Beatus Avitus.

[427] Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen dem fränkischen und den anderen germanisch-romanischen Staaten ist, daß in jenem die beiden Volkselemente von Anfang an nicht so scharf getrennt blieben, wie in diesen, daß zwar auch im Frankenreiche, wie in den andern Staaten, ein Kriegerstand existierte, daß aber dieser Stand nicht so ausschließlich auf den herrschenden Germanenstamm beschränkt war, sondern auch Romanen in sich aufnahm. Bei den Ostgoten und Vandalen ist es klar und unzweifelhaft, daß nur sie und nicht die Römer innerhalb ihres Gebietes als waffenfähig und waffenpflichtig angesehen wurden. Bei den Westgoten sind die verschiedenen Epochen zu unterscheiden. Bei der Begründung des Reiches und in den ersten Generationen kann es kaum anders gewesen sein, als bei den verwandten Stämmen. Im siebenten Jahrhundert ist die scharfe Rassenunterscheidung abgestorben. Für die Frage, wann und wie bald sich diese Wandlung vollzogen hat, kommt als Zeugnis das Leben eines heiligen Avitus in Betracht, daß in dem AA. SS. Bolland, 17. Juni, 2. Ausg., Bd. IV, S. 292, abgedruckt ist (Beatus Avitus, Eremita in Sarlatensi apud Petrocovios dioecesi). Es lautet:

»Beatus Avitus ex nobili prodiens stirpe ad alta pullulando, congruenti tempore maturos fructus longe lateque redolenti suavitate produxit. Hic, secundum schema curialis prosapiae, altorum natalium productus floruit germine ac loci Principum; et in quodam vico nomine Linocasio Petragoricae provinciae felicis nativitatis sumpsit[427] exordium. Vix tempore ablactationis emerso parentum cura urgente, litterarum imbuendus studiis traditur. Transcurso igitur puerilis metae bravio, jam juvenili pubescens flore bivium attigit Pythagoricae litterae in quo utriusque vitae confinio, dextrum ramum praeelegit sapienti comitio; malens in exilio hujus vitae coactari, quam ambitiose vivendo, vel voluptatum latitudinem sequendo, in extremo judicio dammari.

Ea tempestate Alaricus, Christiani nominis publicus inimicus, regnum Gothorum obtinuit: qui tyrannica crudelis animi rabie, et feralis saevitiae atrocitate, adepti regni potentia in superbiam elatus, et qui brrachio suae fortitudinis undequaque affines vincere est solitus; spei animatus majoris fiducia, oppugnandi scilicet gratia regnum adire disposuit Franciae; quod suae pertinaciae votum ut firmis roborari videt assensu morum totius regni [argenti] ponderosa massa per executores in unum corpus conflatur: et quisque ex militari ordine viribus potens, donativum regis volens nolens recepturus, per praecones urgente sententia invitatur.

Beatus ergo Avitus, Athleta Dei strenuissimus, jam triumpho philosophicae palaestrae nobiliter potitus, censu majore, equestri gradu natalium, licet invitus, seculari praescriptus militiae, quasi alter Martinus militare donativum recepturus, inter ceteros praenotatur, ut contra hostilem Francorum aciem pugnaturus. Qui non surdus illius auditor Evangelii, ubi praecipitur Reddite ergo Caesari quae sunt Caesaris, et quae sunt Dei Deo, exterius baltheo circumcintus et secularibus armis obumbratus: interius vero Christi gerens occultum militiam terreno Regi accessit miltaturus«.

Die Schlacht, in der Avitus gefangen genommen wurde, ist Vouglé i. J. 507. Könnten wir unserer Quelle unbedingt trauen, so hätten die Westgoten schon damals einen Kriegerstand gehabt, dem auch vornehme Romanen angehörten. Der Text dieser Vita stammt jedoch aus einer viel späteren Zeit, so daß wir, wenn schon alte Aufzeichnungen zugrunde liegen, den Vorstellungen, die uns entgegentreten, im einzelnen nicht trauen dürfen. Immerhin wird die Tatsache, daß der junge Avitus, obgleich ein gebildeter, vornehmer Römer, ins Feld zog und in Gefangenschaft geriet, bestehen bleiben. Aber es ist fraglich, ob daraus viel zu schließen ist. Ausgeschlossen ist es aber nicht, daß schon damals bei den Westgoten, ähnlich wie bei den Franken, vornehme Römer, indem sie in den Dienst des Germanenkönigs traten, auch in den Kriegerstand übergingen, der verpflichtet war, dem Kriegsaufgebot zu folgen. Möglich ist aber auch, daß der fromme Erzähler das Zwangsgebot, das den Avitus nötigt, das Schwert umzugürten, fingiert hat, und daß der junge Mann freiwillig sich hat anwerben und vom König oder einem Grafen in sein Gefolge hat aufnehmen lassen. Dafür spricht besonders der Sold, den er empfängt. Daß der König Alarich II. sein Heer wirklich besoldet habe, ist nicht anzunehmen. Entweder es[428] ist das auch eine Zutat des Erzählers, oder es ist das Geschenk gemeint, das der Herr seinen Gefolgsmännern gibt.

Mit Sicherheit können wir also aus der Erzählung nur so viel entnehmen, daß im Anfang des sechsten Jahrhunderts im westgotischen Reich zum wenigsten auch vereinzelte Römer dienten.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 427-429.
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