Vorwort zur ersten Auflage.

Die Leser, welche mir so freundlich durch acht Bände gefolgt sind, werden mir wohl ein Wort zum vorläufigen Abschiede gönnen. Ich habe die Geschichte des jüdischen Volksstammes in ihrem zweitausendjährigen Verlaufe von der zweiten Glanzepoche unter den hasmonäischen Fürsten bis hart an die Schwelle der Gegenwart herabgeführt. Glücklicher als meine Vorgänger, kann ich sie mit einen freudigen Gefühle abschließen, daß der jüdische Stamm endlich in den zivilisierten Ländern nicht bloß Gerechtigkeit und Freiheit, sondern auch eine gewisse Anerkennung gefunden hat, daß ihm unbeschränkter Spielraum gegönnt ist, seine Kräfte zu entfalten, nicht als Gnadengeschenk, sondern als ein wohlerworbenes Recht für tausendfache Leiden, wie sie kaum ein Volk auf Erden in diesem Maße und dieser Dauer erduldet hat, und für überraschende Leistungen weltgeschichtlicher Natur, wie sie wiederum kaum eine Rasse in dieser Art hervorgebracht hat. Wie diese äußere Befreiung und teilweise Anerkennung errungen wurden und wie sie mit der inneren Befreiung und Läuterung Hand in Hand gingen oder zugleich in Wechselwirkung von Ursache und Folge zueinander standen, soll eben der gegenwärtige Band veranschaulichen. Wenn es mir gelungen sein sollte, meine Leser herausfinden zu lassen, daß auch in der vorläufig letzten Phase der jüdischen Geschichte, die gewissermaßen vor unseren Augen vorging, der wunderbare Finger Gottes nicht fehlte, so würde ich mich über die Fehler trösten, welche meiner Darstellung und Beweisführung vielleicht anhaften.

Eine Rechtfertigung bin ich noch meinen Lesern schuldig. Zur Vollendung des Bildes von dem Geschichtsverlauf in dem letzten Jahrhundert seit Mendelssohn wäre es nötig gewesen, ihn bis in die unmittelbare Gegenwart zu verfolgen und zu zeigen, wie die ersten hellen Streifen nach langer, düsterer Nacht sich zu einem augerfreuenden Morgenrot färbten, und wie auf den Morgen der Verheißung [5] der Mittag der Erfüllung gefolgt ist. Ich habe es nichtsdestoweniger vorgezogen, bei dem Anbruch der wahrhaft neuen Ära für ganz Europa von 1848 abzuschließen. Ich hätte sonst auch von den gegenwärtig noch lebenden Trägern der Geschichte sprechen müssen, was mir höchst mißlich scheint, weil sich bei Beurteilung lebender Personen von geschichtlicher Tragweite unwillkürlich die Subjektivität einmischt und der Verdacht rege wird, daß Sympathie oder Antipathie den Griffel geführt und die Farben gemischt haben. Ich habe daher lieber auf Vollendung des Gemäldes verzichtet, um nicht selbst in Gefahr zu geraten, hier zu viel Licht und dort zu viel Schatten anzubringen.

Überhaupt scheint mir, daß in der Geschichte erst der Rechnungsabschluß, welchen der Tod vollzieht, es möglich macht, den Anteil zu bestimmen, welchen die Persönlichkeiten mit ihrer Energie, ihren Illusionen und selbst mit den von ihnen ausgegangenen Friktionen an der Geschichtsarbeit hatten. In der Perspektive der zeitlichen Entfernung heben sich die Umrisse besser ab, als in der nächsten Nähe, wo in dem knäuelhaften Gewirre das überangestrengte Auge des Beobachters das Aufgedunsene für groß und bedeutend und das bescheiden Zurücktretende für winzig ansieht. – Nur, wo es unumgänglich zum Verständnis der Tatsachen notwendig war, habe ich auf lebende Persönlichkeiten andeutungsweise hingewiesen oder sie garadezu ohne weitere Charakterisierung genannt. –

Ich schulde noch den Lesern die Erzählung von den Uranfängen des jüdischen Volksstammes bis zur Glanzepoche der hasmonäischen Erhebung. Denn das ist das Eigenartige an der Geschichte desselben, daß Vorgänge in Ägypten und am Fuße des Sinaï vor mehr denn drei Jahrtausenden und Stimmungen, welche die Exulanten am Euphrat vor mehr denn zweitausend Jahren bewegten, noch heute nachwirken. Ohne Kenntnis dieses Ursprungs bleibt auch das geschichtliche Weben und Treiben der Söhne dieses Volksstammes in der Gegenwart rätselhaft. Ich möchte aber nicht eher an die Schilderung dieser grundlegenden, gnadenreichen Zeit von Mose bis Jeremia, von dem flammenden Sinaï bis zu den rauchenden Trümmern Jerusalems, und von der babylonischen Gefangenschaft bis zu den Kämpfen der Makkabäer herangehen, als bis ich den Schauplatz dieser Begebenheiten mit eigenen Augen gesehen habe, um das Lokalkolorit bei der Schilderung anbringen zu können, ein Wunsch, den ich seit lange in stiller Brust hege, und der durch Hindernisse mancherlei Art bisher unerfüllt geblieben ist.

Sollte mir der Himmel die Gnade erweisen, mich das Land der Väter erblicken zu lassen und meine daselbst anzustellenden Forschungen [6] mit Erfolg krönen, dann werde ich mich eher getrauen, wenn auch mit zaghaftem Herzen, an diese große Aufgabe zu gehen, die Geschichte der vorexilischen und nachexilischen Zeit zu erzählen.


Breslau, im April 1870.

Graetz.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1900], Band 11, S. V5-VII7.
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