1. Die Notitia dignitatum und die Heereszahlen.

[314] Aus der Zeit des Honorius ist uns eine merkwürdige Urkunde, eine Art Staatshandbuch des römischen Reichs, die Notitia dignitatum, erhalten, aus der WIETERSHEIM, Gesch. d. Völkerwanderung, 2. Aufl. I, 34, hat berechnen wollen, daß das Gesamtheer beider Hälften des römischen Reichs 900000 bis eine Million Mann stark gewesen wäre: dahingestellt bleibt, wie weit die Etats vollzählig gewesen seien. MOMMSEN, Hermes Bd. XXIV, 257 ist vorsichtiger, schätzt aber immerhin auch das römische Heer damals noch auf viele Hunderttausende. Wäre das richtig, so wäre die Völkerwanderung völlig unerklärlich. Da aber die zahllosen Legionen und sonstigen Truppenteile, die die notitia aufzählt, in der Wirklichkeit der Kriege und Schlachten nicht auftreten, so haben sie eben nur auf dem Papier bestanden. Man wird wohl längst vergangene Truppenteile aus alten Ranglisten immer noch wieder abgeschrieben und weitergeführt haben. Die limitanei, existierten wohl noch, waren aber keine wirklichen Soldaten mehr, sondern Grenzer, die in der Schlacht nicht zu gebrauchen waren.

DAHN ist der richtigen Auffassung des Verhältnisses der Germanen zu den Romanen an einer Stelle schon ganz nahe gewesen. Bd. III, S. 58 zitiert er, wie die Goten sich einmal rühmen lassen, daß sie für die Ruhe und Sicherheit der Römer wachten: »durch Abtretung eines Teiles des Bodens habt ihr euch Verteidiger erworben« – und fügt hinzu: »In Wahrheit waren Vorsicht und Mißtrauen und wohl auch die geringere Kriegstüchtigkeit der Italiener die Gründe dieser Schonung« (nämlich Verschonung mit dem Kriegsdienst). Erweitert man den kleinen Spalt, der mit den Wörtchen »wohl auch« geschaffen wird, zu einem breiten und tiefen Graben, so stößt man auf die Wahrheit.

Auch manche kleinere Zahlen, die bisher für glaubwürdig gegolten haben, werden nunmehr angezweifelt oder vielmehr verworfen werden müssen. Z.B., daß Theoderich seiner Schwester Amalafrida, als er sie dem Vandalenkönig Thrasamund vermählte, 1000 Doryphoren und 5000 streitbare Knechte mitgegeben habe. Procop, bell. Vand. I, 8. Eine solche Begleitung wäre stärker gewesen als das Korps der Belisarschen Armee, das 30 Jahre später das ganze Vandalenreich in den Staub warf.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 314.
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