten, ein neues wirtschaftliches und soziales Leben schufen und zugleich romanisierten. Von Cadix und Padua ist uns zufällig die Nachricht erhalten, daß dort im ersten Jahrhundert nicht weniger als 500 römische Ritter (Großkaufleute) lebten133. Die unmittelbaren Vorfahren der Menschen, die in Gallien, Spanien und Afrika das lateinische Wesen vertraten und ausbreiteten, waren vielleicht aus eben diesen Provinzen nach Rom gekommen und dort latinisiert worden. Die Tatsache dieses Doppelstromes in der Bevölkerungsbewegung dürfte keinem Zweifel unterliegen, da auf der einen Seite notwendig eine starke Auswanderung in die Provinzen angenommen werden muß – denn ohne sie wäre die schnelle Latinisierung nicht zu erklären –, auf der anderen dieser Verlust fortwährend ersetzt wurde, Rom eine sehr große Stadt blieb und wohl sogar noch wuchs.

Hat also eine unausgesetzte, sehr starke Wanderung, eine fortwährende Schiebung stattgefunden, so ist es natürlich, daß dabei auch mancherlei schmerzhafte Friktionen vorkamen und manche Gegenden aus mehr oder weniger zufälligen Ursachen zurückgingen, während doch das Ganze wuchs.

Im besonderen ist aus den häufig wiederholten Klagen über den Mangel an ländlichen Arbeitern und wüste Äcker (agri deserti) keineswegs[235] auf einen Rückgang der gesamten Bevölkerung zu schließen. Auch aus dem heutigen England in all seiner wirtschaftlichen Üppigkeit ertönt die Klage, daß ganze Landstrecken aus Mangel an Händen unbebaut bleiben müssen, und in unserem Ostelbien würden heute halbe Kreise brach liegen, wenn wir nicht jährlich einige Hunderttausend fremde Landarbeiter aus dem Osten bezögen. Dabei nimmt die Bevölkerung des Deutschen Reiches jährlich um nicht weniger als 900000 Seelen zu (vor 1914). Wenn also schon Plinius über Mangel an ländlichen Arbeitskräften klagt, wenn man seit Hadrian die Kolonen gewaltsam auf den Gütern festzuhalten suchte, wenn Pertinax (193) die Okkupation unbebauten Landes gestattete und beförderte134, wenn wir seit Aurelian (270-275) legislative Verordnungen über wüste Äcker finden135, so sind das alles noch ganz und gar keine Beweise für den Rückgang der Bevölkerung.

Irgend eine Zahl, die uns einen Anhalt gäbe für die Bewegung der Bevölkerung unter den Kaisern, ist uns nicht erhalten136, daß aber tatsächlich keine Abnahme, sondern eine wesentliche Zunahme stattgefunden hat ergibt sich aus folgenden Erwägungen und Zeugnissen.

Appian (um die Mitte des 2. Jahrhunderts) bezeugt (Einleitung, 7. Kapitel) eine hohe wirtschaftliche Blüte. Dies Zeugnis wird bestätigt durch die großen Bauten, namentlich die Straßenbauten, die teils noch heute erhalten, teils durch zahlreiche Inschriften bezeugt sind137. Straßenbauten durch Jahrhunderte hindurch dürften der sicherste Gradmesser für steigenden Volkswohlstand sein, der existiert. Keine monarchischen Launen, kein militärischer Zweck kann konstant so große Kraftaufwendungen erklären, wenn nicht starke wirtschaftliche Kräfte und Zwecke dahinterstehen138.

Wachsender Wohlstand wiederum ist schlechthin unvereinbar mit dauerndem Rückzug der Bevölkerung. Wir haben ja heute in Frankreich das Beispiel wachsenden Wohlstandes bei fast stagnierender Bevölkerung. Aber selbst wenn das römische Reich in den 265 Jahren von Augustus bis Alexander Severus nur so langsam an Seelenzahl zugenommen, wie Frankreich im 19. Jahrhundert, so hätte es sich schon beinah verdreifacht,[236] denn Frankreich hat immer noch eine durchschnittliche Zunahme von 0,04 Prozent gehabt, und das ergibt eine Verdoppelung von 174 Jahren. Die antike und mittelalterliche Bevölkerungsbewegung wird sich von der modernen wesentlich unterscheiden durch Mangel an Konstanz. Auch in den friedlichen Zeiten des römischen Kaisertums hören wir sehr häufig Klagen über Pest und Hungersnot, die in der Bevölkerungsgeschichte der heutigen Kulturwelt kaum noch eine Rolle spielen. Die Zunahme ist deshalb im Altertum trotz wirtschaftlicher Prosperität im ganzen gewiß nicht sehr stark gewesen, aber es gehört auch nur ein kaum bemerkbares jährliches Minimum dazu, um in zweieinhalb Jahrhunderten doch schon eine Verdoppelung hervorzubringen, und eine Vermehrung von 60 auf 90 Millionen Seelen werden wir ganz gewiß ohne Übertreibung ansetzen dürfen139.

Ich halte es nicht für unmöglich, daß die Vermehrung noch erheblich größer gewesen ist; aber selbst wenn sie das Doppelte betragen hätte, so wäre sie immer noch im Verhältnis zu der natürlichen Fortpflanzungsfähigkeit der Völker äußerst gering. Das erklärt uns die Gesetze des Augustus und späterer Kaiser zur Beförderung der Ehen und Aufbringung von Kindern. Man könnte diese Gesetzgebung wohl ganz aus unserer Betrachtung ausschalten, da sie sich doch nur auf eine bestimmte dünne Schicht der Bevölkerung, im besonderen der Stadt Rom, bezieht140. Aber ganz abgesehen davon, war ja auch nach unserer Annahme die Volksvermehrung so klein, daß die Zeitgenossen kaum zu erkennen vermochten, ob überhaupt ein Fortschritt stattfinde, und die kaiserliche Ehegesetzgebung zwingt keineswegs zu dem Schluß, daß eine absolute Stabilität oder gar ein Rückgang stattgefunden habe, sondern setzt nur voraus, daß in der römischen Bürgerschaft, oder nur in gewissen Teilen der Bürgerschaft, die Vermehrung weit hinter dem naturgemäßen Wachsen zurückblieb. Zeitweilig mag auch ein wirklicher Rückgang statt gefunden haben. Aber weder die Klagen der Schriftsteller, noch diese Gesetzgebung stehen im Wege, daß wir im ganzen einen langsamen Fortschritt annehmen.[237]

Positiv bezeugt wird uns die Menschenfülle für Afrika durch Herodian III, 4. Eine Reihe von großen Städten, namentlich Karthago, ist hier ohnehin sicher, Herodian fügt aber (zum Jahre 237) auch noch ausdrücklich hinzu, daß es viel Landbauern habe. HEISTERBERGK, die Entstehung des Kolonats (1876), S. 113 ff., hat durch mancherlei Vergleiche die Glaubwürdigkeit dieses Zeugnisses noch besonders erhärtet.

Für Spanien finde ich ein Zeugnis bei JUNG, »Die romanischen Landschaften des römischen Reichs«, Bd. I, S. 43. Hier wird ein Geograph aus dem Anfange des 4. Jahrhunderts zitiert, der über Spanien schreibt: »Ein breites, großes Land, reich an Männern, die in allen Geschäften erfahren sind. Es exportiert Öl und Schmalz, Schinken und Zugvieh nach allen Weltgegenden, besitzt alle Güter und ragt in allem hervor«.

Daß Gallien und Oberitalien unter den Kaisern blühend und volkreich waren, wird eigentlich von keiner Seite bezweifelt. Die Literatur zeigt hier eine so entwickelte städtische Kultur, daß sie ohne allgemeine wirtschaftliche Blüte nicht denkbar ist.

Die Bevölkerung Ägyptens hat Diodor I, 31 auf 7 Millionen angegeben, Josephus II, 385 auf 71/2 Millionen, abgesehen von Alexandria, also mit dieser Stadt waren es wenigstens 8 Millionen. Mag die Berechnung auch gewissen Zweifeln unterliegen und, wie ich SEECK, Gesch. d. Unterg. d. antiken Welt I, 505 gern zugebe, aus solchen sich zufällig dem Vergleich bietenden Zahlen ein sicherer Schluß nie gezogen werden können, so haben wir doch auch hier wenigstens ein Wahrscheinlichkeitszeugnis nicht nur gegen Verminderung, sondern für eine sehr bedeutende Vermehrung. Die neuerdings gefundenen Papyri bestätigen, daß Ägypten unter den Kaisern sehr stark bevölkert war. ERMAN und KREBS »Aus den Papyrus der Königlichen Museen« (1899) S. 232, stellen aus einer Steuerdeklaration fest, daß unter Marc Aurel in dem zehnten Teil eines Hauses im Fainym nicht weniger als 27 Personen wohnten. Wo die Bevölkerung sich so zusammendrängt, muß sie sehr zahlreich sein.

Alles Gesagte soll nun im wesentlichen nur bis zu der großen wirtschaftlichen Abwandlung von der Mitte des 3. Jahrhunderts an gelten. Wie der Rückfall in die Naturalwirtschaft auf die Bevölkerungsbewegung eingewirkt hat, bleibe zunächst dahingestellt. Sehr schnell und stark wird die Einwirkung jedenfalls weder nach der einen noch nach der anderen Seite gewesen sein.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 233-238.
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