7. Der Historiker.

[48] Bei dem damaligen Stand der jüdischen Wissenschaft, wo es für alle Seiten und Zeiten an sorgfältigen Einzelforschungen noch fehlte, hielt man die Zeit noch gar nicht gekommen, um eine Geschichte der Juden mit Aussicht auf Erfolg schreiben zu können. Einem solchen Unternehmen schienen innere und äußere Schwierigkeiten, schier unübersteiglich, und noch dazu gewaltige Vorurteile entgegen zu stehen. Graetz achtete ihrer nicht. Ohne jede Unterstützung seitens einer Behörde oder irgend einer Körperschaft, rein und allein aus der überschwellenden Kraft des eigenen Genius hat er das anscheinend unausführbare Werk vollbracht. Er hat seinen Glaubensgenossen die Geschichte geschaffen und die allgemeinen Sympathien für die Vergangenheit des Judentums geweckt. Mit kühner Hand wagte er es, von den geschwärzten und verdunkelten Bildern die Staubkruste und das Spinngewebe abzuheben und den abgeblaßten, verblichenen Konturen und Formen neue Frische und strahlenden Farbenglanz wiederzugeben. Die wichtigsten Momente, auf denen das Verdienst und die Wirkung seiner Geschichtsschreibung beruht, mögen noch besonders hervorgehoben werden.

[48] Er hat vor allem den richtigen Standpunkt, von dem aus der geschichtliche Verlauf des Judentums beurteilt werden muß, zwar nicht geschaffen, aber doch zuerst hergerichtet und durchgeführt; er hat allenthalben das Gesichtsfeld frei gelegt, um die verschiedenen und vielgestaltigen Phasen dieses Verlaufs leicht und sicher überblicken zu können. Es gab für ihn nur einen einzigen Vorgänger,28 der als solcher in Betracht kommt, Isaak Markus Jost. Derselbe war schon 1820 mit einer »Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Makkabäer« hervorgetreten und hatte sie bis 1829 in neun Bänden bis auf die Gegenwart hinabgeführt, woraus er 1850 einen etwas verbesserten, schon mit Abraham beginnenden Auszug »Allgemeine Geschichte des israelitischen Volkes« in zwei Bänden gegeben; aber als wirklicher Pfadfinder hat er sich dabei nicht erwiesen. Jost war ein Gelehrter, aber kein Historiker; ein edler, verdienstvoller Mann, hat er durch seine reichen Kenntnisse für die Förderung der jüdischen Geschichtsschreibung viel getan, aber er hat keine geschichtlichen Offenbarungen empfangen, auch nicht solche durch frohes, kräftiges Auftun seines Mundes weiter verkündet. Bei dem gänzlichen Mangel an Vorarbeiten und Spezialforschungen war es zu jener Zeit schon eine nicht hoch genug anzuschlagende Leistung und ein großes Verdienst, daß Jost die mehr oder minder offen zutage liegenden, jedoch überaus zerstreuten Daten aufgesucht und zusammengetragen hat, daß er ihren Inhalt zu erforschen und durch Vergleichung richtig zu stellen suchte, und dadurch doch ein Handbuch für das Chaos von verwirrenden Einzelheiten und Tatsachen lieferte. Seine Geschichtsdarstellung erscheint jedoch wie eine Art Herbarium, eine aufgespeicherte Sammlung von Personen und Vorkommnissen, welche durch [49] keinen höheren Pragmatismus aneinander geknüpft, nur nach äußerlichen, oberflächlichen Gesichtspunkten klassifiziert werden. Die Reflexion ist nüchtern und dringt nicht in die Tiefe, der Stil trocken, umständlich und eintönig, ohne Feuer und Kraft. Von einer lebendigen Vergegenwärtigung der Vergangenheit ist nichts zu spüren. Voller Verehrung für das Römertum, von christlichen Anschauungen durchsetzt, ist er unbewußt in der innerlichen Scheu befangen, nicht auf der Höhe des Zeitbewußtseins zu stehen und fürchtet, des Mangels an Objektivität geziehen zu werden, wenn er dem Judentum und dem Rabbinismus vollauf gerecht werden soll; daraus fließt seine Verkennung der Pharisäer und ihrer Nachfolger, der Rabbinen, wie seine schiefe, fast karikaturenhafte Behandlung des Talmud und des dazu gehörigen Schrifttums. Er fühlte, daß schon die bloße historische Betrachtung des Judentums zu dessen Glorifizierung wurde, aber er wollte um keinen Preis als Apologet desselben gelten.29 Von derartigen Bedenken und Rücksichten war Graetz durchaus frei, irgendwelche Furcht oder Scheu hat zur Bildung seines Urteils und seiner Anschauung niemals mitgewirkt, und hat ihn ebenso wenig gehindert, unbekümmert ob er bei Freund oder Feind damit anstößt, sich in seinem vollen Empfinden auszusprechen. Er war der erste moderne Schriftsteller, der bei der Würdigung der jüdischen Vergangenheit mit dem Standpunkt der christlichen Anschauung ganz und gar gebrochen hat, er hat es zuerst versucht, die Entwickelung des Judentums, wie es ja bei jeder anderen Erscheinung geschieht, aus sich selbst heraus zu begreifen und von diesem Gesichtspunkt aus, ohne Schönfärberei zu treiben, Licht und Schatten gleichmäßig darzulegen. Es war erst kurze Zeit, daß Graetz in Berlin sich aufhielt, als er im Hause von Michael Sachs mit Zunz zusammentraf. Der Hausherr stellte die beiden Männer, die sich persönlich noch nicht kannten, einander vor und bemerkte zum Lobe von Graetz, daß derselbe eben im Begriff sei, eine jüdische Geschichte zu veröffentlichen. »Wieder eine Geschichte der Juden?« fragte Zunz[50] spitz.30 »Allerdings« replizierte Graetz scharf »aber dieses Mal eine jüdische Geschichte!« In der Tat war Graetz der erste, welcher der jüdischen Geschichte das ihr gebührende Recht wiederzugewinnen suchte und den Standpunkt der jüdischen Anschauung geltend machte. Die christliche Anschauung erblickt nämlich die Vollendung und den Abschluß der Lehre Moses und der prophetischen Verkündigungen in dem Glauben an die Messianität des Gottmenschen und an die Wunder, die von seiner Geburt, seinem Tod und seiner Auferstehung berichtet werden; nur was auf diesem dogmatischen Glaubensboden wurzelt, könne sich zum richtigen Gottesbegriff, zu wahrer Sittlichkeit erheben und die Fortbildung der Zivilisation fördern. Das Judentum habe demnach, indem es das Christentum aus sich herausgesetzt, seine religiöse Mission erschöpft, und mit dem fast gleichzeitigen Zusammenbruch seiner nationalen Selbständigkeit sei seine geistige Bedeutung und sein geschichtliches Leben erloschen; was sich darüber hinaus fortspinnt, sei nichts weiter als Verkümmerung und Entartung, Thoravergötterung und religiöser Formalismus.

Dieser von bewußter oder unbewußter Befangenheit getrübten Auffassung will Graetz eine wahrheitsgetreue Darstellung der Tatsachen, frei von jeder Tendenz, Geflissentlichkeit und Schönmalerei gegenüberstellen; es bedarf nach seiner Meinung nur einer objektiven, vorurteilslosen Geschichtsbetrachtung, um die durch Not und Druck immer wieder hindurchbrechende Lebenskraft und den fortwirkenden Geistestrieb des Judentums zu erkennen, wie es unabhängig von seiner nationalen Existenz, getragen von der Macht seiner Innerlichkeit und Idealität, den Ausbau seines monotheistischen Lehrbegriffs und sittlichen Gedankens fortsetzt, wie es trotz seiner unsäglichen Leiden Denker und Dichter, selbst Staatsmänner erzeugt, wie es, obwohl entwurzelt und zersplittert, an den Kulturaufgaben der Menschheit eifrig und erfolgreich mitgearbeitet hat. Der Standpunkt solcher Geschichtsbetrachtung ist von Graetz energisch aufgenommen [51] und konsequent durchgeführt worden und damit der Boden bereitet, um die verschiedenen Seiten des Judentums in ihrer Fülle und Reichhaltigkeit zu Bewußtsein und Verständnis zu bringen.

Graetz hat ferner nicht nur neue Quellen erschlossen, er hat den bereits erschlossenen nicht selten neue Gesichtspunkte und überraschende Aufklärungen abgewonnen. Er verstand es besonders, jüdischen Berichten, die fast verblaßt schienen oder gar unglaubwürdig klangen, durch Aufspürung schwer erkennbarer Parallelen und Belege bei nichtjüdischen Schriftstellern den farbenfrischen Hintergrund oder die lebensvolle Wirklichkeit oder doch den tatsächlichen Kern zu rekonstruieren, und suchte bald mit mehr bald mit weniger Glück überall Mittelglieder und Ergänzungsstücke heraus zu finden und einzufügen. Als er mit dem Mut der Begeisterung an das kühne Werk ging, war die jüdische Geschichte zumeist noch ein weites, unübersehbares Trümmerfeld, über welches flammende Ereignisse ihre Lava ergossen, der Staub der Jahrtausende sich niedergeschlagen hatte. Nur einzelne Schöpfungen ragten aus der weiten unwegsamen Öde der trostlosen Verwüstung spärlich hervor; sonst gab es weder Steg noch Spur, um sich in diesem Labyrinth von Trümmern, Schutt und Gestrüpp zurecht zu finden. Allerdings hatten die großen Schöpfer der jüdischen Wissenschaft, Zunz und Rapoport, welche noch immer nicht, ihrem außerordentlichen Verdienst entsprechend, nach Gebühr von unseren Glaubensgenossen gewürdigt sind, bereits ihre trefflichen, grundlegenden Vorarbeiten gefördert; weite Strecken waren wohl von ihnen erfolgreich aufgeschlossen und fruchtbar gemacht worden, dieselben glichen jedoch nur kleinen oder größeren Inseln in dem wüsten Schuttmeer, sie boten keinen Überblick über das Ganze, reichten nur selten über das literarische Gebiet hinaus und führten nicht zu den das Gesamtgebiet beherrschenden Knotenpunkten. Hierin hat sich Graetz vornehmlich als Pfadfinder betätigt. Welche Zeit er auch behandelt, wie sehr er [52] den Einzelheiten auf den Grund zu gehen sucht, sein Blick bleibt unverwandt auf das Ganze gerichtet, allenthalben will er durch das wildwuchernde Buschwerk einen Weg schlagen, oder aus den umher verstreuten Splitterstücken und ihren Bruchflächen die Adern und Linien erkennen, an denen sich die wesentliche Richtung und der Verlauf des historischen Prozesses verfolgen läßt. Durch die Energie, mit der er große Gedankenmassen fast spielend zu bewältigen und zu gruppieren versteht, durch die Klarheit, mit der er in seinen gelehrten Exkursen das Für und Wider disparater Berichte, Belege und Indizien einander gegenüberstellt, um dann mit geschickter Hand den leitenden Faden aus dem verknäuelten Durcheinander herauszugreifen und festzuhalten, durch die Enschiedenheit, mit der er, auch auf die Gefahr zu irren, zu allen Ereignissen und Persönlichkeiten scharf Stellung nimmt und seiner Stellungnahme einen unumwundenen, kräftigen Ausdruck gibt, ist es ihm gelungen, in das öde und wirre Chaos des geschichtlichen Stoffes Licht und Übersichtlichkeit, Ordnung und System zu bringen. Man vergleiche einmal die Betrachtungen, welche er als »Einleitung« einzelnen Teilen seines Werkes, wie dem 4., 5., 7. vorausgeschickt, um den glücklichen Blick zu würdigen, mit dem er die treibenden Ideen und die orientierenden Punkte herauszuheben und zu fixieren versteht; es ist dies nicht bloß in großen und allgemeinen Zügen hingeworfen, es wird auch im einzelnen ausgeführt.

Um doch das eine oder andere Beispiel dafür beizubringen, wie unser Historiker auf solche Weise die geschichtliche Forschung gehoben und auch bereichert hat, sei auf das Kapitel von Gaon Saadiah (Bd. 5) hingewiesen, der von Rapoport ans Licht gezogen worden, über den Geiger dann wertvolle Aufschlüsse gegeben, dessen epochemachende Bedeutung und schriftstellerische Tätigkeit erst von Graetz in das volle Licht gerückt wurde. – Chasdai Creskas ist in seinem hochbedeutsamen Einfluß auf philosophischem und sozialem Gebiet erst von Graetz wieder erkannt (Bd. 8) und gewürdigt worden. – Der große Religionsdisput von Tortosa, über den eine gute jüdische Quelle berichtet, ist doch erst durch eine scharfsinnige Konfrontation dieser Quelle mit christlichen Mitteilungen in seinem geschichtlichen Zusammenhang und seiner politischen Tendenz (Bd. 8) klar gestellt worden. – Aus dem sagenhaften Zwielicht, [53] das die Schwärmer David Reubeni und Salomo Molcho umspielte, und dem man keinen größeren Glauben als etwa einer Halluzination und Phantasterei beizulegen geneigt war, hat Graetz (Bd. 9) die abenteuerliche Wirklichkeit herausgefunden. Er besaß eben einen merkwürdigen Instinkt für die Realität von Tatsachen, so verwunderlich sie auch erschienen, und dazu eine seltene Sagazität, um einen entstellten Text auf seinen tatsächlichen Inhalt zu verstehen und zu emendieren.

Solche Eigenschaften hatten ihn befähigt, die talmudische Denk- und Ausdrucksweise erfolgreich in die moderne Empfindung und Anschauung zu übertragen und eine musterhafte Anleitung zu geben, wie man die Schriften der talmudischen Zeit als wertvolle Geschichtsquellen kritisch zu verwerten und auszunutzen habe. Die nichtjüdischen Gelehrten und Ungelehrten waren schnell fertig damit, was so häufig auf diesem Schriftgebiet unverständlich oder befremdlich lautet, als talmudische Unwissenheit oder rabbinischen Aberwitz zu erklären, und die Männer der jüdischen Aufklärungsperiode schwankten zum mindesten, ob sie nicht solcher Verurteilung beipflichten müßten. Graetz wies nun nachdrücklich darauf hin, daß gerade in den historischen Relationen meist eine heillose Verwüstung des Textes eingerissen sei, welcher repariert werden müsse. Ebenso liege zuweilen bald eine pragmatische, bald eine tendenziöse Ausgestaltung der geschichtlichen Überlieferung vor, oder es haben legendäre Schichten um einen tatsächlichen Kern sich abgelagert, der eben herauszuschälen sei; ganz abgesehen davon, daß die plastische Ausdrucksweise der Rabbinen einem fremden Anschauungskreis entlehnt, durch moderne Begriffe ausgelöst werden müßte.

Um auch hiefür eine Probe beizubringen, so wird in einer altrabbinischen Chronik Seder olam rabbah berichtet, daß von dem Krieg des Vespasian bis zum Kriege des Titus (סוטיט) 22 Jahre abliegen. Ist es schon unhistorisch und unberechtigt, zwischen einem Krieg des Vespasian und einem solchen des Titus zu scheiden, so bleibt die Zeitangabe von 22 Jahren schlechterdings unbegreiflich; dieselbe unverständliche Scheidung zwischen einem Krieg des Vespasian und des Titus wiederholt [54] sich auch in der Mischnah zum Schluß des Traktats Sotah. Graetz änderte nur einen einzigen Buchstaben ט in ק und liest statt סוטיט (Titus) vielmehr סוטיק (Kitus) = Quietus. Damit hat er einen palästinensischen Aufstand unter Lucius Quietus entdeckt, über den freilich nichts näheres zu erfahren ist, dessen Existenz aber außer Zweifel steht; merkwürdigerweise ist diese ebenso einfache, wie geistvolle Konjektur durch eine handschriftliche Lesart bestätigt worden.31 – Nicht minder seltsam klingt eine Erzählung (Sabbath 17a): »Man steckte ein Schwert ins Lehrhaus und sagte: wer will, darf hineingehen, aber niemand darf herausgehen usw.« Graetz löst dieses Rätsel: eine terroristische Synode, in dem ersten Jahr der Revolution gegen Nero von den Schammaiten in Szene gesetzt,32 wie er überhaupt den Gegensatz zwischen der Schule Hillels und Schammais nicht bloß als einen theoretischen, sondern als einen politischen erfaßt und in den verbissenen Zeloten die extremen Schammaiten wieder erkannt hat. »Ein anerkennenswertes Verdienst hat sich Graetz durch Aufdeckung dieser bis dahin von niemand recht gewürdigten Tatsache (der terroristischen Synedrialsitzung) erworben, welche an sich sehr bedeutsam erscheint und noch mehr Beachtung fordert wegen anderer sich daran knüpfenden Ergebnisse ... Jedenfalls ist ein zweites Verdienst des Herrn Graetz, nämlich die Benützung der Megillath Taanith als Geschichtsquelle und die Ermittelung der Angaben derselben, wenn auch manches noch zweifelhaft bleibt, von gleich großer Bedeutung,« so urteilt der Historiker33 Jost, gewiß ein spruchbefugter Richter in diesen Dingen.

Wo soviel Licht ausstrahlt, kann es auch an Schatten nicht fehlen. Die Kehrseite seiner hohen Vorzüge zeigt sich darin, daß er seine Subjektivität zuweilen stark vorwalten läßt, daß er bei seinen Hypothesen allzusehr nach klarer, scharfer Bestimmtheit strebt, während die Ere gnisse häufig ineinander fließen, die Charaktere oft vielleicht wechselnden, widersprechenden Stimmungen und Motiven nachgeben, die Texte möglicherweise von ihren Verfassern eine uns gar nicht mehr verständliche, [55] unberechenbare, selbst irrationelle Wendung erhalten haben. Es kann überhaupt doch nicht Wunder nehmen, wenn bei einem geschichtlichen Riesenwerk von zwölf umfangreichen Bänden, – wo stets durch das Unterholz kleinlicher Einzelberichte der zu einer pragmatischen Betrachtung des Geschehens führende Pfad aufgefunden wird, neue Tatsachen oder doch neue Gruppierungen ermittelt werden – einzelne Inkorrektheiten, menschliche Versehen und Verstöße mitunterlaufen. Derartige Mängel und Schwächen verschwinden vor dem Reichtum des Dargebotenen, vor der Größe der Leistung. Perspektive, lebendige Charakteristik, scharfe Zeichnung, leuchtendes Kolorit verdankt die jüdische Geschichte einzig und allein seiner phantasievollen Feder; er hat dadurch neue Probleme angeregt, hat die historischen Typen geschaffen, er hat gleichsam das ganze Kartennetz für die jüdische Geschichte vorgezeichnet. Als sein höchstes, von keinem anderen bisher erreichtes Verdienst muß jedoch gerühmt werden, daß er durch sein gemeinfaßliches, hinreißendes Wort sich in allen Schichten seiner Glaubensgenossen Eingang verschafft34, in ihnen das Bewußtsein einer[56] trotz aller Verfolgungen und Erniedrigungen ruhmvollen Vergangenheit wieder angeregt und den Glauben an die geistige Zukunft Israels neu geweckt hat. Mit der Energie und Glut seines Temperamentes hatte er gleichsam das eigene Dasein in die Vergangenheit seines Stammes getaucht, hatte er sich in die geheimsten Regungen der jüdischen Volksseele versenkt. »Wie ein vertrauter Bekannter und Genosse wandelt er« unter den Rabbinen, Philosophen und Dichtern, deren Physiognomien er zeichnet; man merkt es ihm an, wie bei bevorstehenden Stürmen Furcht und Hoffnung, bei hereinbrechenden Katastrophen Angst und Qual durch seine Brust wogt und wühlt, und man wird von diesen Gefühlen mitergriffen. Er zittert beispielsweise bei dem Gedanken an die Schmach und das Unheil, das die Verirrung des Pseudomessias Sabbathai Zewi über Juda heraufbeschwören wird, und tröstet sich mit der Fülle des Lichtes, das gleichzeitig aus jüdischem Quell in Spinoza über die Welt heraufzieht, indem er beide, wie es seine mit Vorliebe geübte Weise ist, Menschen und Ereignisse durch ihren Gegensatz sich gegenseitig beleuchten zu lassen, als grellen Kontrast einander gegenüberstellt; beide aus demselben spekulativen, das Unendliche suchenden Trieb des Judentums hervorgegangen, beide schließlich von ihrem jüdischen Ursprung sich lösend, der erstere, von dem mystischen Irrlicht verlockt, in dem moralischen Sumpf schwindelhafter Verworfenheit versinkend, der letztere, von philosophischem Geist getragen, zur wetterlosen aber kalten Höhe eines idealen Weisen sich emporschwingend.35 Seiner schöpferischen und zugleich warmblütigen Gestaltungskraft ist es gelungen, in die kalte Atmosphäre stumpfer Gleichgültigkeit, welche sich immer erstarrender über die Gemüter der jüdischen Glaubenswelt ausbreitete, den warmen erlösenden Frühlingshauch zu leiten und das allgemeine Interesse für den Geist und die Geschichte des Judentums neu zu beleben. Der populärste Schriftsteller innerhalb der jüdischen Wissenschaft, konnte er den für einen jüdischen Autor beispiellosen Erfolg verzeichnen, daß sein so bändereiches Werk, welches nur auf gelehrte Leser berechnet schien, in verhältnismäßig kurzer Zeit es auf drei Auflagen, ja in einigen Teilen sogar zu einer vierten Auflage [57] gebracht hat; dasselbe ist überhaupt Gemeingut der gesamten Glaubensgenossenschaft geworden und wurde in alle Weltsprachen übersetzt, ins Französische, ins Englische, ins Russische, und last not least, ins Hebräische36.

Die einzige Förderung, die Graetz dabei erfahren, ging von einem Literaturverein aus, den Dr. Ludwig Philippson, der genialste und fruchtbarste Journalist des Rabbinertums und dazu ein ungewöhnliches, erfolgreiches Organisationstalent, 1855 unter dem Namen »Institut zur Förderung der israelitischen Literatur« ins Leben gerufen. Für einen durchaus mäßigen Jahresbeitrag wurden mehrere sehr gute Bücher alljährlich geliefert, unter welchen allerdings meist ein Geschichtsband von Graetz die pièce de résistance bildete. Dadurch war seiner Geschichte von vornherein eine große Verbreitung gesichert, anderseits aber wurde auch das »Institut« so wirksam durch die Graetzschen Bücher getragen, daß dasselbe, als Graetz den letzten (elften) Band wegen Differenzen mit Philippson aus diesem Verlag zurückzog, sich nicht lange mehr halten konnte. Dahingegen hat es dem Historiker an zahlreichen Anfeindungen, Eifersüchteleien und Nörgeleien nicht gefehlt. Man benützte ihn allenthalben und sekretierte ihn am liebsten. In der ersten Zeit namentlich mäkelte und meisterte man an seiner Arbeit herum, als wenn jeglicher Banause, der in seinem beschränkten Kreise als kenntnisreicher Talmudist [58] angesehen wurde, nur die Feder anzusetzen brauchte, um solch eine Geschichte viel besser zu schreiben und richtiger zu gestalten. Als man später jedoch anerkennen mußte, geschah es meist nur mit halber Stimme und mit sauersüßer Miene. Die jungen Theologen beider extremer Richtungen nach rechts wie nach links konnten sich nicht genug tun, ihm im einzelnen allerlei Verstöße und Irrtümer nachzuweisen, ohne zu ahnen, daß sie ihn dabei größtenteils mit seinem eigenen Fett beträufelten, und ohne zu begreifen, daß ein solches Monumentalwerk sich der kleinen Flecken und Verbildungen gar nicht erwehren könne. Mit seinem einstigen Lehrer Samson Raphael Hirsch war es darüber zu einem vollständigen Bruch gekommen. Doch ließ sich seine arbeitsfrische, lebensfrohe Natur von alledem nichts anfechten, auch der durchschlagende Erfolg seiner Schriften wurde dadurch nicht im mindesten aufgehalten. Mit besonderer Genugtuung erfüllte ihn die Auszeichnung, als er im Dezember 1869 von der preußischen Regierung zum Honorarprofessor an der Breslauer Universität ernannt wurde; der schwache Punkt seines Lebens, gegen den seine hämischen Gegner ihre Pfeile mit Vorliebe richteten, der Mangel an einem zunftmäßigen Stufengang der gelehrten Laufbahn, ward durch diese behördliche Anerkennung wesentlich ausgeglichen und saniert.

Mit dem Erscheinen des elften Bandes im Jahre 1870 hatte er die jüdische Geschichte von der Erhebung der Makkabäer bis dicht auf die Gegenwart – 1848 – durch neun Bände hindurch in ununterbrochener Aufeinanderfolge hinabgeführt. Es galt jetzt, um das Werk zu vervollständigen und abzuschließen, die Uranfänge des Judentums, die biblische und vormakkabäische Zeit zur Darstellung zu bringen. Graetz hatte dieser Partie die angelegentlichste Sorgfalt gewidmet und auf ihre Darstellung großen Wert gelegt, weil er die Behandlung gerade dieser Geschichtsperioden für eine der schwierigsten Aufgaben hielt. Sie war natürlich nicht ohne bibelexegetische und textkritische Forschungen zu lösen, für solche jedoch glaubte sich Graetz besonders befähigt und berufen, wie er ihnen sein ganzes Leben hindurch mit besonderer Vorliebe obgelegen. Ehe er jedoch an die Geschichtserzählung von Israel und Altjuda herantrat, drängte es ihn, das heilige Land Israels, das er so oft mit seiner Seele suchte, auch mit eigenen Augen zu schauen [59] Es war wohl ebenso sehr der Drang der Sehnsucht, wie ein künstlerischer Trieb, der ihn unwiderstehlich nach Palästina zog, um den weihevollen Stätten, welche die Unterlage und die Zeugen jener altehrwürdigen Begebenheiten gewesen, für die Schilderung dieser Begebenheiten die lokale Farbe und Stimmung abzulauschen. Schon 1865 hatte er eine Palästinafahrt geplant, aber erst im März 1872 konnte er, als sich zwei Freunde ihm anschlossen, den Plan ausführen. Da er dabei nur auf seine engen Privatmittel angewiesen war, auch auf seine Reisegefährten Rücksicht zu nehmen hatte, so konnte ihn wohl die dabei gewonnene wissenschaftliche Ausbeute nicht recht befriedigen, er hatte indes gefunden, was zu suchen er eigentlich ausgezogen war; hatte er doch Eindruck, Schwung und Begeisterung heimgebracht. In schnellem Fluge veröffentlichte er nun von 1874 ab hintereinander die zwei beziehungsweise drei37 ersten Teile über die biblische und vormakkabäische Zeitepoche und schloß 1876 die Kette seiner Geschichtsdarstellung ab, indem er die ersten Glieder anfügend das Ganze krönte. Das Wort, mit dem er kühn hervorgetreten, als er 1854 mit dem vierten Band seine historische Laufbahn eröffnete, »eine Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart nach den Quellen neu zu bearbeiten«, war jetzt glänzend eingelöst. Ein Werk war vollendet, das großartig in seiner Konzeption, klar und durchsichtig in seiner Ausführung, fesselnd und anziehend in seiner Darlegung, den Weg zum Herzen seiner Glaubensgemeinde nicht verfehlt hat, über das die Gegenwart bisher noch nicht hinausgekommen ist, das der jüdischen Geschichtsschreibung die bleibenden orientierenden Grundlagen geschaffen hat. Durch die mancherlei kleinen Schlacken und Verfehlungen, wie sie ja jeder menschlichen Arbeit anhaften, wird an dem Gesamteindruck nichts geändert; mögen auch vielfach im einzelnen die Tatsachen durch Erschließung ungeahnter, verborgener Quellen korrigiert und bereichert werden, auf die allgemeinen Gesichtspunkte, die pragmatischen Anschauungen, die bewegenden Ideen, wie er sie aus den schwer zu verfolgenden Zuflüssen und Abflüssen im Stromlauf der jüdischen Geschichte erkannt und fixiert hat, [60] wird man immer wieder zurückkommen müssen. Graetz' Geschichte der Juden, so voluminös auch ihr Umfang ist, wird dem eisernen Bestand der jüdischen Literatur einverleibt bleiben.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1908], Band 1, S. 48-61.
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