Schlacht bei Azincourt.

25. Oktober 1415.

[484] Die Schlacht bei Azincourt zeigt in ihrem strategischen Ausgangspunkt noch mehr Ähnlichkeit mit Crecy als Maupertuis. Wieder landete der englische König, Heinrich V., in der Normandie und zog von da nach Flandern. Wieder suchten die Franzosen ihm den Somme-Übergang zu verlegen, und da ihnen das an der Mündung gelang, mußte Heinrich über 100 Kilometer, fast bis an die Quelle des Flusses, aufwärts marschieren, bis an einer Stelle, wo der Fluß nach Norden ausbiegt, und die Franzosen um den Bogen herum marschieren mußten, die Engländer auf der Sehne den kürzeren Weg hatten, ihnen zuvorkamen und hinüber gelangten. Im Jahre 1346 kam es dann nach dem Somme-Übergang zur Schlacht, indem die Engländer auf ihrem Marsch Halt und Kehrt machten, eine Stellung nahmen und die verfolgenden Franzosen erwarteten. Im Jahre 1415 gelang es den Franzosen, indem sie noch fünf Tage nordwärts mit den Engländern parallel marschierten, diesen einen Vorsprung abzugewinnen und sich ihnen in den Weg zu stellen, so daß die Engländer angreifen mußten.

Damit ist die Lage gerade die umgekehrte geworden wie bei Crecy, und die Schlacht verspricht taktisch von höchstem Interesse zu werden. Denn die Stärke der englischen Taktik kombinierter abgesessener Ritter und Schützen bei Crecy lag in der Defensive – wir wird man in der Offensive zum Erfolg kommen? Die Franzosen hatten zu ihrer Aufstellung eine Enge zwischen zwei Wäldern gewählt, nach einigen Angaben nicht mehr als 500 Meter breit. Einen halben Tag scheint Heinrich V. gezögert und vielleicht geschwankt zu haben, ob er den Angriff wagen sollte: dann aber wird er sich gesagt haben, daß, wenn er versuche, um die Franzosen herumzukommen, sie sich ihm doch wieder vorlegen oder ihn im Marsche angreifen und sich mittlerweile noch verstärken würden, daß es also am besten sei, die Schlacht auf der Stelle zu wagen.[484]

Die Aufgabe einer Darstellung der Schlacht ist, es verständlich zu machen, wie die Engländer über die tapfere französische Ritterschaft siegten, obgleich sie diesmal all' der Vorteile, die bei Crecy und Maupertuis ihren Sieg erklären, entbehrten, und obgleich die Quellen, auch die französischen, darin einig sind, ihnen eine entschiedene Minderheit zu geben. Keine der früheren Darstellungen hat dies Rätsel zu lösen vermocht; die meinige stützt sich auf eine Spezial-Untersuchung von FRIEDR. NIETHE.459

Der erste Punkt ist, ob die numerische Überlegenheit der Franzosen anzunehmen und nicht vielmehr die der Engländer zu vermuten ist. Die Quellen sind allerdings einig, daß die Franzosen viel stärker gewesen seien, aber auch die französischen Quellen, die wir haben, sind nicht Freunde, sondern Gegner der Geschlagenen. Einen Bericht, der den Standpunkt der Partei Orléans, der Armagnacs, verträte, haben wir überhaupt nicht; die Quellen stammen samt und sonders aus gegnerischen Lagern. Überdies werden wir bei den Hussitenkriegen noch erfahren, daß auch die Angaben über die Stärke der eigenen Partei nach einer Niederlage zuweilen übertrieben sind, und bei Azincourt sprechen die Tatsachen eine sehr deutliche Sprache, daß es so gewesen ist. Hätten die Franzosen sich stark genug gefühlt, die Engländer anzugreifen, so wäre der Moment dazu unmittelbar nach dem Übergang Heinrichs über die Somme gewesen, wo man sich, bei Peronne, einander gegenüberstand. Die Franzosen aber ließen Heinrich an sich vorüberziehen und suchten ihn durch die etwas plumpe Kriegslist, daß sie ihn zum rittermäßigen Kampfe herausfordern ließen, aufzuhalten. Dies Verhalten läßt kaum eine andere Erklärung zu, als daß sie Zeit zu gewinnen wünschten, weil ihnen noch viele Kontingente fehlten. Da ja auch Heinrich gemäß der englischen Taktik auf einen Angriff nicht ausging, so zogen die beiden Heere fünf Tage lang fast unmittelbar nebeneinander her. Es war ein vollkommener Wettlauf: gewann Heinrich einen Vorsprung, so hatte er die Wahl, ohne Schlacht auf das ihm gehörige Calais zu gehen, oder sich umzudrehen und den Franzosen die Schlacht anzubieten, wie sein Ahn bei Crecy; gewannen aber die Franzosen den Vorsprung,[485] so zwangen sie die Engländer, die ihrer Taktik widersprechende Offensiv-Schlacht zu schlagen. Heinrich machte die stärksten Märsche, ohne seinen Truppen, die schon 14 Tage ununterbrochen marschierten (8. Oktober Aufbruch von Harfleur), einen Ruhetag zu gönnen. Die Franzosen waren schließlich doch die schnelleren – aber um den Preis, daß ihre Verstärkungen sie bei solchem Marschieren nicht einholen konnten. Der Connetabel, d'Albret, mag sich getröstet haben, daß man mit der Bewegung nach Norden wenigstens dem Herzog von Brabant, der mit Zuzug unterwegs war, entgegengehe, und als man die Stellung bei Azincourt nahm, wird man sein Eintreffen stündlich erwartet haben: wir erfahren aber, daß er schließlich nur persönlich im letzten Augenblick noch auf dem Schlachtfelde erschienen ist, seine Ritter aber nicht mehr am Kampfe teilgenommen haben. Das alles erzwingt den Schluß, daß die Franzosen in den sechs tagen seit dem Übergang der Engländer über die Somme keine wesentliche Verstärkung erhalten, daß sie also auch bei Azincourt nicht, wie die Quellen sagen, stark, sondern schwach gewesen sind. Daß Heinrich dennoch Bedenken getragen hat, sie anzugreifen, erklärt sich zur Genüge aus dem Defensiv-Charakter der englischen Taktik. Niethe berechnet die Engländer auf etwa 9000 Mann, darunter 1000 Ritter, und dementsprechend die Franzosen auf 4000-6000 Mann.460 Er nimmt an, daß Heinrich keine Spießknechte zu Fuß, sondern außer den schweren Reitern nur Bogner gehabt habe, die ja neben dem Bogen auch eine oder die andere blanke Waffe trugen.

Ihrer defensiven Absicht entsprechend, ließen die Franzosen einen Teil ihrer Ritter absitzen; mit ihnen und den Fußknechten waren die Armbruster aufgestellt. Da aber eine solche Aufstellung mit reiner Defensive dem Feuer der zahlreichen englischen Bogner wehrlos ausgesetzt gewesen wäre, so blieben zwei Abteilungen der Ritter zu Pferde auf beiden Flügeln, um, falls die englischen Bogner sich wirklich heranwagten, den Gegenstoß zu machen und sie niederzureiten.

Diese Aufstellung scheint ganz wohl überlegt, litt aber an fundamentalen Fehlern. Sie beruhte auf der an sich ganz richtigen[486] Voraussetzung, daß Bogner im freien Felde einem Reiterangriff nicht standhalten können. Aber es kommt auch auf die Menge auf beiden Seiten an. Die französischen Reiterscharen, die die Bogner attackieren sollten, waren nur ein Teil des französischen Heeres und stießen bei ihrem Vorgehen auf die Gesamtheit der Engländer, während das Gros des eigenen Heeres in der Defensiv-Stellung, also untätig, verharrte. Der Schlachtplan der Franzosen lief mithin auf eine Zersplitterung ihrer Kräfte hinaus. Die strategische Situation hatte den Franzosen die Defensive auferlegt. Wären sie an Schützen annähernd so stark gewesen wie die Engländer, so hätten sie trotz ihrer Minderzahl siegen können. Aber an dieser Waffe waren die Franzosen sehr schwach,461 und für ein Heer in blanken Waffen ist die Defensive eine sehr schlechte Form des Kampfes. Das Richtige wäre gewesen, mit Reitern und Fußvolk gleichzeitig zum Angriff zu schreiten in dem Augenblick, wo die englischen Schützen nahe genug waren. Das ist offenbar durch die Vorstellung, man müsse sich möglichst in der Defensive halten, verhindert worden. Die Unmöglichkeit der reinen Defensive aber gegenüber den englischen Fernwaffen erzeugte die partielle Offensive der Berittenen, die nun erst recht keinen Erfolg haben konnte.

Noch richtiger wäre es wohl gewesen, da das Heer einmal nach seiner Zusammensetzung für die Defensive so ungeeignet war, die Engländer während der vorhergehenden Marschtage irgendwo anzugreifen. Heinrich hatte das auch besorgt und deshalb seine Bogner alle mit spitzen, etwa zwei Meter langen, starken Stäben ausgerüstet, die sie im Fall einer Annäherung feindlicher Reiter in der Form einer Pallisade vor sich aufpflanzen sollten, um schnell eine Schutzwehr zu bilden. Wir werden sehen, wie die Engländer, obgleich sie jetzt genötigt waren, ihrerseits zum Angriff zu schreiten, doch von diesem Hilfsmittel Gebrauch gemacht haben.

Ehedem, wenn Ritter mit Schützen zusammen ins Gefecht gezogen waren, waren die Ritter den Schützen zu Pferde gefolgt.

König Heinrich ließ jetzt seine Ritter absitzen und sich mit den Bognern mischen. Er wandte also die Kampfesform, die die Engländer bisher in ihren Defensiv-Schlachten erprobt hatten,[487] nunmehr auch auf die Offensive an. Der Grund der Abwandlung ist in dem numerischen Verhältnis der beiden Waffengattungen zu suchen. Heinrich hatte wohl achtmal so viel Schützen als Ritter. Blieben diese zu Pferde, so waren vom Augenblick ihres Ansprengens an die Schützen außer Spiel gesetzt. Das war erträglich und natürlich gewesen, wo die Schützen auch der Zahl nach nur Nebenwaffe bildeten und die Entscheidung allein von der Ritterschaft erwartet wurde. Wo aber, wie jetzt, die Schützen die Waffe des Heeres bildeten, mußten die Ritter mit ihnen in engster Vereinigung bleiben, und das war nur möglich, wenn sie absaßen, so unbequem ihnen das Marschieren in ihrer schweren Rüstung war. Damit sie nicht gar zu sehr außer Atem kämen, wurde bei der Vorwärtsbewegung einmal Halt gemacht.

Als man auf Schußweite an den Feind herangekommen war, schlugen die Bogner vor sich spitze Pfähle in den Boden. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie das möglich gewesen, da doch in jedem Augenblick die französische Ritterschaft zur Attacke ansetzen konnte, und man von der kurzen Feuerzeit so zu sagen keine Sekunde und keinen Bogen verlieren durfte, ferner auch das weitere Vorgehen der Engländer selbst durch die Pfähle behindert wurde. Da es aber von zwei von einander unabhängigen Quellen berichtet wird und auch ausdrücklich gesagt wird, daß die französischen Reiter über die Pfähle gestürzt seien, so werden wir es glauben müssen und die Erklärung darin sehen, daß die Franzosen in ihrem Defensivgedanken den Engländern die Zeit gelassen haben, dieses Stück ihrer Defensivtaktik in die Offensive zu übertragen. Vermutlich ist auch nicht die ganze Front so verpallisadiert worden, sondern nur einige Strecken auf den Flügeln, den Reitern gegenüber, vielleicht ein Stück rückwärts, ehe man auf die eigentliche Schußweite an die Franzosen herangekommen war: man ließ also das Zentrum vorausgehen, um durch den Pfeilhagel auf das französische Fußvolk die Ritter zur Attacke zu reizen, die sie dann auch in den Pfeilschuß der zurückgehaltenen und verpallisadierten englischen Flügen führte.

Wie dem auch sei, ganz wie bei Crecy gelang es der ungeheuren Masse der englischen Bogner, vereint mit ihren abgesessenen Rittern den Ansturm der einigen hundert französischen[488] Ritter abzuschlagen, und als nun die Reiter oder reiterlosen Pferde vielfach verwundet zurückjagten und das eigene, sich jetzt erst in Bewegung setzende oder gar stehengebliebene Fußvolk in Unordnung brachten und entmutigten, die Engländer aber, indem auch die Schützen ihre blanken Waffen in die Hand nahmen, entschlossen auf sie eindrangen, da hielten die Franzosen dem Ansturm nicht stand und wurden überwältigt. Die französischen Schützen hatten sich vor der überlegenen Masse der englischen Pfeile gleich im Beginn des Gefechts ins Hintertreffen zurückgezogen. Sehr viele vornehme Herren kamen um oder fielen in Gefangenschaft, sowohl bei dem mißglückten Reiterangriff, wie nachher in dem Fußkampf, wo gerade für die abgesessenen Schwergewappneten jede Flucht ausgeschlossen war.

Wie bei Salamis und Tagliacozzo haben wir auch hier die Erzählung (Walsingham), daß die französischen Ritter in ihrer festen Rüstung sich nicht genügend hätten bewegen können und deshalb von den leichtbewaffneten Engländern unschwer überwunden worden seien, so daß man annehmen müßte, ein Mann mit Rüstung sei weniger kampftüchtig als ohne Rüstung.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1923, Teil 3, S. 484-489.
Lizenz:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Der Teufel kommt auf die Erde weil die Hölle geputzt wird, er kauft junge Frauen, stiftet junge Männer zum Mord an und fällt auf eine mit Kondomen als Köder gefüllte Falle rein. Grabbes von ihm selbst als Gegenstück zu seinem nihilistischen Herzog von Gothland empfundenes Lustspiel widersetzt sich jeder konventionellen Schemeneinteilung. Es ist rüpelhafte Groteske, drastische Satire und komischer Scherz gleichermaßen.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon