Ursprung.

[629] Trotz der Siege von Sempach und Näfels gingen die Eidgenossen nicht etwa zu einer großen Eroberung- und Herrschafts-Politik über, wie die Griechen nach ihren Siegen über den Perserkönig. Schon 1389 schlossen sie mit den Habsburgern einen Frieden erst auf sieben, dann (1394) auf zwanzig und endlich (1412) auf fünfzig Jahre, in denen das alte Herrschergeschlecht wohl auf gewisse Gebiete und Rechte vorläufigen Verzicht leistete, doch aber noch sehr große Teile der heutigen Schweiz festhielt. Vergleicht man diesen Frieden mit den Schlachterfolgen der Eidgenossen, so könnte man einen Augenblick stutzig werden, ob ihr militärisches Übergewicht wirklich so groß gewesen sei, da man sich schließlich mit recht bescheidenen Ergebnissen begnügte. Aber es wird dabei bleiben dürfen, daß in der Tat die neue kriegerische Macht einem Ritteraufgebot alter Art weit überlegen war,584 denn der Grund, weshalb sich die neue Macht politisch nicht stärker geltend machte, ist in der Politik, nicht im Kriegswesen zu suchen. Die lockere Form eines Bundes von acht gleichberechtigten Genossen (Schwyz, Uri, Unterwalden, Luzern, Zug, Zürich, Bern, Glarus) war nicht geeignet zu großen Eroberungen. Nur unter und vermöge der Führung durch den herrschenden Vorort Athen waren[629] die Griechen imstande, die Siege von Salamis und Platää zur völligen Vertreibung der Perser aus dem Griechengebiet, auch das den kleinasiatischen Städten zu steigern: die schweizer Eidgenossen wären bei einer Eroberungspolitik im großen Stil sehr bald unter sich in Hader geraten, denn sie machten nicht nur gemeinsame, sondern auch jeder Kanton machte wieder für sich Erwerbs-Politik. Angesichts der Gefahr des inneren Zwistes, der daraus entspringen konnte, und mehrfach entsprang, mußte man sich mit den Eroberungen in engen Grenzen halten und sehr vorsichtig vorgehen. Statt durch die Gewalt des Schwertes suchten namentlich die städtischen Kantone durch friedliche Mittel ihr Gebiet auszudehnen: man hat ausgerechnet, daß Zürich in der Zeit von 1358 bis 1408 nach heutigem Geldwert ein Kapital von zwei Millionen Franken aufwandte für den Ankauf und Pfandbesitz benachbarter ritterlicher und fürstlicher Herrschaften.585 Erst als der jüngste Sohn Leopolds III., Herzog Friedrich mit der leeren Tasche, so unvorsichtig war, sich in einen Konflikt mit dem Konstanzer Konzil zu stürzen und, in Acht und Bann getan, von allen Seiten an gefallen wurde, griffen auch die Schweizer wieder zu und bemächtigten sich des Aargaues (1415); erst mehr als ein Menschenalter später (1460) des Thurgaues, und im Anschluß daran gingen sie auch bald über den Rhein und griffen die österreichischen Besitzungen im südlichen Schwarzwald und im Elsaß an.

Der Herzog von Österreich, Sigismund, wußte sich vor dem immer weiter um sich greifenden Eroberervolk nicht zu retten und suchte endlich Hilfe bei den Herzogen von Burgund, die als Nebenlinie des französischen Königshauses eine große Zahl von französischen und deutschen Lehen in ihrer Hand vereinigt hatten und damals die mächtigste Dynastie in Mitteleuropa bildeten. Sigismund verpfändete seine an die Schweiz grenzenden Rest-Besitzungen im Elsaß und Schwarzwald Karl dem Kühnen, in der Hoffnung, daß dieser stark genug sein werde, sie zu verteidigen, und noch weiter, daß sich hieraus Konflikte entspinnen würden, in denen der mächtige Burgunder die Schweizer niederwerfen und dem Hause Habsburg zur Wiedererlangung seiner alten Besitzungen[630] verhelfen werde (1469). Aber der Erfolg dieser Diplomatie war ein ganz anderer. Karl der Kühne war ein alter Freund der Eidgenossen und ganz und gar nicht geneigt, sich mit ihnen in einen Streit verwickeln zu lassen. Seine Erwerbsabsichten gingen in ganz entgegengesetzte Richtung, auf den Niederrhein und das zwischen sei nen Besitzungen, den Niederlanden im Norden und den beiden Burgung im Süden, gelegene Lothringen. Herzog Sigismund also erkannte bald, daß der Erfolg seiner Diplomatie kein anderer sein werde, als daß er die alten Besitzungen seines Hauses gegen die Pfandsumme von 50000 Gulden definitiv an das Haus Burgund abgetreten habe. Um sie wieder zu erlangen, beschloß er, ins entgegengesetzte Lager zu gehen: wenn der Burgunder ihm nicht helfen wollte, die Schweizer zu bekriegen, so sollten ihm die Schweizer helfen, den Burgunder zu bekriegen. Der Todfeind Karls des Kühnen, König Ludwig XI. von Frankreich, vermittelte das Abkommen zwischen dem Österreicher und den Eidgenossen. Während man bisher seit anderhalbhundert Jahren immer nur Frieden auf bestimmte Zeit, also eigentlich bloße Waffenstillstände geschlossen hatte, fand sich Herzog Sigismund jetzt bereit, in der »ewigen Richtung« (1474) endgiltig auf die schweizerischen Landschaften zu verzichten, und die Schweizer verpflichteten sich gegen dieses Zugeständnis, ihm unter gewissen Umständen Söldner zu stellen und ihm zu helfen, falls er angegriffen werde.

Aus diesem Defensiv-Abkommen ließen die Eidgenossen sich allmählich in ein allgemeines Angriffsbündnis gegen den Herzog von Burgund fortziehen. Man hat viel darüber gestritten, wo eigentlich der letzte Grund für diesen Krieg zu suchen sei. Ganz wie in den alten Kämpfen mit den Habsburgern stellen es die Schweizer noch heute gern so dar, als ob sie selbst, wenn nicht die Angegriffenen, doch die von Burgund irgendwie, wenn auch nur mittelbar durch dessen Festsetzung im Elsaß Bedrohten gewesen seien. Davon kann keine Rede sein. War schon bei der ersten Erhebung der Urkantone gegen die Habsburger es keineswegs eine friedliche Bevölkerung von Hirten und Bauern, sondern ein kriegserfahrenes und kriegstüchtiges Gemeinwesen, welches in den Streit zog, so war jetzt umsomehr die Kriegsgewalt der Eidgenossen allenthalben so angesehen und gefürchtet bei den Nachbarn, und sie[631] selber hatten ein solches Bewußtsein ihrer Stärke, daß jeder Gedanke des Bedrohens durch Burgund oder auch nur des Sichbedrohtfühlens seitens der Schweizer ausgeschlossen ist; nirgends ist in den mannigfachen Aufzeichnungen oder Verhandlungen dergleichen auch nur angedeutet. Die Frage kann vielmehr nur die sein, wie weit die Schweizer aus eigenen politischen Motiven, nämlich Motiven der eigenen Ausdehnung, Beute und Eroberung, oder aber als bloße Söldner einer fremden Macht, nämlich des Königs von Frankreich, den Krieg gegen Karl den Kühnen begonnen, geführt und den Herzog schließlich niedergeschlagen haben. Die Meinung, daß die Schweizer den Krieg nur als Söldner geführt hätten, ist schon früh in der Schweiz selbst entstanden und ist, wie ich mich durch erneute Nachprüfung überzeugt habe, zwar nicht vollständig, aber doch in der Hauptsache richtig. Die Eidgenossen hatten zwar ein gewisses Interesse daran, daß der Herzog von Burgund sich nicht im Elsaß und im Schwarzwald festsetzte, und fühlten sich getrieben, den Städten der »Niederen Vereinigung«: Straßburg, Colmar, Schlettstadt, Basel, die die burgundische Herrschaft vor ihren Toren abwehren wollten, zu helfen, aber dies Interesse war durch ein Defensiv-Abkommen, das getroffen wurde, erschöpft, und die sieben östlichen Kantone lehnten es auch ab, weiterzugehen, weil Eroberungen in einem Kriege mit Burgund allein Bern, das vorwärts drängte, zu gute gekommen wären. Es ist also in der eidgenössischen Politik dieselbe Hemmung, die wir bereits kennen gelernt haben: die Kriegsmacht sowohl wie die Kriegslust und der Eroberungsgedanke an sich sind da, kommen aber nicht recht in Tätigkeit, weil die Eifersucht der Kantone untereinander sie zurückhält. Die Urkantone fanden, daß der Weg des Ruhmes und der Beute über den Gotthard gehe, nach Italien. In Bern aber ergriff man den Gedanken, die Offensive nach Westen zu richten, um den Jura und die Waadt zu erobern, die dem mit Burgund verbündeten Savoyen gehörte. Bern wäre aber mit diesen seinen Eroberungsplänen bei den anderen Kantonen niemals durchgedrungen, wenn ihm nicht das Gold Ludwigs XI. zu Hilfe gekommen wäre. Auch die leitenden Staatsmänner von Bern selber standen in französischem Solde, aber das französische Geld und der politische Gedanke Berns fielen zusammen, so daß man[632] nicht einfach sagen kann, Bern habe sich an den König von Frankreich verkauft. Von den sieben anderen Kantonen aber unterliegt es keinem Zweifel, daß sie schlechterdings nur der Führung Berns und dem französischen Gelde gefolgt sind, als sie ihre Waffen gegen Burgund wandten.

Es handelt sich also nicht in irgendeinem Sinne um einen Freiheits- oder auch nur um einen Verteidigungs-, sondern um einen Angriffskrieg, den die Schweizer unternahmen, sei es nun, daß man das Hauptgewicht auf die Eroberungsgedanken Verus, oder auf die prinzipielle Bekämpfung der werdenden burgundischen Großmacht in der Nachbarschaft, oder auf das Geld Ludwigs XI. legen will, der sowohl die leitenden Staatsmänner persönlich, wie die ganzen Kantone in Sold nahm. Dieser politische Charakter des Krieges ist auch für die Strategie in ihm von großer Bedeutung und mußte deshalb etwas breiter dargelegt werden.

Der Krieg lief nun aber ganz anders, als die Schweizer ihn sich vorgestellt hatten. Während sie, wie sie ausdrücklich noch bei der Kriegserklärung betonten, nicht als »Hauptsächer«, sondern bloß als Bundesgenossen des Deutschen Reichs, des Hauses Habsburg, der »Niederen Vereinigung« und des Königs von Frankreich einen gefahrlosen und gewinnbringenden Nebenkrieg zu führen gedachten, mußten sie bald erfahren, daß sowohl der Kaiser Friedrich III., wie der König von Frankreich mit dem Burgunder Frieden schlossen, und daß dieser sich nun rachedürstend gegen die wandte.

Der Krieg, der auf diese Weise entstand, ist nicht nur politisch und kriegsgeschichtlich von der höchsten Bedeutung geworden, sondern hat auch historisch-methodologisch, volkspsychologisch eine sehr interessante Seite. Es existiert über ihn neben den zeitgenössischen Quellen eine Aufzeichnung zwei bis drei Generationen später aus der Feder des Reformators Bullinger, die die volkstümliche Tradition wiedergibt. Ich habe dieses Stück des Bullingerschen Geschichtswerks, das bisher ungedruckt war, zum erstenmal in meinen »Perser- und Burgunderkriegen« publiziert, nicht weil daraus noch irgend etwas über den Verlauf der Dinge zu entnehmen wäre, was wir nicht auch sonst wüßten, sondern weil die Erzählung ein so überaus lehrreiches Seitenstück zu der Erzählung Herodots von den[633] Perserkriegen bildet: nirgends soviel Gleichheit, um an Nachahmung zu denken, aber Zug für Zug die gleiche Arbeit der Phantasie; selbst die Gespräche des vertriebenen Königs Demarat von Sparta mit dem Perserkönig vor Thermopylä fehlen nicht; Karl der Kühne hatte einen schweizerischen Oberst, Brandolf von Stein, gefangen genommen, der dem Herzog zu seinem Staunen und Schrecken die Art der Schweizer auseinandersetzen muß. An dieser Bullingerschen Erzählung kann und muß man lernen, wie Volksüberlieferung nach der Art Herodots quellenkritisch zu verwerten ist.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1923, Teil 3, S. 629-634.
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