Literatur und Kritik.

[661] Seit ich zum erstenmal die Schlacht bei Murten in den »Perser- und Burgunderkriegen« behandelt habe, ist das Quellenmaterial wesentlich vermehrt und modifiziert worden, so daß ich die Darstellung vollständig habe umarbeiten müssen. Die Idee, die prinzipielle Erscheinung in der Geschichte der Kriegskunst ist zwar ebenso geblieben, wie ich sie schon damals aufgefaßt habe, die Einzelheiten aber haben umgestaltet werden müssen. Es sind neue kritische Ausgaben von KNEBELS Tagebuch (Baseler Chroniken, Bd. 3, 1887) und von DIEBOLD SCHILLINGS Berner Chronik, zwei Bände, 1897 und 1901, erschienen. Vor allem ber ist der verloren geglaubte Bericht PANIGAROLAS über die Schlacht, datiert St. Claude, 25. Juni 1476, aufgefunden und im Archivo storico lombardo, anno XIX, Mailand 1892, veröffentlicht; übersetzt und erläutert von DIERAUER in der »Schweizerischen Monatsschrift für Offiziere aller Waffen«. Vierter Jahrgang, 1892, Nr. 10, Frauenfeld, Verlag von J. Huber. So wichtig dieser Bericht ist, so ist für die Rekonstruktion der Schlacht doch noch wichtiger eine Untersuchung von Dr. HANS WATTELET: »Die Schlacht bei Murten. Historischkritische Studie« (Freiburger Geschichtsblätter, herausgegeben vom deutschen geschichtsforschenden Verein des Kantons Freiburg, 1. Jahrgang, Freiburg i. Ü. 1894, Verlag der Universitätsbuchhandlung), in der der Verfasser quellenkritisch und archivalisch überzeugend nachweist, daß die Kapelle Saint-Urbaine bei Coussiberle, die bisher unbestritten als Schlachtkapelle galt, das nicht ist. Erst viele Generationen später ist durch allerhand Zufälligkeiten diese Vorstellung entstanden. Schon als ich im Jahre 1888 zusammen mit Herrn Ochsenbein, dem Herausgeber des Urkundenbuches zur Säkularfeier, das Schlachtfeld besuchte, stiegen mir Bedenken auf, ob der schweizerische Angriff wirklich so weit herumgegriffen, und der Grünhag hier gestanden haben könne. Aber gegen die, wie es schien, unantastbare Tatsache, daß hier die Schlachtkapelle stand, war nichts[661] zu machen. Indem nun durch die ebenso scharfsinnige wie sorgsame Forschung WATTELETS das Falsifikat aus dem Quellenmaterial ausgemerzt, und zugleich die wahre Anmarschlinie und Angriffsstelle der Schweizer festgestellt ist, ist auch sonst im einzelnen alles verändert, der ganze Vorgang aber viel verständlicher geworden. Karl hat nicht eine unübersehbar lange und doch gegen Freiburg offene Befestigungslinie gezogen, sondern sein Lager befestigt in einem Ring, der mit Rücksicht auf das steigende Gelände allerdings weit hinausgeschoben, aber doch den Lagerplätzen so nah war, daß er bei rechtzeitiger Alarmierung schnell besetzt werden konnte. Ich stelle mir vor, daß die Hauptbefestigung etwa auf der Höhenlinie 540 jenseits (südlich) des Foret du Craux am Pierre Bessy und der Ermelsburg vorbei hinüberlief in der Richtung auf Burg. Hier war die Annäherung durch den Burggraben so gut wie ausgeschlossen. Zwischen Burg und Combettes wird sie umgebogen und zum See bei Montellier heruntergeführt worden sein. Auf der anderen Seite ist es möglich, daß Karl sich mit der Anlehnung an den verhackten Wald begnügt hat, es kann aber auch sein, daß er sich auch gegen einen Angriff von Freiburg her geschützt hat. Dann wird die Befestigung vom Foret du Craux nördlich des (abgebrannten) Dorfes Münchenwyler zum Petit Bois Dominge und von da hinunter den Hohlweg nordwestlich in der Richtung auf den See noch ein Stück weitergegangen sein. Karls Feldherrnzelt (ein hölzernes Häuschen) stand auf der Grand Bois Dominge, 531 Meter hoch, von wo man einen sehr guten Überblick hat. Der Umfang dieser Befestigung war ja sehr groß, aber sobald man wußte, daß der Feind sich bei Gümmenen sammle, und nachher, daß er bei Ulmitz stehe, kam ja nur noch die Front nach dieser Seite in Betracht.

Von Kleinigkeiten, in denen die sonst vortreffliche Untersuchung WATTELETS korrigiert werden muß, merke ich folgende an.

S. 25 heißt es, die Verteidiger von Murten hätten Herzog Karl gezwungen, »die kostbarste Zeit zum Angriff auf die nicht versammelten Schweizer zu verlieren«. Einem solchen Angriff würden sich »die nicht versammelten Schweizer« schwerlich gestellt haben. Hätte Karl Murten gleich in den ersten Tagen genommen und wäre dann weiter gezogen, so hätten die Schweizer sich vorläufig zurückgezogen und dem Herzog überlassen, ob er nun Bern oder Freiburg belagern wolle.

S. 68 heißt es, die Stellung am Wyler Feld sei auf dem linken Flügel durch den Burggraben und das Lager Romonts im Norden der Stadt gedeckt gewesen; »im Rücken stand das befestigte Lager als Replistellung«. Das Lager Romonts kann als »Deckung« nicht wohl bezeichnet werden, da es selbst ein Teil der Stellung war und ungegriffen werden konnte. Für sachlich unrichtig aber halte ich die Vorstellung, daß hinter der Linie auf dem Wyler Feld noch eine zweite direkte Lagerbefestigung bestanden habe. Davon wird nirgends etwas, auch nicht in den Schlachterzählungen, gesagt, wo doch ein Versuch, diese Befestigung zu halten,[662] irgendwie, wenn auch nur negativ, erwähnt sein müßte. Die Befestigung des Lagers ist eben die Linie auf dem Wyler Felde. PANIGAROLA (Ber. v. 12. Juni; Gingius II, 248) sagt ausdrücklich: Der Herzog »e stato a vedere tuti questi monti circonstanti per fortificare questo campo intorno«.

S. 74 ist gesagt, am 22. habe von einem Angriff auf Romont nicht mehr die Rede sein können, da der Herzog die Stellung auf dem Wyler Felde genommen hatte. Weshalb die Truppen an dem Grünhag auf dem Wyler Felde die Eidgenossen verhindern sollten, das Korps Romont bei Montellier (über Büchslen-Löwenberg) anzugreifen, ist aber nicht einzusehen.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1923, Teil 3, S. 661-663.
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