Die Lehrzeit.

[439] So fest ich damals entschlossen war, dem Rate des Horaz bis ans Ende zu folgen, so lieb mir auch ernste Arbeit zu werden begann, fehlte mir doch die Methode, das vorgesteckte Ziel in der Abgeschiedenheit, zu der mein[439] Leiden mich noch lange verdammte, sicheren Schrittes zu erreichen.

Die Rechtswissenschaft hatte ich aufgegeben; denn es erschien doch mehr als fraglich, ob meine Gesundheit mir je gestatten würde, mich einem praktischen Berufe oder der akademischen Laufbahn zu widmen, und mein Interesse an der Jurisprudenz als solcher war zu gering, als daß es mich hätte locken können, sie zum Gegenstande theoretischer Studien zu machen.

Die Aegyptologie zog mich dagegen nicht nur an, sondern gestattete mir, wie sich mein Befinden auch gestalten würde, ihr die ganze Kraft zu widmen. Zwar hatte Champollion, der große Begründer dieser Wissenschaft, sie »ein schönes Mädchen ohne Mitgift« genannt, ich durfte aber dennoch um sie werben und empfand es dankbar, bei der Wahl des Berufes meiner Neigung ohne Rücksicht auf äußere Vorteile folgen zu dürfen.

Das Arbeitsgebiet war gefunden; doch mit jedem Schritte vorwärts wuchs die Ueberzeugung, wie schlecht ich für die neue Wissenschaft vorbereitet sei.

Wo ich tüchtig fortgeschritten war, hatte mir ein Lehrer die Wege gewiesen. Jetzt wurde mir immer peinlicher bewußt, daß der rechte Führer mir fehlte.

Was mir von Werken fleißiger Autodidakten begegnet war, hatte mich unbefriedigt gelassen. Mochte mir nun auch der gewöhnliche Weg des Lernenden durch meine Krankheit verschlossen bleiben, da von einem Besuch der Universität noch lange keine Rede sein konnte, wollte ich doch nicht in die Fehler jener Selbstlehrlinge verfallen.

Da führte eines Tages das freundliche Herz die Gattin Wilhelm Grimms zu mir. Sie brachte einen[440] vorzüglichen, von der eigenen Meisterhand bereiteten erfrischenden Fruchtsaft. So lieb und herzlich, wie sie vor vielen Jahren dem Kinde begegnet war, erwies sie sich mir auch jetzt. Als ich ihr erzählte, was ich trieb, und den Wunsch äußerte, einen Wegweiser für meine Wissenschaft zu gewinnen, versprach sie mir, es daheim »den Männern« zu sagen. Wilhelm sollte nur zu bald die Augen schließen, Jakob aber saß schon wenige Tage nach dem Besuche seiner Schwägerin bei mir.

Mit freundlicher Teilnahme ließ er sich berichten, wie ich auf die Aegyptologie gekommen war, wie ich mir bis dahin selbst vorwärts geholfen, und mit welchen Wissenschaften ich mich sonst noch beschäftigt hatte.

Nach meiner eingehenden Antwort schüttelte er das ehrwürdige Haupt mit dem langen grauen Lockenschmuck und sagte lächelnd:

»Da hast Du das Pferd beim Schwanze aufgezäumt. Aber so treiben es die jungen Spezialisten! Wie die Schuster den Stiefel machen lernen, wollen sie in der Werkstätte ihrer Wissenschaft Meister werden. Das andere gilt ihnen wenig. Und doch wird erst die spezielle Disziplin etwas wert durch den Zusammenhang mit dem Uebrigen oder doch mit dem weiteren Gebiete des verwandten Wissens. Dein Hieroglyphenentziffern kann Dich nur zum Dragoman machen, und Du sollst doch ein Gelehrter im höheren Sinne werden, ein rechter und ganzer. Zunächst wird es für Dich gelten, die sprachliche Grundlage legen.«

So ähnlich begann er mit dem ihm eigenen liebenswürdigen und doch nachdrücklich ernsten Freimut. Er hatte sich selbst nie eingehend mit ägyptischen Dingen beschäftigt und unterließ es darum, mir im einzelnen den[441] Weg vorzuschreiben. Im ganzen blieb er bei dem Rate, nie zu vergessen, daß die Spezialwissenschaft nichts sei als eine einzige Saite, die nur mit denen zusammen, die an die gleiche Laute gehören, ihren Wohllaut zur Geltung bringe. Lepsius habe einen weiteren Blick als die meisten Pfleger einer so eng begrenzten Disziplin. Er wolle mit ihm von mir reden.

Schon am nächsten Donnerstag suchte Lepsius mich auf. Ich weiß das noch, weil dieser Tag für seine späteren Besuche festgehalten wurde.

Der Mann, der damals mit Recht der Altmeister meiner Wissenschaft genannt wurde, und dessen vornehm zurückhaltendes Wesen diejenigen, die ihm ferne standen, veranlaßte, ihn für eine abweisend kühle Natur zu halten, hatte den Weg zu mir, den durch nichts ausgezeichneten neuen Jünger seiner Wissenschaft, gefunden.

Aber dabei ließ er es mit nichten bewenden; denn nachdem er sich überzeugt hatte, wie weit ich es durch eigenen Friß gebracht, gab er mir an, was ich zunächst vorzunehmen habe, und versprach mir endlich, wiederzukommen.

Auch er hatte sich nach meiner Vorbildung erkundigt und mir aus Herz gelegt, mich mit Philologie und Archäologie und zunächst wenigstens mit einer semitischen Sprache zu beschäftigen. Freimütig bekannte er mir später, wie hinderlich es sich ihm, der von philologischen, archäologischen, Sanskrit- und germanistischen Studien ausgegangen war, immer noch erwies, das, wie es schon damals schien, dem Aegyptischen näher verwandte Sprachgebiet des Semitischen in der Jugend vernachlässigt zu haben. Es sei auch nötig, daß ich englisch und italienisch[442] verstehen lerne, da außer im Französischen auch in diesen zwei Sprachen mancherlei erscheine, wovon der Aegyptolog Kenntnis zu nehmen habe. Endlich riet er mir, einen Einblick in das Sanskrit zu gewinnen, das den Ausgangspunkt für die linguistischen Studien bildet.

Seine Anforderungen stellten mir Berg auf Berg in den Weg, doch der Gedanke, diese Höhen übersteigen zu müssen, schreckte mich nicht nur nicht ab, sondern erschien mir höchst reizvoll; denn das Leben, aus dem mein körperlicher Zustand so vieles gestrichen, das mir bis dahin besonders wert gewesen war, versprach dadurch einen großen Inhalt zu gewinnen. Statt eines Zieles sah ich eine ganze Reihe von Marksteinen vor mir, die sämtlich erreicht werden mußten.

Es war mir, als wüchse mir die Kraft mit der Größe und Mannigfaltigkeit der Aufgaben, die ich mir stellen sah, und froh erregt erklärte ich Lepsius, daß ich bereit sei, seinen Anforderungen in allen Stücken gerecht zu werden.

Nun berieten wir, in welcher Folge und auf welchem Wege ich ans Werk zu gehen habe, und heute noch bewundere ich die imposante Ruhe, den sicheren Scharfblick und die verständliche Klarheit, mit der er auf Jahre hinaus den Studienplan für mich entwarf.

Der Frühling war gekommen, und da ich die Wildbader Heilquellen schon im Mai gebrauchen sollte, und mir darum die Führerschaft des Meisters nur noch wenige Wochen zu gute kommen konnte, begnügte er sich, mir die Methode zu zeigen und die Aufgaben festzustellen, die ich während meiner Anwesenheit bis zur Heimkehr nach Berlin lösen sollte.[443]

Wohl habe ich diesem großen Gelehrten für die Einführung in meine Spezialwissenschaft dankbar zu sein, weit mehr aber noch für die Umsicht, mit der er meinen Studien die Wege wies. Ganz im Sinne Jakob Grimms nötigte er mich, als Aegyptolog im Zusammenhange mit den verwandten Fächern zu bleiben.

Später sollte mich auch eigene Erfahrung lehren, wie richtig seine Behauptung gewesen war, daß es falsch sei, von vorn herein eine so eng begrenzte Sonderdisziplin wie die Aegyptologie zu studiren.

Der Hingabe an eine solche muß vielmehr die gründliche Bewältigung eines weiteren Wissensgebietes vorangehen, und der Aegyptolog sich vorher als Linguist, Semitist, Philolog, Archäolog oder Historiker bewährt haben.

Meine Schüler können mir bezeugen, daß ich während meiner langen Lehrthätigkeit bestrebt blieb, den Studirenden, die sich von vornherein der Aegyptologie widmen wollten, ans Herz zu legen, zunächst an die Festigung der Fundamente zu denken, ohne die der zu errichtende Sonderbau des Haltes entbehrt.

Lepsius sorgte in seinem Lehrplane dafür, daß ich diesen Grundsätzen von Anfang an folgte.

Groß und schwer war, was mir zu bewältigen oblag. Wie unendlich viel leichter sollten es diejenigen haben, die es mir in die Wissenschaft einzuführen vergönnt war, als ich am Ende der fünfziger Jahre! Ihnen standen die Auditorien und Seminarien berufener Lehrer offen. während mich mein körperliches Leiden noch manches Semester von der Universität fern hielt. Und wie spärlich waren die Hilfsmittel, die der Lernende zu Rat ziehen[444] konnte!1 Doch der Eifer, ja die Begeisterung, womit ich mich dem Studium hingab, waren so groß, daß sie jede Schwierigkeit überwanden. Der Arm fühlte, daß es nichts Kleines sei, was ihm aufzuheben zugemutet wurde, doch die Dauer der anstrengenden Uebung stählte die Muskelkraft. Der Geist, der sich früher nur herbeigelassen hatte, was ihm ansprechend erschienen war, zu genießen, freute sich der wuchtigen Last.

Ueberblicke ich jetzt, was ich damals in wenigen Semestern an Wissensstoff bewältigte, will es mir kaum glaublich erscheinen, und doch wurde die ernste Arbeit in jedem Sommer durch den Aufenthalt im Bade unterbrochen, der einmal drei Monate und nie kürzer als sechs Wochen dauerte.

Freilich war ich auch während des Gebrauchs der Heilquellen nie völlig müßig; dafür aber hatte ich im Winter der Gefahr, in der der Körper noch immer schwebte, Rechnung zu tragen; denn Nachtarbeit war mir untersagt, und wenn ich bei Tage zu lange hinter einander hinter den Büchern gesessen hatte, erinnerte mich[445] die Mutter an mein dem Arzt gegebenes Versprechen, und ich mußte mich zu einer Pause entschließen.

In den ersten Jahren arbeitete ich nur daheim; denn im Winter durfte ich das Haus selten verlassen; bei ganz schönem Wetter war mir eine Ausfahrt gestattet.

Der kluge Dr. Romberg hatte mein Widerstreben, durch einen Aufenthalt im Süden das Studium zu unterbrechen, berücksichtigt, weil er gerade für Rückenleidende das Leben in einem wohl geordneten Hause dem in einem wärmeren Klima vorzog, sobald die Trennung von der Heimat, wie es bei mir der Fall war, dem Patienten die Ruhe des Gemütes zu trüben drohte.

Während des Verlaufes dreier Winter war es mir versagt, die Universität, das Museum und die Bibliotheken zu besuchen. Erst im vierten durfte ich damit beginnen, und wohl vorbereitet und mit gereifterem Urteil folgte ich nun den akademischen Vorlesungen, benützte ich die Wissensschätze und reichen Sammlungen der Vaterstadt. Dies geschah mit immer gleichem Eifer, nachdem ich auf Grund der Dissertation über Memnon und die Memnonssage die eigentliche Studienzeit abgeschlossen und auf wissenschaftlichen Reisen auch andere Sammlungen ägyptischer Altertümer wie das Berliner Museum, kennen gelernt hatte.

Nach meiner Heimkehr von Wildbad setzte Lepsius die Donnerstagsbesuche fort. In den folgenden Wintern blieb er gleichfalls mein Führer – auch noch, als ich auf dem Gebiete der altägyptischen Sprache mich neben der seinen der Leitung Heinrich Brugschs anvertraut hatte.

Auf der Schule war es mir natürlich nicht eingefallen, dem hebräischen Unterrichte zu folgen. Jetzt[446] nahm ich Privatunterricht in dieser Sprache und widmete ihr mehrere Stunden des Tages.

Ich hatte Sanskrit zu lesen und leichte Stücke in der Chrestomathie zu übersetzen gelernt und mich mit besonderem Fleiß an der Hand des Plautus dem Studium der lateinischen Grammatik und Metrik ergeben. Professor Julius Geppert, der Bruder des liebsten Freundes unseres Hauses, war dabei während vier Semester mein Führer.

Was mir als Gymnasiasten am wenigsten anziehend erschienen und meine schwache Seite gewesen war, die Syntax der klassischen Sprachen, flößte mir jetzt das höchste Interesse ein, und ich dankte es Lepsius, so eifrig auf meiner Beschäftigung mit der Philologie bestanden zu haben.

Bald gewann ich die wärmste Neigung besonders für die römischen Lustspiele, die diesen Studien zur Unterlage dienten. Ueber welchen gesunden Witz, welche Feinheit der Beobachtung, welche glückliche Erfindungsgabe verfügten die alten Komödienschreiber! Ich nahm sie auch von neuem vor, nachdem ich vor wenigen Jahren in dem Meisterwerke Otto Ribbecks »Geschichte der römischen Dichtung« die dem Plautus und Terenz gewidmeten Abschnitte mit wahrem Genusse gelesen.

Den Charaktertypen gegenüber, die sich in diesen Lustspielen finden, festigte sich in mir die Ueberzeugung, daß die Beweggründe der menschlichen Handlungen und die geistige und gemütliche Eigentümlichkeit der Kulturmenschen zu jeder Zeit und in allen Breiten die nämlichen waren und immer noch sind. Jede Gattung der Gesellschaft, als deren Mitglied Plautus seine Stücke schrieb, findet sich in der unseren wieder, jede Sentenz[447] läßt sich auf unsere Zustände anwenden wie auf die dem Dichter bekannten. Wer mir vorwirft, meine alten Aegypter, Griechen oder Alexandriner empfänden oder sprächen wie moderne Menschen, der nehme die Menaechmen, die Captivi, die Lessing das beste Stück nennt, das je auf die Bühne kam, den Trinummus, den Rudens oder den lustigen Amphitruo zur Hand, und er wird sich vielleicht seine Meinung einzuschränken entschließen.

Mit welchem Vergnügen bin ich, als ich am Abend wieder ausgehen durfte, den Plautinischen Stücken gefolgt, die Professor Geppert von seinen Schülern aufführen ließ!

Bei einer solchen Vorstellung zeichnete sich ein junger Philolog durch die frische, verständnisvoll seine Lösung seiner Aufgabe in einer Weise aus, die wohl jedem Zuschauer den Gedanken nahe legte, daß er auf die Bühne gehöre. Es ist aus ihm der treffliche Berliner Charakterdarsteller Kahle geworden, und ich redete ihm an jenem Abende lebhaft zu, sich der Bühne zu widmen.

Die aufgefrischten und vertieften Kenntnisse des Schullateins sollten mir auch zum großen Nutzen gereichen, als es eine lateinische Dissertation zu schreiben und sodann auch zu disputiren galt. Dem Griechischen widmete ich vielleicht einen noch größeren Teil meiner Zeit, und als Früchte dieser Studien besitze ich noch viele Uebersetzungen des Anakreon, der Sappho und zahlreicher Stücke aus der Bergkschen Sammlung griechischer Lyriker. Außer denen, die ich in meine Romane aufnahm, sind sie noch ungedruckt.

Das Uebersetzen gereichte mir damals in den Mußestunden überhaupt zu besonderem Vergnügen. Vornehmlich[448] durch die genaue Version schwieriger englischer Dichter ward mir auch die Sprache des Shakespeare in Poesie wie in Prosa bald so verständlich wie deutsch oder französisch.

Nachdem ich mir die Grundzüge der Grammatik zu eigen gemacht, bedurfte ich keines andern Lehrers als der Mutter. Der Aussprache zu Gefallen las ich ihr vor und ließ mir von ihr vorlesen. Nachdem ich die ersten Schwierigkeiten überwunden, nahm ich Tennysons »Idylls of the King« zur Hand, gerade weil ich gehört hatte, daß sie schwer verständlich wären. Ich schenkte mir keine Partikel und übersetzte endlich zwei dieser schönen Dichtungen im Versmaße des Originals.

Enid gelang mir, denke ich, nicht übel. Das Manuskript liegt noch unveröffentlicht in meinem Schreibtisch,

Da ich nun einmal dabei war, Sprachen zu lernen, brachte ich es leicht dahin, auch italienische, spanische und holländische Bücher zu lesen.

Angesichts dieser Erfahrung, die ich nicht nur an mir selbst machte, frug ich mich, ob der Unterricht der Knaben nicht zu Gunsten fleißigerer Bewegung im Freien entlastet werden könnte. In wie kurzer Zeit würde sich der Schüler als Erwachsener, der nicht für den Lehrer, sondern für sich selbst lernt, mancherlei aneignen, wozu er auf der Schulbank ganzer Jahre bedarf.

Neben den sprachlichen Studien und oft ihnen voran beschäftigte ich mich, zuerst ausschließlich unter Lepsius' hier ganz vortrefflicher Leitung, mit alter Geschichte und Archäologie.

Später hatte ich Gerhard, Droysen, Friederichs und August Böckh das meiste zu danken.[449]

Mit diesem, dessen Vorträge über die Staatshaushaltung der Athener wohl die schönsten und instruktivsten waren, denen ich folgen durfte, führte ein freundliches Geschick mich auch in persönliche Beziehung. Welche Klarheit, welche Tiefe der Gelehrsamkeit, welcher seine Humor eignete diesem herrlichen Greise! Noch 1863 besuchte ich sein Kolleg, und wie köstlich waren die Anspielungen auf die damals wenig erfreulichen politischen Zustände, womit er es würzte. Friederichs wurde mir besonders lieb und wert. Ich danke ihm viel, und es machte mich glücklich, ihm später in Aegypten in etwas vergelten zu können, was er mir in Berlin so freundlich und selbstlos erwiesen.

Bopps Kolleg, in dem ich meinen bescheidenen Sanskritkenntnissen aufzuhelfen versuchte, sah mich leider nur wenige Stunden.

Die Vorträge des Afrikareisenden Heinrich Barth brachten reiches Quellenmaterial, doch wer erwartet hätte, fesselnde Wanderberichte von ihm zu hören, würde bald enttäuscht worden sein. Zu ihm trat ich ebenfalls in persönliche Beziehung, doch auch im intimeren Verkehre wurde er selten warm genug, um andere an dem reichen Schatz seiner Kenntnisse und Erlebnisse teilnehmen zu lassen. Es war, als hätte er sich während seiner einsamen Wanderungen durch Afrika in sich selbst zurückgezogen und das Bedürfnis verloren, im Verkehre mit anderen zu geben und zu nehmen.

In jener späteren Zeit brachte auf dem sprachlichen Gebiete der Aegyptologie Heinrich Brugsch das zur Entfaltung, was ich bei Lepsius und durch eigene Arbeit gewonnen hatte, und ich nenne mich gern seinen Schüler.[450]

Gewiß habe ich für die frische und förderliche Weise erkenntlich zu sein, mit der dieser große und unermüdliche Forscher für mich allein ein Privatissimum hielt; Lepsius aber hatte mir das Thor unserer Wissenschaft erschlossen, und konnte er mich auch in der Grammatik des Altägyptischen, mit der er sich in letzter Zeit weniger beschäftigt hatte, nur bis zu einem gewissen Grade fördern, so habe ich ihm doch für vieles andere erkenntlicher zu sein als jedem andern meiner geistigen Leiter. Das Beste, was ich ihm schulde, ist die Anweisung, historische und archäologische Quellen kritisch zu benützen, und seine Korrektur der Aufgaben, die er mir stellte; von allerhöchstem Nutzen aber sind mir unsere Unterhaltungen über archäologische Fragen gewesen.

Wenigstens in etwas suchte ich denn auch nach seinem Tode heimzuzahlen, was er mir in selbstloser Güte gegeben, indem ich der Aufforderung folgte, sein Biograph zu werden. In dem Buche »Richard Lepsius, ein Lebensbild« schildere ich pietätsvoll, doch ohne auch nur einen Schritt von der Wahrheit abzuweichen, diesen eigenartigen großen Gelehrten, der mir später ein treuer, immer gleich wohlwollender Freund werden sollte.

Es will mir heute kaum glaublich erscheinen, daß der würdige Mann mit dem ernsten, ja strengen, höchst edel geschnittenen Gelehrtengesicht und dem schlichten schneeweißen Haar erst fünfundvierzig Jahre zählte, als er sich meiner Studien anzunehmen begann; denn trotz der Straffheit seiner Haltung und der Lebhaftigkeit seiner Bewegungen, wenn der Gesprächsstoff ihn interessirte, kam er mir damals vor wie ein würdiger Greis. Es lag auch in der vornehmen Gehaltenheit seines Wesens und[451] in der kühlen, durchdringenden Schärfe seiner Kritik etwas so Abgeklärtes und durch und durch Ausgereiftes, wie man es sonst nur bei Männern in höheren Jahren findet. Ich hätte ihn keines unbedachten Wortes, keiner hingebend warmen Regung des Gemütes für fähig gehalten, bis ich ihm später unter dem eigenen Dache begegnete und mich dort an der warmherzigen Heiterkeit des Familienvaters und der Liebenswürdigkeit des Wirtes erfreute.

Es war auch sicher nicht der kühl erwägende Verstand, sondern das Gemüt, das ihn angetrieben hatte, dem an das Haus gebundenen jungen Freunde seiner Wissenschaft so viele Stunden seiner kostbaren Zeit zu widmen.

Heinrich Brugsch, mein zweiter Lehrer, war Lepsius als Entzifferer und Erforscher der verschiedenen Sprachstufen des Altägyptischen weit überlegen. Zwei verschiedenere Naturen lassen sich schwer denken. Dem geistvollen Brugsch, der damals im Anfang der dreißiger Jahre stand, leuchtete die frische Daseinslust aus den klugen, stark gewölbten Augen, die zu der Gattung gehören, die Gall, als er sie bei besonders gut begabten Schulkameraden bemerkt zu haben meinte, antrieben, auf den Zusammenhang der äußeren mit der inneren Beschaffenheit anderer zu achten.

Brugsch war ein Mensch der Impulse, der heiteren Sinnes, auch wenn das Leben ihm ein ernstes Gesicht zeigte, den Frohmut bewahrte. Dabei war er damals wie jetzt schwerer Arbeit mit rastlos ernstem Fleiße ergeben.

Darin glich er Lepsius, und er hatte auch noch anderes mit ihm gemein, obgleich er damals in scharfem Gegensatz zu ihm stand. Erstens einen großen Ordnungssinn[452] bei der Sammlung und Unterbringung des überreichen, ihm zur Verfügung stehenden, wissenschaftlichen Materials, zweitens aber den Umstand, daß ihm wie jenem Alexander von Humboldt beim Beginne seiner Forscherlaufbahn die Wege geebnet.

Dieser große Gelehrte und höchst einflußreiche Mann, der, wo er einer Hoffnung erweckenden jungen Kraft begegnete, stets zur werkthätigen Hilfeleistung bereit war, hatte sich H. Brugschs zeitig angenommen. Er war auf ihn durch seine ersten ägyptologischen Arbeiten, mit denen er schon als Gymnasiast begonnen, aufmerksam geworden. Wie weit ab sie auch von dem eigentlichen Thätigkeitsgebiet des Naturforschers lagen, hatte Humboldts scharfer Blick doch ihre Selbständigkeit und Bedeutung sowie die geniale Begabung ihres Verfassers erkannt. Sobald der Ruf an ihn erging, breitete er die mächtige Hand schützend über ihn aus und veranlaßte den König, seinen Freund, Brugsch die Mittel zu seiner weiteren Ausbildung in Paris und für eine Reise nach Aegypten zu gewähren.

Wenn es auch Bunsen war, der Lepsius zuerst bewogen hatte, sich der Aegyptologie zu widmen, damit er ihr die Methode vorzeichne und die nach Champollions Tode wild wuchernden Auswüchse am Stamm unserer Wissenschaft mit dem Messer der philologischen und historischen Kritik unschädlich mache, hatte Humboldt ihm doch in Paris die dem Fremden verschlossenen Wege zu fruchtbringender Arbeit geebnet.

Endlich war es der große Naturforscher gewesen, der dem von Bunsen unterstützten Unternehmen einer von Lepsius zu führenden Expedition nach Aegypten bei Friedrich Wilhelm IV. mächtigen Vorschub leistet.[453]

Ohne den einflußreichsten Mann seiner Zeit wäre es beiden schwer, ja vielleicht unmöglich gewesen, für sich selbst und die deutsche Forschung die Stellung so schnell und sicher zu erringen, die sie dank ihrer so mächtig geförderten Arbeit jetzt einnimmt.

Es war mir vergönnt, mit Alexander von Humboldt in kleinem Kreise an einer Tafel zu speisen, und es prägte sich mir dabei sein Bild tief in die Seele. Er hatte damals schon die dem Menschen sonst bewilligte Lebensdauer längst überschritten, und was ich ihn sagen hörte, war kaum wert, es zu behalten; denn es bezog sich auf Tafelgenüsse, Damentoiletten, Hofgeschichten und dergleichen. Ich bewunderte die schnelle Geschicklichkeit, mit der die schon unsicheren Finger die Speisen zum Munde führten, und als er mir später die Hand reichte, fiel mir die Fülle der blauen Adern ins Auge, die sie wie ein Netz überspannten. Erst später sollte ich erfahren, wie vielen Aufstrebenden, die zu großer Bedeutung gelangten, diese zarte Hand zur Stütze gedient hatte. Aber was mir schon, als ich ihn zum erstenmal als Primaner aus der Nähe sah, als besonders schön und groß an ihm auffiel, war der Ausdruck der freundlichen Herzensgüte, die sich über sein ganzes vom Alter durchfurchtes Antlitz breitete. Bald werde ich auch eines dritten Beispieles seines freundlichen Wohlwollens, das gleichfalls einem der größten deutschen Forscher den Weg ebnete, zu gedenken haben.

Heinrich Brugsch ging, als diese Zeilen geschrieben wurden, mit frischer Schaffenskraft der ägyptologischen Forschung voran. Jetzt ist auch er nicht mehr, und andere traten unter dem Banner einer neuen, strengeren Methode an seine Stelle. Die treffliche, schlichte Frau, die auf[454] den wachsenden Ruhm des Sohnes so stolz war, sein altes Mütterchen, wurde lange vor ihm abgerufen. Sie war ein Musterbild der in Ehren ergrauten, klugen und gemütvollen Berlinerin. Im Verkehr mit ihr begriff man, warum das Volk von »Mutterwitz« spricht. Bescheiden schaute sie zu der Größe des Sohnes empor, und doch war seine Klugheit, seine Arbeitsamkeit und seine »Frohnatur« ein Erbteil, das er ihr dankte.

Was Heinrich Brugsch mir gab, lag schon jenseit der eigentlichen Lehrzeit. Während der ersten Jahre ihres Verlaufes hatte es noch manches körperliche Mißbehagen zu ertragen gegeben, war es mir bisweilen sauer genug gefallen, mich in die gehemmte Beweglichkeit und große Gebundenheit still zu fügen, die mir die Schickung und der Arzt auferlegten. Dennoch darf ich versichern, daß mit der fortschreitenden Genesung und zielbewußten Thätigkeit, die zugleich mit ihr begann, eine glückliche Zeit für mich anhob. Das Bewußtsein, schweren Gefahren entronnen zu sein, gab mir das Vertrauen zurück, unter einem günstigen Sterne den Lebensweg angetreten zu haben. Die Ruhe des Gemüts, die sich bei jedem einstellt, der, abgesondert vom Treiben der Welt, wie ich es damals war, sich treuer Pflichterfüllung hingibt, machten es mir verhältnismäßig leicht, mich mit einem Zustande geduldig abzufinden, der mir noch vor kurzem unerträglich erschienen wäre.

Die Mutter gab deutlich genug zu erkennen, wie gern sie die mir auferlegte Abgeschiedenheit teilte. Meiner Thätigkeit zu folgen, machte ihr Freude, mir aber bereitete es Vergnügen, ihr dies zu erleichtern. Auch Schwester Paula, die sich erst einige Jahre später zu heiraten[455] entschloß, war mir lieb, und ihre sehr verschiedenartigen, doch mir sämtlich angenehmen und werten Freundinnen halfen mir über manchen Abend hinweg, an dem die Arbeit mir untersagt war. Außer ihnen wußten ältere und jüngere Besucher den Weg zu mir zu finden, und im zweiten und dritten Jahre nach dem Beginn der Genesung durfte auch der Geselligkeit wieder ihr Recht widerfahren. Es fehlte selten an einigen Gästen an unserem Theetisch, es wurde geplaudert und musizirt, wir lasen Stücke mit verteilten Rollen, und zwar wohlvorbereitet und mit einem Ernst, der das Zuhören zum Vergnügen machte; denn die Teilnehmer waren sämtlich reife Menschen.

Des reichen Verkehres mit heiteren Altersgenossen mußte ich jetzt freilich entbehren. Anfänglich hatte mich mancher frühere Corpsbruder, der in Berlin studirte, aufgesucht, an ihre Stelle traten aber nach und nach andere Freunde.

Der liebste war mir Adolf Baeyer, dessen Mutter meine Patin gewesen war. Sein Vater, der General, ein hervorragender Gelehrter, unter dessen Leitung die mitteleuropäische Gradmessung vorgenommen wurde, war aus der Friedrichstraße in die Schellingstraße gezogen und wohnte uns jetzt schräg gegenüber. Die älteren Töchter, die meinen Schwestern liebe Freundinnen gewesen, hatten das Haus verlassen. Es weilte bei dem alten General nur noch sein jüngstes Kind, Jeanette, ein schönes, reich begabt es, junges Mädchen von seltener Frische des Geistes, mit dem mich bis auf den heutigen Tag eine geschwisterlich treue Freundschaft verbindet, und sein Sohn, Dr. Adolf Baeyer. Er gehört jetzt zu den ersten Führern seiner Wissenschaft, der Chemie, und ist Justus Liebigs Nachfolger an der Münchener Universität.[456] Damals war er, nachdem er sich auch außerhalb des Vaterlandes und besonders zu Gent in Kekulés Laboratorium in seiner Disziplin vervollkommnet hatte, Privatdocent in Berlin.

Als Knaben hatten wir einander seltener gesehen, jetzt aber fanden wir uns, und so fern ab seine Disziplin auch von der meinen lag, verband uns doch bald die innigste Freundschaft, die weder Zeit noch Raum beeinträchtigen konnte.

So verschieden wie unser wissenschaftliches Interesse waren auch unsere Naturen. Adolf Baeyers besonnene Ruhe stach scharf genug von meiner immer noch ungebrochenen Lebendigkeit ab; doch es mag gerade der Kontrast gewesen sein, der uns zu einander hinzog, und auch ohne die Lektüre des Italienischen, die wir zeitweilig zusammen trieben, wären uns die Stunden, die wir gemeinsam verlebten, schnell genug vergangen. Die Feinheit seiner Anschauungsweise und die gesunde Schärfe seines Urteils bereiteten mir immer die gleiche Freude, und es gab eine Reihe von Wintern, in der uns fast jeder Tag zusammenführte.

Mein zweiter Freund war ein junger Pole, der sich eifrig mit Aegyptologie beschäftigte, und den Lepsius mir als Fachgenossen zugeführt hatte. Er war der Sohn eines vornehmen Adelsgeschlechtes, und auch seine Besuche bereiteten mir in den Wintern, die mich noch an das Haus fesselten, wahres Vergnügen. Anfänglich hielt ihn sein zurückhaltend bescheidenes Wesen ab, häufiger zu kommen; als sich mir aber der Kerker geöffnet hatte, begegneten wir einander immer öfter. Es kam dahin, daß er mich Georg und ich ihn Mieczy (er hieß Mieczyslaw)[457] nannte. Seinen Vatersnamen verschweige ich, weil, was ich von ihm zu erzählen habe, seinen Angehörigen zum Nachteil gereichen könnte.

So fehlte es mir in jenen harten Wintern auch nicht an Freundschaft. Sie flochten aber auch noch etwas anderes in mein Leben, das der Erinnerung an sie einen besonderen wehmutvollen Zauber verleiht.

Die zweite Tochter der belgischen Nichte meiner Mutter, die sich in Berlin mit dem Architekten und späteren Präsidenten der Akademie der Künste, Fritz Hitzig, vermählt hatte, hieß Eugenie und wurde »Nenny« genannt. Sie hatte die großmütterliche und mütterliche Schönheit geerbt und war ein Kind von geradezu bezauberndem Liebreiz.

Wenn ich je an einem weiblichen Wesen die Forderung des Märchens erfüllt sah: weiß wie Schnee und schwarz wie Ebenholz, so war es an ihr. Nur das rot wie Blut paßte nicht; denn gewöhnlich überhauchte ihr bloß ein zarter rosiger Schimmer die Wangen. Dazu breitete sich über ihr jungfräuliches Antlitz und sprach ihr aus den großen blauen Augen eine holde, träumerische, an Schwermut grenzende Schwärmerei, die nicht nur mir unsagbar reizvoll erschien. Später war es mir, wenn ich ihres Blickes gedachte, als hätte er dem holden Knaben Tod entgegengeschaut, der so früh die Fackel vor ihr senken und sie sich nachziehen sollte.

Als ich Keilhau verließ, war sie noch ein Kind gewesen; so oft ich ihr aber in den Ferien wieder begegnete, hatte ich mich ihres holden Heranblühens gefreut, war es mir ein Genuß gewesen, ihr in das schöne Antlitz zu schauen.[458]

Manche kleine Aufmerksamkeit zeigte dem Kinde, wie gern ich es hatte, und durch mehr als einen Wink war mir von Nenny zu erkennen gegeben worden, daß sie mir vor den Geschwistern gut sei.

Als ich schwer erkrankt nach Berlin zurückkehrte, war sie vor kurzem aus der Pension entlassen worden, und es ist schwer zu beschreiben, welchen Eindruck sie auf mich machte, als sie mir damals zuerst entgegentrat.

Wie etwas ganz Neues erschien sie mir, und doch fand ich alles an der sich erschließenden Rose wieder, was der Knospe so hohen Reiz verliehen hatte. Ich schreibe keinen Roman und gestatte auch dem Herzen nicht, zu verschönern oder zu verklären, was die Vorstellung mir zeigt, und doch kann ich versichern, daß Nenny nichts von allem fehlte, was Dichtung und Kunst den Frauengestalten zuschreiben, mit denen sie den Zauber der Natur oder die schönsten Regungen und Vorstellungen der menschlichen Seele allegorisch verkörpern. So hätte der Poet, der Bildhauer, der Maler, ohne etwas zu geben oder zu nehmen, die Phantasie, das Märchen, die lyrische Dichtung, den Traum oder die Barmherzigkeit darstellen können.

Die Fülle des schwarzen Haares, die seine Linie des Profils, die roten Lipp en, die Zähne, die in ihrem beinahe durchsichtig tadellosen Perlenglanz nur zu kurzem Gebrauch geformt zu sein schienen, die großen, von langen Wimpern beschatteten Augen, deren Blau neben dem dunklen Haar überraschte, die zarten, kleinen Hände und zierlichen Füße vereinten sich zu einem Ganzen, wie es in gleicher Vollkommenheit die Natur nur selten bildet. Und in diesem holdseligen Körper regte sich ein gutes,[459] zärtliches, reines Kinderherz, das sich nach höheren Gaben sehnte, als das menschliche Leben zu gewähren vermag. Ihr eigentliches Heim war eine Welt, die nur ihrem Verlangen darnach die Entstehung verdankte.

Von so guter geistiger Begabung, daß es ihr, wenn die Liebe half, auch gelang, Schweres zu erfassen und dem Streben derer zu folgen, die ihr teuer waren, führte das Denken sie gewöhnlich über das Ziel hinaus zum Schwärmen und zum Ausbau von Idealen, die vom Fundament bis zum Dache hoch über der Erde in Wolken schwebten. Jeder Stein daran stammte aus der Werkstatt ihrer blühenden Träume.

So kam sie mir entgegen wie eine Erscheinung aus einer nur dem Dichter erschlossenen Welt. Und sie zeigte sich oft; denn sie liebte die Mutter, die sie wie ein eigenes Kind ans Herz gezogen hatte, und selten trat sie an mein Lager, ohne eine Blume zu bringen, ein Bild, das ihr gefiel, ein Buch, worin ein Gedicht stand, das ihr lieb war.

Wenn sie erschien, war es mir, als ziehe das Glück bei mir ein. Mein Auge verriet es ihr wohl deutlich genug, doch gebot ich der Lippe Schweigen; denn was hätte ihr, vor der das Leben sich aufthat wie ein Weg durch blühende Gärten, die Neigung zu dem kranken jungen Vetter gesollt, dem wahrscheinlich ein frühes Ende und sicher noch manches Jahr des Siechtums bevorstand. Schon nach dem ersten Wiedersehen fühlte ich. daß ich sie liebte, aber gerade weil ich es so sicher empfand, wollte ich es ihr verbergen.

Ich war bescheiden geworden. Es genügte mir, sie anzuschauen, ihre liebe Stimme zu hören und bisweilen[460] – sie war ja meine Cousine – ihre kleine Hand zu erfassen, deren ich möchte sagen müde Wohlgestalt und Blässe ihrem ganzen Wesen so gut entsprach.

Die Wissenschaft war jetzt meine Geliebte. Ihr sollte angehören, was mir an Geist, an Leidenschaft und Feuer innewohnte. Nenny schien ein freundliches Geschick mir zu senden, um auch dem Herzen, dem Gemüte, dem Schönheitssinne eine Gabe zu spenden.

Doch ich war jung, und das Verlangen, dem ich Schweigen gebot, erhob dennoch die Stimme, wenn sie mir nahe war und ihre Augen so innig in die meinen blickten.

Dennoch durfte ich ihrer nicht begehren, und noch lag kein Schmerz in dieser Entsagung; denn wenn sie ging, wußte ich, daß sie wiederkehren werde.

Doch so blieb es nicht immer; denn ihr gebot keine Pflicht, an dem Kampfe teilzunehmen, der in mir tobte, und es kam ein Tag, an dem ich von ihr selbst erfuhr, daß sie mich liebte, daß ihr Herz mir schon gehört hatte, wie sie noch als kleines Mädchen in die Schule gegangen, daß sie die Rosen, die ich ihr in die Büchertasche gesteckt, gepreßt und aufbewahrt hatte, daß sie nach meiner Erkrankung nicht müde geworden war, für mich zu beten, und daß sie die Nächte durchweint hatte, als der Arzt, der auch den Ihren nahe stand, ihrer Mutter berichtete, wie übel es um mich stand.

Wie Engelsstimmen klang mir dies Bekenntnis. Es machte mich unendlich glücklich, aber ich behielt dennoch die Kraft, Nenny zu beschwören, diese selige Stunde mit mir als schönstes Lebenskleinod zu bewahren und dann mir zu helfen, die Pflicht zu erfüllen, von ihr zu lassen.

Sie aber sah anders in die Zukunft als ich. Es war[461] ihr genug, sich sagen zu dürfen, daß mein Herz ihr gehörte. Wenn ich jung sterbe, so werde sie mir folgen. Und nun vergönnte mir das fromme, in einer Herrnhuter Anstalt erzogene Kind, das an ein Wiedersehen nach dem Tode von Angesicht zu Angesicht felsenfest glaubte, einen Blick in die Wunderwelt zu werfen, an der es nach dem Ende hienieden Teil zu haben hoffte. Mit welchem Zauber hatte Nennys junge Einbildungskraft das Paradies ausgestattet, auf das sie hoffte! Es sollte ihr so wonnige Glückseligkeit für alle Zukunft bis ans Ende der Dinge schenken, daß es ihr leicht wurde, zu seinen Gunsten dem Schönsten, was die Erde bietet, zu entsagen.

Staunend und mit aufrichtiger Rührung hörte ich ihr zu. Das war der Glaube, der Berge versetzt! Dieser Glaube gab es nicht nur dem Himmel anheim, gut zu machen, was er im Diesseits versagte, sondern zog den Himmel selbst auf die Erde nieder.

Später sind mir die Augen wiederbegegnet, mit denen sie, ins Leere schauend, mir diese Hoffnungsbilder aus dem Reich ihrer schönsten Träume vor die Seele zu führen versuchte; – es waren die der heiligen Cäcilie des Raffael in Bologna und München. Auch auf einer der Murilloschen Madonnen in Sevilla sah ich sie, als Nenny schon längst nicht mehr war, wieder, und sie stehen mir auch jetzt vor der Seele.

An diesen Kinderglauben zu rühren, oder dieser von frommer Schwärmerei beflügelten Einbildungskraft Zügel anzulegen, wäre mir frevelhaft erschienen. Und ich war jung. Auch das Leid, das ich überstanden, hatte weder die verlangende Stimme des Herzens zum Schweigen gebracht, noch die Wärme meines Blutes gekühlt.[462]

Ich, der ich gemeint hatte, der Garten der Liebe sei mir auf immer verschlossen, wurde von der Schönsten und Besten, die mir selbst teurer war als das Leben, geliebt, und mit neu knospender Hoffnung, die Nennys Vertrauen auf Gottes Güte wie mit warmem Frühlingsregen betaute, genoß ich dieses Glückes.

Wir hatten Zeit, Geduld zu üben. Ihr schien kein Warten zu lange. Wenn ich genas, dann sollte sie die Meine werden. Nicht in jener Welt, auf die Nenny hoffte, nein, schon in dieser wollten wir selig sein wie im Himmel.

Doch das Gewissen war nicht zum Schweigen zu bringen. Die warnende Stimme der Mutter, der ich das Herz geöffnet hatte, verschärfte die Mahnungen des meinen, und als Wildbad mir wohl einige Besserung, doch nichts weniger als volle Genesung gebracht hatte, überließ ich dem Arzte die Entscheidung. Sie fiel streng verneinend aus. Im besten Falle, sagte er, würde ich nach Jahren berechtigt sein, das Geschick eines Weibes an das meine zu knüpfen.

Der alte Freund wußte, wem mein Herz sich zugeneigt hatte. Er kannte Nenny wie mich von Kind an, und es that ihm weh, dies Verdikt sprechen zu müssen; doch er blieb darauf bestehen und half mir, es an mir selbst und der Geliebten zu vollstrecken.

So wurde dieser Anfang einer schönen und ernsten Herzensgeschichte zum schnell verronnenen Traume. Selig genug war sein Verlauf gewesen, doch sein Ende schlug meinem Herzen eine Wunde, die nur langsam vernarbte. Sie öffnete sich von neuem, als ich Nenny, in deren elterlichem Hause ich schon wieder als Halbgenesener verkehrte,[463] selbst den Rat erteilte, einem jungen Gutsbesitzer, von dem ich nur Gutes vernommen, und der sich eifrig um sie bewarb, die Hand zu reichen. Sie ist denn auch die Seine geworden; doch schon ein Jahr später öffnete sich ihr die andere Welt, die sie schon hienieden als ihre wahre Heimat betrachtet.

Ihr liebes Bild steht in dem Schrein meiner Erinnerungen an der geweihtesten Stätte.

Mit einer Lotosblume auf dem Spiegel der Spree möchte ich sie vergleichen. Sie gehörte nicht in die Zeit und Umgebung, in die sie das Schicksal stellte. Ich versagte es mir auch, ihr Wesen in einem meiner Romane nachzubilden; denn ich empfand, daß gerade wenn es mir gelingen würde, sie mit aller Treue darzustellen, der moderne Leser sich berechtigt fühlen würde, sie für eine in unseren Tagen unmögliche Idealfigur zu halten. Nur im Märchen hätte man sie vielleicht gelten lassen, und als ich die Bianca im Elixir schuf, lieh ich ihr Nennys Gestalt.

Der Dank, den ich ihr schulde, begleitet mich bis ans Ende; denn während der Zeit der strengsten Hast, die mein Leiden mir auferlegte, war sie es, die mir Himmelsbläue, Sonnenschein und tausend Gaben eines blühenden Edengartens in das Krankenzimmer brachte.

Fußnoten

1 Kein Wörterbuch, keine brauchbare Grammatik, außer der längst überholten Champollions, stand mir für das Hieroglyphische zu Gebote. Das Koptische hatte noch kein Stern oder Steindorff echt wissenschaftlich behandelt. Nach Tuti, Peyron, Tattam und Steinthal-Schwarze mußte ich diese Sprache erlernen. Für das Lesen des Hieratischen gab es keine Hilfe als eigenen Fleiß und die Listen, die ich mir selbst nach der Umschrift der spärlichen Texte, die mir damals erreichbar waren, angelegt hatte. Lepsius selbst hatte sich nie eingehend damit beschäftigt. Brugschs demotische Grammatik war schon erschienen, doch ward ihre Benutzung grausam erschwert durch die schlechte Uebereinstimmung der Typen mit den wirklichen Zeichen.


Quelle:
Ebers, Georg: Geschichte meines Lebens. Vom Kind bis zum Manne. In: Gesammelte Werke, 25. Band, Stuttgart, Leipzig, Berlin [um 1895]., S. 464.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Geschichte meines Lebens. Vom Kind bis zum Manne
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