C. Zeit der Bekehrung des Apostels Paulus.

[790] Von diesem chronologischen Ausgangspunkte aus läßt sich die Zeit der Bekehrung des Apostels Paulus und die Veranlassung derselben ermitteln. Die Chronologen schwanken bezüglich des Bekehrungsjahres zwischen 35 und 40, und als Veranlassung dazu nehmen die Kirchenschriftsteller immer noch die Erscheinung bei Damaskus an, wenngleich selbst die halben Rationalisten sie zu einer optischen Vision herabsetzen. Man muß aber davon ausgehen, daß vor Paulus nur innerhalb der Judenheit Propaganda für das junge Christentum [790] gemacht wurde. Petrus war Apostel für die Beschneidung208. An das Apostolat für die Heiden oder für die Vorhaut (εὐαγγέλιον τῆς ἀκροβυστίας) dachten die damaligen Vorsteher der jungen Kirche um so weniger, als Jesus ihnen eingeschärft haben soll, den Weg der Heiden nicht zu gehen und nicht einmal in die Städte der Samaritaner einzugehen209. Erst Paulus ist darauf gekommen, den Heiden zu predigen210. Es war eine Neuerung, welche bei den Judenchristen auf Widerspruch gestoßen ist. Wie kam Paulus auf diese Neuerung? Der Gedanke ist in ihm aufgeblitzt, daß die »Fülle der Heiden« in den Abrahamsbund aufgenommen werden soll211, und zwar nicht durch die Beschneidung – weil dann der Zutritt eine Unmöglichkeit wäre – sondern durch den Glauben an Jesus als Messias und als auferstandenen Messias. Dieser Gedanke beherrschte Paulus; seine Episteln sind voll davon, seine ganze Tätigkeit ist darauf gerichtet, die Heiden zu gewinnen, damit auch sie Teil an der Verheißung an Abraham haben sollen. Das Keimen eines solchen Gedankens muß psychologisch erklärt werden. Der Umstand ist nicht gleichgültig, daß Paulus' Bekehrung in Damaskus stattgefunden hat. In dieser Stadt gab es judäische Proselyten, und die meisten Frauen waren dem Judentume anhänglich212. Noch mehr Eindruck muß es auf Paulus, der, wie er von sich selbst aussagte, ein Übereifriger der väterlichen Überlieferung war213, gemacht haben, wenn er Zeuge dessen war, wie eine heidnische Königin aus weiter Ferne von jenseits des Euphrat auf einer Reise, welche mehrere Monate dauerte und mit Gefahren verknüpft war214, nach Jerusalem gekommen war, um den dort verehrten Gott anzubeten und im Tempel zu opfern. Hat Paulus dieses erstaunliche Ereignis, von dem ohne Zweifel damals in der judäischen Welt mit Bewunderung gesprochen wurde, vor seiner Bekehrung erlebt? Wenn sich das nachweisen ließe, so könnte man ohne kritisches Bedenken schließen, daß diese außergewöhnliche Erscheinung, welche auf seinen lebhaften Geist einen gewaltigen Eindruck gemacht, ihn auf den Gedanken geführt hätte, die Heidenwelt für den dem Hause Abraham verheißenen Segen zu gewinnen oder Apostel der Vorhaut zu werden. Die Zeit seiner Bekehrung muß also ermittelt werden.

Leider findet sich in keinem seiner Briefe ein fester chronologischer Anhaltspunkt dafür. Er hatte ebensowenig Interesse für die Zeitbestimmung, wie für die alte Geschichte, die er in arger Konfusion wiedergibt. Nur zwei Andeutungen für die Chronologie geben seine Briefe. Im Galaterbrief erzählt er, daß er nach seiner Bekehrung sich nicht nach Jerusalem zu den (drei) Aposteln begeben, sondern nach Arabien (Auranitis) ging und dann wieder nach Damaskus zurückkehrte. Erst nach drei Jahren begab er sich nach Jerusalem, blieb nur einige Tage daselbst und reiste nach Syrien und Cilicien. Nach 14 Jahren kam er wieder nach Jerusalem mit Barnabas und dem unbeschnittenen Titus215. Die 14 Jahre sind aber nicht von den drei Jahren [791] seiner ersten Reise zu zählen, sondern von seiner Bekehrung, wie die meisten Ausleger annehmen, und besonders der auf chronologische Akribie achtsame Wieseler216. Es käme also darauf an zu wissen, in welchem Jahre der Galaterbrief geschrieben ist. Aber darüber läßt sich nichts Bestimmtes angeben, daher ist das Moment der Abfassungszeit ein Tummelplatz für subjektive Exegese und Chronologie. Die Nachschrift der Epistel sagt allerdings, daß sie aus Rom datiert ist217. Nach Rom kann Paulus zwischen 60-62 gekommen sein (wie nach der Angabe der allerdings chronologisch wenig zuverlässigen Apostelgeschichte angenommen wird). J. Fr. Köhler und Schrader setzen die Abfassungszeit des Galaterbriefes erst in das Jahr 69, nach der ersten Christenverfolgung in Rom und gar nach Neros Tode. Aber selbst wenn die Epistel bald nach Paulus' Ankunft in Rom geschrieben sein sollte, so kann man zu den 14 Jahren seiner Bekehrung218 noch vier Jahre zugeben, und sie würden doch nicht über das Jahr 44 hinausgehen. Allerdings verwerfen die neueren Ausleger die Nachschrift der Datierung aus Rom als unecht. Aber die Kirchenväter Eusebius, Theodoret und Hieronymus haben sie als echt angenommen. Der letztere beweist sogar aus dem Schlusse des Briefes, wo Paulus von den »Malzeichen« (στίγματα) spricht, die er an seinem Leibe trage (6, 17), d.h. von seinen Wunden, daß er ihn nach überstandenen Leiden in Rom geschrieben haben müsse.

Die Beweise für die frühere Bekehrung nehmen sich recht seltsam aus. Wieselers Argument stützt sich auf den Tadel an den Galatern, daß sie Tage, Monate, Zeiten und Jahre beobachten; unter Jahren sollen Sabbatjahre verstanden sein. Die Epistel an die Galater müsse also im Jahre 55 geschrieben sein, da dieses gerade ein Erlaßjahr gewesen sei219 [für dasselbe Jahr entscheidet sich auch Lipsius a.a.O. S. 11 aus anderen Gründen]. Aber was hatten die Galater oder die Kleinasiaten oder die Römer mit dem Sabbatjahre zu tun? Selbst wenn die Galater Judenchristen gewesen wären – sie waren bekanntlich Heidenchristen – so gingen sie die Gesetze des Sabbatjahres gar nichts an, da diese lediglich für Palästina vorgeschrieben sind, und außerhalb dieses Landes kein Judäer verpflichtet war, weder nach biblischer noch nach pharisäischer Vorschrift sie zu erfüllen. Haben die Galater oder Judäer im Auslande überhaupt etwa ihre Felder am Sabbatjahre brach liegen lassen? Dieses Elementare aus der biblischen und pharisäischen oder rabbinischen Gesetzesvorschrift sollte doch bekannter sein. Paulus macht den Galatern zum Vorwurf, daß sie noch in Heidenweise den Elementen (στοιχεῖα) dienen und Mondzeiten und Jahre beobachten220. Der Beweis, daß der Galaterbrief im Jahre 55 (oder nach Hausrath im Jahre 53), in einem Sabbatjahre geschrieben sei, und daß demzufolge Pauli Bekehrung 14 (oder 17) Jahre vorher erfolgt sein müsse, beruht also auf Unkenntnis der Verhältnisse und sollte nicht mehr geltend gemacht werden. – Der zweite fast allgemein aufgestellte Beweis [792] sollte von denen, welche nach 1868 über diesen Punkt geschrieben haben, nicht mehr geführt werden. Denn nach den bekannt gewordenen Resultaten der nabatäischen Münzen ist gerade das Gegenteil erwiesen, daß Paulus nicht vor 39 in Damaskus oder vielmehr nicht in diesem Jahre daselbst in Gefahr gewesen sein kann. Das angebliche Argument wird nämlich aus dem Korintherbrief entnommen, wo Paulus schreibt, der judäische Ethnarch des Königs Aretas habe ihn in Damaskus bewachen lassen221. Nun wird behauptet, Aretas habe Damaskus infolge des Krieges mit Herodes Antipas kurz vor Tiberius' Tode 37 verloren; folglich müsse Paulus vor diesem Jahre in Damaskus gewesen und also vor Tiberius' Todesjahr sich bekehrt haben. Allein die nabatäischen Münzen, welche der Herzog de Luynes und der Graf de Vogüé veröffentlicht haben, geben ganz andere historisch-chronologische Anhaltspunkte. Von diesem Aretas, welcher mit Herodes Antipas in Konflikt geriet und auf Münzen der »Volksfreund« (המע םחר, φιλόδƞμος) genannt wird, existieren Münzen, welche ergeben, daß er mindestens 44 Jahre regiert hat. (Vgl. revue numismatique, nouvelle série, Jahrg. 1868, p. 165 fg.). De Vogüé eruiert daraus unwiderleglich, daß dieser Aretas vom Jahre 7 bis mindestens zum Jahre 51 regiert haben müsse, da sein Vorgänger, der unselbständige Obodas, im Jahre 7 starb. De Vogüé behauptet mit Recht, daß Aretas den Besitz von Damaskus erst von Caligula erhalten haben müsse. Herodes Antipas, welcher mit ihm in Streit lebte, wurde auf Agrippas Denunziation von Caligula entthront, und seine Tetrarchie erhielt Agrippa I. (39). Um Aretas zu belohnen, welcher gewiß ebenfalls bei dem Kaiser gegen seinen Feind Antipas intriguiert hatte, wurde ihm wohl Damaskus und dessen Gebiet zugeteilt. De Vogüé bemerkt (a.a.O.): Caligula déposseda Antipas, et probablement alors donna Damas à Aretas. En effet on ne trouve aucune médaille impériale frappée dans cette ville pendant les règnes de Caligula et de Claude. Also gelangte Aretas frühestens 39 [vielmehr 37, da doch Caligula in diesem Jahre die Regierung antrat] in den Besitz von Damaskus, und regierte noch mindestens 12 Jahre später. Innerhalb dieser Zeit hat er einen judäischen Ethnarchen über die Gemeinde von Damaskus gesetzt, vielleicht um sich mit der zahlreichen Judenschaft in Damaskus oder mit dem König Agrippa auf einen freundschaftlichen Fuß zu setzen. Denn man findet keinen Ethnarchen in Damaskus weder vor noch nach dieser Zeit. Dieser Ethnarch, welchen Aretas eingesetzt oder bestätigt hatte, ließ nun Paulus in Gewahrsam bringen, weil er wahrscheinlich den Judäern Ärgernis gegeben hatte. Dieses kann also nur zwischen 39 und 51 geschehen sein, keineswegs vorher. Paulus' Haft in Damaskus erfolgte gewiß nach seinem zweiten Aufenthalte daselbst, nachdem er aus Arabien dahin zurückgekehrt war222 [Vgl. hierzu die gründlichen Ausführungen Th. Zahns in Herzog-Haucks Real-Enzyklop. XV3, S. 62 f.].

Der dritte Beweis von Pauli Bekehrung in den dreißiger Jahren ist im besten Falle problematisch. Die Apostelgeschichte berichtet: Paulus sei in [793] Korinth mit Aquila aus Pontus und dessen Weibe Priscilla zusammengetroffen, welche mit allen anderen Judäern damals vom Kaiser Claudius aus Rom ausgewiesen worden seien223. Aber selbst wenn das Faktum historisch wäre, so würde es auch nichts für die Chronologie in Paulus' Lebenslauf beweisen, da die Zeit der Ausweisung nicht bekannt ist; es ist aber nicht einmal begründet. Denn Dio Cassius erzählt mit unzweideutigen Worten: Es sei Claudius schwer gefallen, die Judäer, welche sich wieder in Rom sehr vermehrt hatten (nach der Ausweisung unter Tiberius) wegen ihrer Menge aus der Stadt zu weisen. Er habe sie daher nicht verbannt, sondern nur denen, welche nach ihrer Sitte lebten, verboten, sich zu versammeln224. In der Tat ist es auch nicht denkbar, daß Claudius, welcher mit dem patriotischen König Agrippa I. so eng befreundet war, ja dem er teilweise seine Thronbesteigung verdankte, dessen Stammes- und Religionsgenossen aus Rom vertrieben haben sollte. Allerdings berichtet Sueton, Claudius habe die Judäer, welche durch Anstiftung eines Agitators Chrestus öfter Unruhen verursachten, aus Rom verwiesen225. Aber dabei fehlt die Zeitangabe. Wenn das Faktum nicht mit Dio Cassius' Relation in Widerspruch stehen soll, so muß es in Claudius' letzten Jahren stattgefunden haben. Es hängt jedenfalls mit den Streitigkeiten zusammen, welche in Rom zwischen Judäern und Judenchristen entstanden sein müssen. Der impulsor Chrestus ist zwar nicht Christus, aber wohl ein Apostel dieses Namens, welcher auch in einem der Paulinischen Briefe [vgl. oben S. 423] vorkommt. War in Rom eine Bewegung durch einen christlichen Agitator entstanden, so kann sie nicht in Claudius' ersten Jahren, sondern muß in dessen letzten Jahren ausgebrochen sein [so auch Schürer IV3, 32f.], und mag die Ausweisung aus Rom zur Folge226 gehabt haben. Jedenfalls ist diese erst nach 44 anzusetzen, d.h. [794] nach Agrippas I. Tode. Denn Claudius war diesem König aus Dankbarkeit so sehr zugetan, daß er dessen Wünsche gerne befriedigte. Und Agrippa war patriotisch und angesehen genug, die beabsichtigte Ausweisung der Judäer zu vereiteln. Mag nun die Apostelgeschichte von einem Faktum sprechen, daß Aquila mit andern Judäern aus Rom vertrieben worden sei: für die Zeit von Pauli Bekehrung beweist dieses Faktum gar nichts.

Es ist also kein Schein von Beweis dafür vorhanden227, daß Paulus schon in den dreißiger Jahren seine apostolische Laufbahn begonnen hätte, weder von der Verbannung der Judäer aus Rom, noch von Aretas, noch vom Sabbatjahre her. Die Unwahrscheinlichkeit, wo nicht Unmöglichkeit dieser Annahme ergibt sich jedoch schon aus folgender Betrachtung. Jesus soll nach der Berechnung von Bunsen und Keim im Jahre 35 gekreuzigt worden sein, nach Hitzig gar erst ein Jahr später. Und Paulus sollte sich bereits im Jahre 34-35, noch vor Jesu Tode bekehrt haben! Dann müßte er Jesum noch gekannt und noch vor dessen Tode sich bekehrt haben? Aber Paulus wiederholt ja oft in seinen Briefen, daß er erst nach Jesu Tode zum Glauben gelangt sei. Er weiß nicht das Geringste von Jesu Tätigkeit. Sein Fundamentaldogma war, daß Jesus hingerichtet und wieder auferstanden sei. Zwischen Jesu Tod und Paulus Auftreten muß vielmehr eine längere Zeit verstrichen sein, in welcher die Jünger, die vor Schrecken bei seiner Gefangennahme und Kreuzigung die Flucht ergriffen hatten, sich in Jerusalem sammeln, sich öffentlich hervorwagen, Verdacht erregen und von Paulus selbst denunziert werden konnten. Dazu gehörte mehr als ein Jahrzehnt seit Jesu Tode. Auch dieses Moment weist auf die vierziger Jahre hin.

Selbst die Apostelgeschichte in ihrer chronologischen Verworrenheit hat noch eine Spur der Erinnerung, daß Paulus nicht lange vor der Hungersnot sich bekehrt hat. Sie erzählt von seiner Bekehrung in Damaskus, von seiner Flucht nach Jerusalem und seinem Predigen daselbst, von den Nachstellungen gegen ihn von seiten der Griechen (der hellenistischen Judäer), von seiner Reise nach Tarsus und von da nach Antiochien, wohin ihn Barnabas geholt, und daß Paulus im Verein mit Barnabas ein ganzes Jahr in Antiochien geweilt und gepredigt hätte228. Während seines Aufenthaltes in Antiochien soll ein christlicher Prophet Agabus eine große Teuerung, die da über den »ganzen Erdkreis« kommen sollte, vorausverkündet haben. Infolgedessen hätte jeder [795] der Jünger in Antiochien einen Beitrag zur Unterstützung der Brüder in Judäa (Jerusalem) gespendet. Die gesammelten Spenden seien durch Paulus und Barnabas den »Ältesten« in Jerusalem zugeschickt worden229. Dieser ganzen Erzählung liegt die Tatsache von der Hungersnot in Judäa zugrunde, welche die Apostelgeschichte in ihrer sagenhaften Manier auf den ganzen Erdkreis ausdehnt. Da angegeben ist, daß eine Sammlung veranstaltet worden sei, und daß sie die beiden Apostel nach Jerusalem überbracht hätten, so muß die Hungersnot, welche Agabus verkündet haben soll, bereits eingetreten gewesen sein230. Nun hat sich uns chronologisch gesichert ergeben daß eine Hungersnot in Jerusalem und Judäa im Jahre 48 gewütet hat, während Tiberius Alexanders Prokuratur, während Ismaëls Pontifikat und während Helenas Aufenthalt in Jerusalem (o. S. 726). Folglich hatte der Verf. der Apostelgeschichte trotz seiner bodenlosen Anachronismen eine dunkle Kunde davon, daß Paulus sich nicht lange vor dem Ausbruch der Hungersnot in Judäa bekehrt hat. Denn bis dahin erwähnt die Apostelgeschichte nichts von Paulus' Bekehrungserfolgen. Er hatte, nach ihrer Darstellung, bis dahin nur in seiner Geburtsstadt Tarsus geweilt und ist von da nach Antiochien geholt worden. Erst nach der Zeit der Hungersnot läßt sie Paulus seine apostolischen Reisen durch Kleinasien antreten231. Die ganze Erzählung ist zwar durch und durch unhistorisch, weil Paulus selbst seine Erlebnisse ganz anders erzählt. Er sei erst drei Jahre nach seiner Bekehrung nach Jerusalem gekommen, um Petrus zu sehen, und sei nur 15 Tage da geblieben; von Überbringung einer Kollekte während der Hungersnot für die notleidenden Gläubigen ist keine Rede. Darauf sei er erst 14 Jahre nach seiner Bekehrung, also 11 Jahre nach der ersten Reise, nach Jerusalem gekommen. Aber eine Andeutung liegt doch in der Anreihung der Tatsachen in der Apostelgeschichte, daß Paulus' Übertritt nicht gar zu lange vor dem Eintritt der Hungersnot, vor 48, erfolgt ist.

Fällt Paulus' Wandlung von einem fanatischen Verfolger des Christentums in einen Zeloten für dasselbe gleichzeitig mit Helenas Reise nach Judäa in die vierziger Jahre, dann ist sie, die psychologisch ein Rätsel ist, erklärt. Die Reise dieser proselytischen Königin mit ihrem Gefolge und mit fünf jungen Prinzen hat ohne Zweifel großes Aufsehen unter den Judäern erregt. Helena hat gewiß auf ihrem Zuge Damaskus berührt. Die Judäer, Proselyten und Proselytinnen dieser Stadt, sind ihr wohl huldigend entgegen gezogen. Schien nicht dadurch die Prophezeiung der Propheten in Erfüllung gegangen zu sein, daß Fürsten nach Jerusalem wallfahrten werden? Helenas Reise erfolgte entschieden unter Agrippa I., dem Freunde des Kaisers Claudius, welcher die letzten schönen Tage über Judäa brachte. In den drei Jahren seit dem schmählichen Tode Caligulas, dessen Plan, den Tempel durch ein Götzenbild zu entweihen, gescheitert war, bis zum Tode Agrippas, muß unter den höhergestimmten Judäern eine hochgehende Begeisterung geherrscht haben232. Von dieser Begeisterung ist gewiß Paulus mit fortgerissen worden, und der wichtige Augenblick [796] schien ihm gekommen zu sein, daß »die Fülle der Heiden« in den Bund eingehen solle. Die Zeit erschien ihm als Anbruch der messianischen Zeit. Da aber in seinem mit pharisäischen Anschauungen und Auslegungen gefüllten Kopfe das Dogma steckte, daß mit der Messiaszeit die Auferstehung eng verknüpft sein müsse, so war seine Christologie fertig: Jesus sei der Messias gewesen, und er sei auferstanden, oder vielmehr: da er die Auferstehung durchgemacht habe, so müsse er der Messias gewesen sein. Das war das Alpha und Omega der paulinischen Dogmatik und Christologie. Aber dieser Illusion konnte er nur nachhängen, weil er die Zeit für messianisch reif hielt. Die signatura temporis aber war ihm die frappierende Wahrnehmung von der Zunahme der Proselyten in vielen Kreisen und Ländern. Energisch rührig, wie er war, ging er mit Eifer daran, die Heidenwelt zu bekehren, um den Anbruch der Messias-Zeit zur Mittagshöhe zu führen, und wurde so der Apostel der Vorhaut.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1906, Band 3.2, S. 790-797.
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